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Begründer eines neuen Genres

"Berlin Alexanderplatz" war der erste Großstadtroman der deutschen Literatur. Der Autor Alfred Döblin war zu dem Zeitpunkt aber längst kein Unbekannter mehr.

Von Christian Linder |
    Er habe einen Bahnhof in sich, hat Alfred Döblin einmal gesagt, von dem aus er viele Züge fahren lasse, und manchmal mehrere gleichzeitig. Die Züge, die Döblin im Herbst 1927 von seinem inneren Bahnhof losfahren ließ und im Laufe einer gut zweijährigen Schreibarbeit zu einem einzigen, kühn konstruierten Zug zusammenkoppelte, fuhr er 1929 unter beträchtlicher Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit in den Bahnhof "Berlin Alexanderplatz" ein.

    "Berlin Alexanderplatz" war der erste Großstadtroman der deutschen Literatur und sein Erscheinen ein Paukenschlag in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts. Der Autor war zu dem Zeitpunkt aber längst kein Unbekannter mehr, Fontane-Preisträger des Jahres 1916, der vieles und Verschiedenartiges veröffentlicht hatte, Novellen, einen Wallenstein-Roman, eine Phantasmagorie über China, Kriminalstudien, naturphilosophische Betrachtungen wie "Das Ich über der Natur". Rückblickend erinnerte sich Döblin:

    "In meiner ersten Zeit des Schreibens habe ich mich völlig von dem Individuellen abgewandt, ja ich habe Aufsätze geschrieben gegen das Individuelle, gegen das Private, gegen die Betonung des Psychologischen, das mir bis heute noch in gewisser Hinsicht unsympathisch ist, weil ich die tieferen und eigentlichen Zusammenhänge, die überprivat und überpsychologisch sind, viel genauer sehe."

    Als Alfred Döblin "Berlin Alexanderplatz" schrieb, hatte er ein Pandämonium im Sinn. Erzählt wird die Geschichte des ehemaligen Transportarbeiters Franz Biberkopf, der, aus dem Gefängnis entlassen, sich auf die Suche nach einem neuen Leben begibt und dabei vollends unter die Räder kommt. Seine Gegner sind nicht nur scheinbare Freunde, denen Biberkopf vertraut und die ihn verraten - "verflucht ist der Mensch, der sich auf Menschen verlässt", heißt es leitmotivisch im Roman - , sein Gegner ist vor allem auch die Stadt Berlin, dieser Koloss und Moloch, durch dessen Straßen Biberkopf Tag und Nacht getrieben wird, konfrontiert mit seinem Schicksal, das er zunächst nicht begreifen kann. Eines jedoch weiß er, dass er vom Leben mehr verlangen möchte als "das Butterbrot". In der Hörspielfassung von 1930 sprach Heinrich George die Titelrolle.

    Formal bot Döblins Roman 1929 in der deutschen Literatur eine Aufsehen erregende Erneuerung. Das hektische Großstadtleben wurde darin nicht nur in einem expressionistisch-erhitzten Stil beschrieben, sondern das Buch gab die ganze Fremdheit und das Stückwerk eines Lebens auch durch eine ungewöhnliche Optik wieder, indem durch Collagen und Überblendungen Wirklichkeitsfetzen etwa als Zeitungsschlagzeilen in den Text montiert waren und überhaupt alles in dem Roman Platz fand, was das Großstadtleben ausmacht: ein dunkles Raunen als babylonisches Stimmengewirr, Werbeslogans und Bibelsprüche, Berliner Jargon wie hoher kunstvoller Ton. Natürlich hatte Döblin den inneren Monolog in James Joyce' "Ulysses" studiert und sich auch mit den filmischen Schnitttechniken in John Dos Passos' "Manhattan Transfer" vertraut gemacht, aber seine Vorbilder waren zugleich die italienischen Futuristen wie der Schriftsteller Filippo Tommaso Marinetti oder der Maler Umberto Boccioni, deren Anregungen Döblin schon 1913 in dem Erzählungsband "Die Ermordung einer Butterblume" verarbeitet hatte. Der Roman "Berlin Alexanderplatz" war nur die höchste künstlerische Vollendung dieses Konzepts.

    Alfred Döblin war 51 Jahre alt, als er mit "Berlin Alexanderplatz" einer der bedeutendsten deutschen Schriftsteller wurde. Geboren am 10. August 1878 in Stettin, verließ der Vater die Familie wegen einer jüngeren Frau. Die Mutter zog 1888 mit ihren fünf Kindern nach Berlin, und Alfred Döblin sog das Großstadtleben begierig auf, erregt vor allem von allen technischen Neuerungen. Er studierte Medizin und praktizierte von 1905 bis 1930 als Nervenarzt in Regensburg, Freiburg und Berlin; nebenbei arbeitete er an seinen literarischen Projekten, war Mitarbeiter der expressionistischen Zeitschrift "Der Sturm" und veröffentlichte im deutschsprachigen "Prager Tagblatt" Theaterrezensionen, Filmbesprechungen und Skizzen aus den Berliner Straßen, erste Schreibvorbereitungen für "Berlin Alexanderplatz".

    Dann auf dem Höhepunkt seiner Anerkennung der Bruch: Im Februar 1933, nach dem Reichstagsbrand, verließ Alfred Döblin als Jude das nationalsozialistische Deutschland über die Schweiz Richtung Paris und wurde französischer Staatsbürger; später emigrierte er weiter nach Amerika.

    "Ich versichere Ihnen: Ich bin kein Mann, der weint, aber was neben mir war und herausging aus den guten Umständen, das hat sich nicht gerühmt, äußere oder innere Emigration zu sein, das hat nur geweint auf seine Art."

    1945 gehörte Döblin zu den ersten emigrierten Autoren, die nach Europa und dann auch bald nach Deutschland zurückkamen. Von Baden-Baden und Mainz aus versuchte der französische Staatsbürger im Rang eines Obersten der französischen Militärverwaltung ein neues literarisches Leben in Deutschland mit aufzubauen und wusste auch einige junge Autoren um sich zu scharen, darunter Günter Grass. Aber Döblin, der sich gegen Ende der Weimarer Republik politisch links auf Seiten der SPD artikuliert hatte, war über die beginnende Restauration in Westdeutschland so enttäuscht, dass er 1953 wieder nach Frankreich ging. Er sei in diesem Land überflüssig, äußerte er sich gegenüber dem damaligen Bundespräsidenten Theodor Heuss. Zu seiner Enttäuschung trug sicher auch die Resonanzlosigkeit seiner eigenen literarischen Projekte bei, mit denen er sein Werk fortzuschreiben versuchte.

    Gestorben ist Alfred Döblin, die Parkinsonsche Krankheit hatte ihn zum Pflegefall gemacht, am 26. Juni 1957 in Emmendingen, wo er sich zu einem Kuraufenthalt aufhielt. Begraben liegt er auf dem Friedhof von Housseras in den Vogesen.