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Behindernde Naschsucht

Entwicklungsbiologie. - In Entwicklung im Mutterleib werden wichtige Weichenstellungen getroffen, die den Lebensweg eines Menschen entscheidend beeinflussen können. So kann offenbar schon die Vorliebe der Mutter für Lakritz Folgen für das Baby haben.

Von Volkart Wildermuth |
    Lakritz. Die schwarze, klebrige Nascherei aus der Wurzel der Süßholzpflanze ist nicht jedermanns Sache. Doch der Geschmack ist nicht das eigentliche Problem der Lakritz, meint Professor Jonathan Seckel von der Universität Edinburgh

    "Lakritz, das hört sich nach einer Nascherei für Kinder an, über die man nicht nachdenken muss. Aber sie enthält einen Stoff der ein Enzym sehr wirksam hemmt. Dieses Enzym wirkt in der Plazenta wie eine Barriere, die die Stresshormone der Mutter fernhält von ihrem Baby."

    Süßholz enthält Glycyrrhizin. Dieser Stoff greift in den Hormonhaushalt ein und kann letztlich zu Bluthochdruck und Muskelschwäche führen. Aus diesem Grund warnt auch das Bundesinstitut für Risikobewertung vor übermäßigem Lakritzgenuss. Der Einfluss auf das Barriereenzym in der Plazenta und damit auf den sich entwickelnden Fetus ist aber erst seit kurzem bekannt. Lakritz ist besonders in Skandinavien beliebt. Jonathan Seckl hat deshalb Frauen aus Finnland untersucht.

    "Kinder von Frauen, die sehr viel Lakritz essen, sind bei der Geburt etwas leichter, sie kommen zwei, drei Tage früher zur Welt. Kleine Veränderungen. Im Alter von acht Jahren haben sie im Durchschnitt eine Einbuße von zehn Prozent in Intelligenztests. Entscheidend ist aber, dass die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung bei ihnen um zwei Drittel häufiger auftritt. Ein massiver Effekt."

    In der Schwangerschaft sollten Frauen also nicht allzu viel Lakritz essen. Das Bundesinstitut für Risikobewertung rät generell davon ab, regelmäßig mehr als 50 Gramm dieser Süßigkeit am Tag zu verzehren. Jonathan Seckl vermutet, dass der Wirkstoff aus dem Süßholz ein System stört, dass es dem Fetus erlaubt, sich auf sein späteres Leben vorzubereiten. Im Mutterleib werden nämlich wichtige Weichen gestellt. Je nachdem, ob die Mutter gut genährt ist oder Hunger leidet, ob sie zufrieden ist oder unter Stress steht, passt der Fetus sein Wachstum und die Steuerung seiner Genaktivität an. Seckl:

    "Da gibt es ein 'Alles ist in Ordnung'-Programm und ein 'Da draußen erwartet Dich ein hartes Leben'-Programm. Und der Nachwuchs erhält die Anweisung, sich für das eine oder das andere zu entscheiden."

    Diese Entscheidung wird unter anderem über das Barriereenzym in der Plazenta vermittelt. Das zeigen Experimente an Ratten.

    "Wenn eine trächtige Ratte unterernährt ist, geht diese Enzymbarriere um die Hälfte herunter, hat sie Stress, geht die Barriere runter, leidet sie an einer Infektion, geht die Barriere runter. Viele Faktoren aus der Umwelt der Mutter beeinflussen dieses Enzym, mehr Hormone erreichen den Fetus und der passt sich an. Die Lunge, der Magen, das Gehirn, viele Organe werden beeinflusst."

    Das Gehirn zum Beispiel wird dauerhaft stärker auf Stress reagieren. Das Barriereenzym ist sicher nicht das einzige Bindeglied zwischen mütterlicher Umwelt und der Reaktion des Fetus, aber es ist sicher ein wichtiger Mitspieler. Wenn nun der Wirkstoff aus dem Süßholz die Barriere senkt, dann stellt sich der Fetus auf ein hartes Leben ein und das Kind wird später tendenziell eher vorsichtig und nervös sein. Jonathan Seckl:

    "Versetzen sie nun so ein Kind in die Schule des 21. Jahrhunderts. Es soll still sitzen, sich benehmen, zuhören. Aber seine Biologie ist auf ein Krisengebiet vorbereitet. Mir scheint, so etwas wie das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom ist weniger eine Krankheit, als eine Unausgewogenheit. Das Kind erwartet Hunger und Kampf und nun soll es ruhig sitzen bleiben, aufmerksam zuhören. Darauf ist es einfach nicht eingestellt."


    Hinweis: Mehr zum Thema erfahren Sie am Sonntag, 05.09., 16:30 Uhr, im Deutschlandfunk, Wissenschaft im Brennpunkt: Weichenstellung im Mutterleib. Wie sich Ungeborene auf das Leben vorbereiten und warum sie dabei gelegentlich scheitern.