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Bei Kleist muss genau hingehört werden

Der Zauber der Theaterstücke und Prosa des Dichters Heinrich von Kleist offenbart sich mehr im Klang als im Druckbild. Verschiedene Hörbuchaufnahmen von Kleists Werken bieten Untiefen, aber auch zeitgemäße Interpretationen.

Von Florian Felix Weyh | 21.11.2011
    "SPRECHER: Szene Schlachtfeld bei Fehrbellin. Obrist Kottwitz, Graf Hohenzollern, Rittmeister von der Golz, und andere Offiziere, an der Spitze der Reuterei,
    OBRIST KOTTWITZ: Halt hier die Reuterei, und abgesessen!
    HOHENZOLLERN und GOLZ: Halt! Halt!
    OBRIST KOTTWITZ: Wer hilft vom Pferde mir, ihr Freunde?
    HOHENZOLLERN UND GOLZ: Hier, Alter, hier!
    OBRIST KOTTWITZ:
    Habt Dank! Ouf! Dass die Pest mich!
    Ein edler Sohn, für euren Dienst, jedwedem,
    Der euch, wenn ihr zerfallt, ein Gleiches tut!
    Ja, auf dem Roß fühl ich voll Jugend mich;
    Doch sitz ich ab, da hebt ein Strauß sich an,
    Als ob sich Leib und Seele kämpfend trennten!"

    Erlebte Erfahrung spricht kaum aus diesen Zeilen: Heinrich von Kleist, jung gestorben, erfuhr die Malaisen des Alters nicht mehr am eignen Leib. Doch viel gelitten, an sich und der Welt, hat der verzweifelt um Anerkennung ringende Intellektuelle stets. Für die Nachgeborenen, denen er Kunststücke von außerordentlicher Komplexität hinterließ, bedeutete dies, sich in der Schule schwitzend über Dramen und Novellen zu beugen, die ihrerseits Leid hervorriefen – in Form von Unverständnis und Langeweile. Der Zauber Kleistscher Theaterstücke und Prosa offenbart sich im Klang nämlich entschieden deutlicher als im Druckbild. Von allen Klassikern scheint Heinrich von Kleist daher prädestiniert für eine wünschenswerte Hörbuch-Gesamtausgabe. Allerdings lauern da im bereits vorhandenen CD-Stapel ernstzunehmende Untiefen.

    "SPRECHER: Szene Schlachtfeld bei Fehrbellin. Obrist Kottwitz, Graf Hohenzollern, Rittmeister von der Golz und andere Offiziere an der Spitze der Reiterei treten auf."

    Dieselbe Szene aus dem "Prinz von Homburg", fünf Dekaden früher aufgenommen. Man kann es kaum glauben, aber 1958 müssen die Radiomeldungen des Oberkommandos der Wehrmacht noch so vertraut in allen Ohren geklungen haben, dass man bei Regieanweisungen unbesehen auf diesen Standard zurückgriff. Heute ist damit kein müder Hund mehr – erst recht kein junger Mensch! – hinter dem Ofen hervorzulocken; wir kommen gleich noch auf dies schandbare Vergehen zu sprechen, den Dichter endgültig in der Mottenkiste zu begraben. Dabei kann man durchaus junge Menschen mit zeitgemäßen Kleist-Interpretationen ködern:

    "SPRECHER: Szene Fehrbellin. Ein Gefängnis. Prinz von Homburg. Im Hintergrunde zwei Wachen. Der Graf von Hohenzollern tritt auf.
    DER PRINZ VON HOMBURG: Sieh da! Freund Heinrich! Sei willkommen mir!
    Nun, des Arrestes bin ich wieder los?
    HOHENZOLLERN: Gott sei Lob, in der Höh!
    DER PRINZ VON HOMBURG: Was sagst du?
    HOHENZOLLERN: Los?
    Hat er den Degen dir zurückgeschickt?
    DER PRINZ VON HOMBURG: Mir? Nein.
    HOHENZOLLERN: Nicht?
    DER PRINZ VON HOMBURG: Nein!
    HOHENZOLLERN: Woher denn also los?
    DER PRINZ VON HOMBURG: Ich glaubte, du, du bringst es mir. Gleichviel!
    HOHENZOLLERN: Ich weiß von nichts.
    DER PRINZ VON HOMBURG: Gleichviel, du hörst; gleichviel!
    So schickt er einen andern, der mir's melde.
    Setz dich! Nun, sag mir an, was gibt es Neues?
    Der Kurfürst kehrte von Berlin zurück?
    HOHENZOLLERN: Ja. Gestern Abend."

    Wenn Ulrich Matthes als Prinz von Homburg spricht – an seiner Seite Peter Fitz, Corinna Kirchhoff, Felix von Manteuffel und andere Theatergrößen –, dann wird auf 80 Minuten gekürzt und von Leonard Koppelmann wie ein Krimihörspiel inszeniert, das Drama um staatliches Recht und persönliche Souveränität zu einem überzeitlichen Thriller. Gewiss, hinhören muss man bei Kleist immer ganz genau, aber bei dieser SWR-Produktion im Argon Verlag wird es einem leicht gemacht. Dasselbe Label legt zum Kleistjahr eine zweite Matthes-Einspielung vor; die allerdings verlangt dem Hörer schon mehr ab.

    "Inzwischen war Kohlhaas in der Tat, durch die sonderbare Stellung, die er in der Welt einnahm, auf hundertundneun Köpfe herangewachsen; und da er auch in Jassen einen Vorrat an Waffen aufgetrieben, und seine Schar, auf das vollständigste, damit ausgerüstet hatte: So fasste er, von dem doppelten Ungewitter, das auf ihn heranzog, benachrichtigt, den Entschluss, demselben, mit der Schnelligkeit des Sturmwinds, ehe es über ihn zusammenschlüge, zu begegnen."

    Sobald der Rosshändler Michael Kohlhaas den mehr als vierstündigen Rachefeldzug eines Mannes beginnt, der sich um seine Rechte betrogen sieht, …

    "Lieber ein Hund sein, wenn ich von Füßen getreten werden soll, als ein Mensch!"

    … ruht alles auf den Schultern des Vorlesers. Schon die kleinen Hörbeispiele zeigen, mit welcher Ruhe Ulrich Matthes die überladenen Bandwurmsätze so durch Pausen zergliedert, dass der Sinn beim Hören klar zutage tritt, während man sich beim stillen Lesen oft verheddert. Kleist ist anspruchsvolle Literatur, der deutschen Klassik schwerster Brocken, doch bei Matthes wird er filigran und durchsichtig:

    "Unter diesen Umständen übernahm der Doktor Martin Luther das Geschäft, den Kohlhaas, durch die Kraft beschwichtigender Worte, von dem Ansehn, das ihm seine Stellung in der Welt gab, unterstützt, in den Damm der menschlichen Ordnung zurückzudrücken."

    Es bereitet schlicht Freude, durch einen vorzüglichen Sprecher auf die zuweilen verstiegenen, meist aber verblüffenden Metaphern und Sprachbilder bei Heinrich von Kleist hingewiesen zu werden. Das ist sicher nichts für eine Erstbegegnung mit dem Dichter, doch für diesen Zweck gibt es eine andere, vergnügliche Edition vom Label GoyaLit. Gilt der "Zerbrochene Krug" als deutsches Lustspiel schlechthin, muss man es allerdings auch so hinbekommen, dass es mehr spiellustig als deutsch wirkt. Zum Beispiel, in dem man alle Rollen von einem Darsteller sprechen lässt:

    "Erzählt den Hergang, würdige Frau Marthe.
    Es war Uhr elfe gestern Abend,
    Und schon die Lamp im Bette wollt ich löschen,
    Als laute Männerstimmen, ein Tumult,
    In meiner Tochter abgelegnen Kammer,
    Als ob der Feind einbräche, mich erschreckt.
    Geschwind die Trepp eil ich hinab, ich finde
    Die Kammertür gewaltsam eingesprengt,
    Schimpfreden schallen wütend mir entgegen,
    Und da ich mir den Auftritt jetzt beleuchte,
    Was find ich jetzt, Herr Richter, was jetzt find ich?
    Den Krug find ich zerscherbt im Zimmer liegen,
    In jedem Winkel brüchig liegt ein Stück,
    Das Mädchen ringt die Händ, und er, der Flaps dort,
    Der trotzt, wie toll, Euch in des Zimmers Mitte."

    Viele Menschen sehen Stefan Kaminski als heimlichen Star des deutschen Hörbuchgewerbes an, und in der Tat scheint ihm die Herausforderung "Kleist als Ensemblesimulation" besondern angesprochen zu haben. Sein auf eine CD drastisch reduzierter "Zerbrochener Krug" dürfte allen Verteidigern des Werktreuebegriffs ein Gräuel sein – aber es ist ein großer Spaß und vielleicht der beste Weg, Kleist-Novizen den Weg zum großen preußischen Dichter zu ebnen. Womit wir bei der entschiedenen Abratung angekommen wären.

    "EIN MYRMIDONIER: Seht! Steigt dort über jenes Berges Rücken,
    Ein Haupt nicht, ein bewaffnetes, empor?
    Ein Helm, von Federbüschen überschattet?
    Der Nacken schon, der mächt'ge, der es trägt?
    Die Schultern auch, die Arme, stahlumglänzt?
    Das ganze Brustgebild, o seht doch, Freunde,
    Bis wo den Leib der goldne Gurt umschließt?
    DER HAUPTMANN: Ha! Wessen!
    DER MYRMIDONIER: Wessen! Träum ich, ihr Argiver?
    Die Häupter sieht man schon, geschmückt mit Blessen des Rossgespanns!"

    "Penthesilea", Aufnahme 1956, mono, scheppernd, im hohlen Theaterton der Vergangenheit. Was der Deutsche Audioverlag als "Große Dramenbox" von Kleist anbietet, ist eine betrügerische Unverschämtheit. Am Design nicht erkennbar und mit modernen Senderlogos versehen, enthält die Mogelpackung "hochwertiger Radio-Hörspiele" nur Uraltaufnahmen. Das ist auf den Einzel-CDs wie der Gesamtpackung nur mit einer starken Lupe herauszufinden, wenn man die Millimeter kleinen Copyrightangaben studiert. Eher ein Fall für den Verbraucherschutz als für die Literaturkritik, die entschieden rät, Stefan Kaminsiki und Ulrich Matthes das Ohr zu leihen. Dann tritt vielleicht ein Kleistscher Moment ein:

    "Und mitten durch den Schmerz, die Welt in einer so ungeheuren Unordnung zu erblicken, zuckte die innerliche Zufriedenheit empor, seine eigene Brust nunmehr in Ordnung zu sehen."


    Besprochene Hörbücher:

    Heinrich von Kleist "Prinz Friedrich von Homburg" (Hörspiel)
    Argon Hörbuch, 1 CD

    Heinrich von Kleist "Michael Kohlhaas " (Lesung)
    Argon Hörbuch, 4 CDs

    Heinrich von Kleist "Der zerbrochene Krug" (Lesung)
    GoyaLit, 1 CD

    Heinrich von Kleist "Die große Dramenbox" (Hörspiel)
    (enthält "Käthchen von Heilbronn", "Der zerbrochene Krug",
    "Prinz Friedrich von Homburg", "Amphitryon", "Penthesilea")
    DAV, 9 CDs