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Beide Seiten im Blick

Der Mord an dem niederländischen Filmemacher Theo van Gogh, der im November 2004 das Land nachhaltig erschütterte, löste eine breite Debatte über die Defizite einer Integrationspolitik auslöste, die bis dahin lieber weggeschaut hatte, als sich zum Beispiel dem Problem der fortschreitenden Islamisierung zu stellen. Ein neues Buch über die Ereignisse trägt den Titel: "Die Grenzen der Toleranz".

Moderation: Marcus Heumann |
    Ein amerikanisches Magazin schickt Ian Buruma im Winter 2004 in die Niederlande. Der Mord an dem Filmemacher, Kolumnisten und Provokateur Theo van Gogh liegt nur wenige Wochen zurück. Der Mörder ein junger Niederländer muslimischen Glaubens. Die Tat sorgt weltweit für Aufsehen. Ian Buruma beschreibt Opfer und Täter, lässt Freunde, Familienmitglieder, Schriftsteller und Politiker zu Wort kommen, Niederländer und Einwanderer. Hervorragend informiert, schildert er in seinem Buch "Die Grenzen der Toleranz" reportageartig die unmittelbare Vorgeschichte, die Tat selbst und die Reaktionen auf sie. So gelingt ihm eine tiefgreifende Zustandsbeschreibung der niederländischen Gesellschaft. Ian Buruma beschäftigt sich darüber hinaus mit dem Problem der Integration der Muslime in Westeuropa.

    Der Mord deckt - wie die Bombenanschläge von Madrid und London, die Fatwa gegen Salman Rushdie und die weltweiten muslimischen Proteste gegen die Karikaturen des Propheten in einer dänischen Zeitung - die gefährlichen Risse auf, die durch alle europäischen Nationen laufen. Der Islam ist heute eine europäische Religion. Wie die Europäer, Muslime und Nichtmuslime mit dieser Frage fertig werden, das wird unsere Zukunft entscheiden. Und welcher Ort wäre besser geeignet, um Entwicklungen des Dramas zu beobachten, als die Niederlande, wo sich die Freiheit aus einer Revolte gegen die katholische Kirche entwickelt, wo die Ideale der Toleranz und Verschiedenheit zum Markenzeichen der nationalen Ehre wurden und wo der politische Islam seinen ersten Schlag gegen einen Mann führte, dessen tiefste Überzeugung es war, dass die Freiheit der Rede die Freiheit der Beleidigung mit einschließt.

    Der Grund für die Tat - der nicht nur unter Muslimen - umstrittene Film "Submission". Darin berichten muslimische Frauen von ihren Misshandlungen. Theo van Gogh führte Regie, den Text schrieb die bekannte somalisch-niederländische Schriftstellerin, Islamkritikerin und damals Abgeordnete im niederländischen Parlament Ayaan Hirsi Ali, die heute in den USA lebt.

    Die erste Einstellung in "Submission" zeigt eine Frau, die auf einem Gebetsteppich niederkniet. Die Kamera schwenkt langsam von ihrem Kopf zu den Füßen und enthüllt unter dem durchscheinenden Material der Burka den nackten Körper. Später im Verlauf des elfminütigen Films sieht man Korantexte, die auf die Haut mehrerer nackter Frauen projiziert werden, Texte die auf die Unterwerfung der Frauen hindeuten, Unterwerfung unter ihre Väter, Brüder, Ehemänner und unter Allah. Für viele Muslime war das eine bewusste Provokation.

    Nur ein einziges Mal wird der Film im niederländischen Fernsehen ausgestrahlt - sechs Wochen später wird Theo van Gogh ermordet. Der Täter: Mohammed Bouyeri, ein junger Mann, geboren und aufgewachsen in Amsterdam. Sein Vater ein so genannter Gastarbeiter. Mohammed Bouyeri spricht fließend niederländisch, sein arabisch hingegen ist nur dürftig, Marokko kennt er nur als Urlaubsland, er hat erfolgreich die Schule beendet und eine Ausbildung gemacht. Er scheint nahezu integriert. "Ein vielversprechender Junge" überschreibt Ian Buruma das Kapitel in dem er sich dem Täter nähert. Er zeichnet nach, wie sich Mohammed Bouyeri immer mehr von der niederländischen Kultur abwendet und, gemeinsam mit anderen Immigrantensöhnen, zu einer fanatischen Form des Islam konvertiert. Ian Buruma führt dem Leser vor Augen, dass die Tat auch Wurzeln in der niederländischen Kultur hat:

    ... nämlich der Vorstellung, dass Holland der moralische Leitstern der Welt ist. Sein Moralismus war, auch wenn er in der islamische Begriffe gekleidet war, Teil dieser Tradition.

    Und Buruma sucht nach weiteren Ursachen für die Tat. Er macht unmissverständlich klar, dass sich nur eine Minderheit der muslimischen Einwohner als Niederländer fühlt. In den heruntergekommenen Stadtteilen leben sie isoliert. Satellitenschüsseln verbinden sie mit der alten, zu meist ebenso fremden so genannten Heimat. Auch ein Teil des Problems, das nicht nur ein niederländisches ist. Ian Buruma bezieht sich in seiner Analyse auf Hans Magnus Enzensberger, wenn er schreibt:

    Das sind die gefährlichen "radikalen Verlierer", die einsamen Mörder, die es nicht mehr ertragen, mit sich selbst zu leben, und die Welt mit sich in den Abgrund ziehen wollen.

    Minutiös - bis ins kleinste Detail - beschreibt Buruma die Tat selbst. In diesen Passagen greift er zum Stilmittel der Reportage.

    Er schoss ihm in aller Ruhe in den Bauch, und nachdem sein Opfer auf die andere Straßenseite getaumelt war, schoss er noch ein paar mal auf ihn, zog eine gekrümmte Machete heraus und schnitt ihm die Kehle durch - "als ob er einen Reifen aufschlitzte", so ein Zeuge. Er pflanzte die Machete fest in van Goghs Brustkorb, zog dann aus einer Tüte ein kleineres Messer, kritzelte etwas auf einen Zettel, faltete den Brief sorgfältig und heftete ihn mit dem zweiten Messer an den Körper.

    Dem Leser vermittelt sich der Mord als das was er war: Eine Hinrichtung. Vorbild für die Tat: Bilder von Erschießungen im Internet. Die Hinrichtung kommt einer Kriegserklärung gleich und wird von vielen auch so verstanden. Niederländische Politiker und Kommentatoren sehen sich in einem Krieg zwischen islamischer und westlicher Kultur ausgetragen auf holländischem Boden. Ian Buruma mahnt zu mehr Gelassenheit. Den Brief den der Täter Theo van Gogh an die Brust heftet ist an Ayaan Hirsi Ali gerichtet. Nicht erst seit dem Film "Submission" wurde sie von Morddrohungen verfolgt, musste untertauchen, stand unter Personenschutz. Ian Buruma lässt sie ausführlich zu Wort kommen und schildert, wie aus der streng gläubigen Muslimin eine Verfechterin der Aufklärung wurde, die bedingungslos für den Säkularismus eintritt. Ihrer Person steht Ian Buruma durchaus kritisch gegenüber. Sie erscheint ihm bisweilen als ein Art radikal-aufklärerische Aristokratin, welche den Muslimen verordnet, mit ihrer rückständigen Kultur gnadenlos aufzuräumen. Muslimen vorzuhalten, ihre Religion sei rückständig und ihre Kultur letztendlich der unseren unterlegen, hält er nicht für den richtigen Weg.

    Ayaan ist auf ihre Weise ein wenig wie eine holländische Person von Stand, die in einem Porträt von Frans Hals nicht ganz fehl am Platz gewirkt hätte - einmal abgesehen davon, dass sie schwarz ist. Ihre Worte verdienen es wiederholt zu werden: "Wir müssen ... den Migranten geben, was ihnen in ihrer eigenen Kultur fehlt: individuelle Würde." Das Empfinden ist gut, sogar edel, aber viel zu sehr de haut en bas. Man kann den Leuten individuelle Würde nicht geben. Sie gehört ihnen von Rechts wegen, selbst wenn sie diese in ihrem Glauben finden. So predigt Ayaan am Ende denen, die schon überzeugt sind, und stößt die anderen, die sie eigentlich gewinnen müsste, von sich weg.

    Verglichen mit den meisten anderen Ländern, selbst denen in Westeuropa, haben die Niederlande eine lange Tradition der Toleranz. Aus diesem Grund floh Descartes dorthin, deswegen fanden spanische und auch portugiesische Juden und französische Hugenotten dort Asyl. Wahr ist aber auch, und daran erinnert Buruma ebenso, dass nur wenige jüdische Flüchtlinge aus Nazideutschland die deutsche Besatzung überlebten - man denke nur an das Schicksal von Anne Frank. Und er zeigt auf, dass die vielbeschworene Toleranz der Niederländer oft auch nicht mehr und nicht weniger als Gleichgültigkeit war. Kritisch merkt Buruma an, dass Politiker, die vor einem bösen Erwachen warnten, schnell als Rassisten hingestellt wurden. Während unter Linken die Vorstellung Dogma war, dass es den Immigranten erlaubt sein sollte, ihre eigene Identität zu bewahren. Für Ian Buruma steht außer Frage, dass der Islam heute eine europäische Religion ist, von der nicht zwangsläufig eine Gefahr für die westliche Gesellschaft ausgeht.

    "Nicht notwendigerweise. Nein! Das hängt davon ab, wie wir mit den Immigranten umgehen. Wir müssen einfach sicherstellen, dass sie sich als Mitbürger fühlen und dass es völlig in Ordnung ist Moslem zu sein als auch Europäer. So lange wir da so eine Art Kulturkampf drin sehen haben wir wirklich einen Konflikt und der könnte wirklich außer Kontrolle geraten."

    Ian Buruma ist ein differenzierter Beobachter, dem es gelingt beiden Seiten des Konflikts gerecht zu werden.

    Gela Koll über Ian Buruma: Die Grenzen der Toleranz. Der Mord an Theo van Gogh. Im Hanser Verlag München, 256 Seiten für 19 Euro und 90 Cent.