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Beim Barte des Konfuzius

China, das ferne und phantastische China, übt nicht erst seit heute eine eigentümliche Faszination auf die deutschsprachige Literatur aus. Bekanntlich spielen einige von Kafkas kurzen Prosatexten im Schatten der Großen Mauer; Bertolt Brecht überprüfte in "Der Gute Mensch von Sezuan" die Möglichkeit, gut zu sein und doch zu leben; Herbert Rosendorfer verfasste "Briefe in die chinesische Vergangenheit". Nun hat sich auch Tilman Rammstedt dieser literarischen Karawane angeschlossen und, den Reiseführer "Lonely Planet China" als Rüstzeug in der Hand, eine Reise ins Reich der Mitte erdichtet: "Der Kaiser von China".

Von Hartmut Kasper | 23.11.2008
    Deren Anlass: Eines Tages und in seiner frühen Jugend hat der Ich-Erzähler dieses Romans seinen Großvater sagen hören:

    "'Und ich bin der Kaiser von China.' Sein Amt beeindruckte mich damals weniger als seine Herkunft, und ich erzählte es überall herum, nicht alle glaubten mir, warum ich dann nicht aussähe wie ein Chinese, wurde ich gefragt, und ich sagte: 'Das kommt noch', obwohl ich keine Ahnung hatte, wie Chinesen eigentlich aussahen. Alle gleich, wurde behauptet, und ich stellte mir ein Land vor, in dem es von meinem Großvater nur so wimmelte, in dem in jedem Auto ein Großvater saß, in dem morgens aus jedem Haus ein Großvater trat, sich von meinem Großvater verabschiedete, um seine Kinder, fünf sehr kleine Großväter, zur Schule zu bringen."

    Ein lauschendes Kind hat, wie Kinder so sind, den bildlichen Ausruf eines Erwachsenen für eine Tatsachenbehauptung genommen.

    Das ist putzig. Darüber ließe sich schmunzeln. Tilman Rammstedt aber hat diese vielleicht selbst erlebte Anekdote zu einem ganzen Roman ausgewalzt.

    Der Roman geht so: Der Ich-Erzähler, Keith Stapperpfennig mit Namen, lebt mit seinem Großvater, dessen Lebensabschnittsgefährtinnen und mit vier Geschwistern zusammen. Der alte, aber sexuell emsige Herr schleppt immer neue Frauen an, immer jüngere Großmütter; in eine von ihnen, Franziska nämlich, verliebt sich Keith. Eines Tages schenkt die Geschwisterschar dem Großpapa eine Reise, Opa darf sich das Reiseziel selbst aussuchen und bestimmt: China soll es sein.

    Die Enkel sammeln Geld und vertrauen die Reisekasse Keith an, denn der ist auserkoren, den Großvater ins ferne Asien zu begleiten. Aber zusammen mit Franziska, seiner amtierenden Großmutter, verspielt Keith das Geld in einem Kasino. Die geplante Fahrt ins Asiatisch-Blaue fällt ins Wasser.

    Daraufhin trennen sich die Wege von Großvater und Reisebegleit-Enkel:

    Der Großvater bricht auf eigene Faust in Richtung Ferner Osten auf, kommt allerdings nur bis zum Westerwald und stirbt dort.

    Bis zu seinem plötzlichen Tod hat er seinem Enkel Postkarten von unterwegs geschickt - vorgeblich aus dem Land des Lächelns. Aber dass keine dieser Postkarten

    "... aus China kam, war leicht zu erkennen. Sie war mit einer deutschen Briefmarke frankiert, das Bild des dicken goldenen Mannes, (der inmitten einer goldenen Blüte auf einem Elefanten saß; d.V.), war aus irgendeinem Reiseprospekt herausgerissen und notdürftig über eine Gratispostkarte geklebt worden (...). Fast alle Postkarten, die mir mein Großvater in den letzten Wochen geschrieben hatte, waren derart überklebt, manchmal nicht einmal das, einige zeigten Fachwerk, und beim aufgedruckten "Viele Grüße aus dem Westerwald" war das "dem Westerwald" durchgestrichen und handschriftlich durch ein "Schanghai" ersetzt worden."

    Während der Großvater in den pseudochinesischen Westerwald vorstößt, verbirgt Keith sich in einer Gartenlaube - offiziell weilt er ja längst irgendwo zwischen Peking und Shanghai. Tatsächlich haust er - was für eine schenkelklopferische Metapher für das Autorendasein überhaupt - ganz unter einem Schreibtisch. Haust dort, damit er den Augen der Geschwister verborgen bleibt, die eventuell durchs Fenster nach ihm fahnden.

    "Ich schlief unter dem Schreibtisch, ich schmierte mir Brote dort, ich zeichnete einen Sternenhimmel auf die Unterseite der Tischplatte und wartete darauf, dass die zwei Wochen vorbei waren, dass ich glaubhaft aus China zurück sein konnte". "

    Aus diesem schriftstellerischen Untergrund verfasst Keith märchenhafte Reiseberichte für die Daheimgebliebenen, Briefe aus einem imaginären China, beinhaltend seine und seines Großvaters gemeinsame Abenteuer in diesem exotischen Land. Schließlich möchte er den Geschwistern seine Veruntreuung des Geldes durch Glückspiel und den dadurch verursachten Ausfall der Reise nach China nicht eingestehen.

    Irgendwie aber wird Keith sich erklären müssen und über das Dahinscheiden des Großvaters Rechenschaft ablegen. Um Zeit zu gewinnen und um den Geschwistern plausibel zu machen, warum sie ihren Großvater nicht mehr lebend wieder sehen, ersinnt Keith Stapperpfennig in seinen utopischen Nachrichten dem Großvater eine ganz neue, eigenartige Biographie voller Fernweh und Exotik, die ihm, dem Kaiser von China a. D., sogar angemessener erscheint als das wirklich gelebte Leben.

    Diese renovierte Lebensgeschichte erzählt, wie sich Großpapa als junger Kerl in eine chinesische Artistin verguckt, eine über alle Maßen voluminöse Gewichtheberin nämlich, in Lian. Die Romanze verläuft so:

    " "Schüchtern fütterte" der Großvater seine Angebetete "mit Eiscreme, mit Schweinehaxen, mit Sahnetorten, wagenradgroßen Pfannkuchen und ganzen Schubkarren voller Kartoffeln."

    Eine chinesische Madam Gargantua eben. Da die Liebe auch bei fingierten Chinesinnen durch den Magen geht, schreiten die Jungverliebten bald zur Tat - der schüchterne junge Großvater und die überlebensgroße Geliebte:

    "Großvater küsste Lians Hals, die hügeligen Schultern, sein Kopf wanderte zwischen ihre Brüste, die sich sofort wieder über ihm schlossen, sodass ihm die Luft wegblieb, aber dennoch wollte er diese warme, weiche, nachgiebige Höhle nie mehr verlassen. Lian hatte seine Hose geöffnet, Großvater schob ihren Umhang zur Seite, er kletterte auf sie hinauf, ihre Schenkel umschlossen ihn, pressten ihn in sich hinein, er war ganz von Fleisch umschlossen, Arme, Schenkel, Brüste, das ganze Massiv ihres Bauches drückte sich an ihn, umwogte ihn (...)."

    Eine Love Story - leider ohne Happy End: Die Künstlerin ist schon einige Reiseberichtseiten später von einer geheimnisvollen Krankheit dahingerafft, Großvater hat die Liebe seines postmortalen Lebens verloren. Zum Trost lässt Keith Stapperpfennig die Sonne eines späten Glücks über seinem Großvater aufgehen: Im tiefsten China trifft Großvater nun auf die junge Dai und gründet mit ihr ein Zwei-Personen-Varieté. Am Ende des Romans brechen diese beiden zu einer ersten Tournee auf ins chinesische Hinterland und verschwinden auf Nimmerwiedersehen.

    Womit der Großvater endgültig abgeschrieben und sein endgültiges Verschwinden den Hinterbliebenen zwanglos erklärt wäre.

    Natürlich wird Herr Stapperpfennig von den deutschen Behörden ausfindig gemacht und ins Leichenschauhaus zitiert, wo er seinen toten Großvater identifizieren soll.

    "Die Pathologin hob die Augenbrauen. (...) Dann drehte sie sich wortlos um und ging den kleinen Flur entlang, öffnete eine Doppeltür und ließ mir den Vortritt.

    Der Raum war kleiner als gedacht, (...) etwa zwanzig metallene Schubfächer gab es (...). (...) ich hatte den weißen Ganzkörpersack vergessen (...). Das, was wohl Füße waren, hob den Sack am unteren Ende, sonst zeichnete sich zum Glück nichts ab. 'Sind Sie bereit?', fragte sie (...). Ich nickte (... Dann) zog sie den Reißverschluss ein Stück weit herunter, und ich sah das Haar meines Großvaters, die Stirn meines Großvaters, ich sah seine buschigen Augenbrauen, die geschlossenen Lider, ich sah seine ausladende Nase, den schmalen Mund, ich sah sein eckiges Kinn, ich sah den verschrumpelten Hals, dort endete mein Blick, weiter war der Sack nicht geöffnet(...).

    Die Ärztin räusperte sich. Ich sah zu ihr auf und lächelte.

    'Das ist nicht mein Großvater.'"

    Denn der weilt bekanntlich in China.

    Das alles klingt nach einer wenn auch völlig an den Haaren herbei gezogenen, aber charmanten Idee. Literatur jedoch wird, einer alten Einsicht gemäß, nicht aus Ideen gemacht, sondern aus Wörtern. Aus Sprache also. Und an der sprachlich-literarischen Umsetzung der Idee hapert es bei diesem Roman.

    Zu selbstverliebt folgt Rammstedt seinen Einfällen und überlässt ihnen den Lauf der Geschichte: Großvater liebt eine todkranke Frau. Er gewinnt der Todesnähe sogar einen gewissen Reiz ab. Nun gut. Warum muss dann aber auch die Beziehung zwischen Keith und Franziska in einem eher morbiden Umfeld gedeihen?

    Denn Krankheit und Siechtum erweisen sich in diesem Roman als wahres Aphrodisiakum. Als der wirkliche Großvater mit einem Herzkammerflimmern in die Notfallklinik eingeliefert wird, ruft Franziska Keith herbei. Während operiert wird, warten Keith und Franziska zunächst im Wartezimmer, kapern dann einen verlassenen Rollstuhl und fuhrwerken bald lustig erst über die Gänge des Krankenhauses, dann durch den Klinikpark.

    So ausgelassen kann es zugehen in zeitgenössischen Romanen, und da soll noch einer sagen, der deutschen Literatur mangele es an Humor.

    Nach der quietschfidelen Rollstuhlodyssee landet das frisch verliebte Pärchen im Krankenzimmer. Der frisch operierte Großvater liegt dort, Schläuche in der Nase, das Dauer-EKG in Betrieb, doch der Späße ist kein Ende. Denn Großvaters Nachbarbett ist frei, und das trifft sich gut:

    "Franziska und ich setzten uns auf die straff gespannte Überdecke (...). Franziskas Blick blieb auf mein Kinn gerichtet, selbst als sie mit der anderen Hand meine Hose öffnete (...), mit ein paar schnellen Griffen hatte sie den Gürtel geöffnet, die Knöpfe, und es war mir unangenehm, wie deutlich willkommen mir ihre Hand war, so deutlich, dass Franziska es bei einem kurzen Nachprüfen beließ, dann aufstand, ohne den Regenmantel auszuziehen, sich über mich hockte und (...) sich langsam auf mir niederließ. (...) Wir mussten uns kaum bewegen, jedes winzige Zusammenziehen, jeder Blutstoß war sofort zu spüren (...). Mit der rechten stützte sie sich erst auf meinem Knie ab, umklammerte dann, als wir uns doch zu bewegen anfingen, meinen Hals, sodass mein Kopf zwischen ihrer linken Hand und rechten Armbeuge eingeklemmt war und ich über ihre Schulter direkte Sicht auf meinen Großvater hatte (...).

    Franziska drückte mich immer tiefer in sich, (...) ich sah, wie mein Großvater ein paar Mal blinzelte, (...) wie er sich dann umwandte, unsere Blicke trafen sich ungeschützt, (...) Franziskas Hand grub sich in mein Haar, der Blick des Großvaters saugte sich fest, dann kam ich."

    Die Erfahrung einer solchen klinischen ménage à trois prägt - ohne Opa fortan keine Erotik mit Franziska:

    "Alle paar Tage besuchte mich Franziska in den kommenden Wochen. (...) Auf Zehenspitzen (...) führte sie mich jedes Mal bis zum Schlafzimmer meines Großvaters, sie imitierte das Schnarchen, (...) sie öffnete die Tür, (...) auf allen vieren kroch sie ins Zimmer und begutachtete abschätzig den Gesichtsausdruck meines Großvaters, das Buch auf dem Nachttisch, die Teilprothese im Wasserglas, und meist winkte sie mich dann zu sich her, zog mir hastig das Hemd über den Kopf. Öffnete meine Hose, und dann schliefen wir miteinander.

    Es ging immer sehr schnell, wir hielten uns gegenseitig den Mund zu, ließen beide meinen Großvater nicht aus den Augen, hin und wieder stockte sein Schnarchen, und wir erstarrten kurz, bis es wieder gleichmäßig zu hören war. (...)

    Außerhalb des Schlafzimmers meines Großvaters schliefen wir nie miteinander, auch wenn ich alles versuchte, auch wenn ich Fotos von ihm neben mein Bett stellte, auch wenn ich sein Schnarchen auf Kassette aufnahm und es in geeigneten Momenten abspielte."

    Eine Liebesleben - so glaubwürdig, dass dagegen die Star-Wars-Filme wie Dokumentarspiele wirken.

    Rammstedts ganzer Text ist derart auf originell gebürstet, kommt so gnadenlos unterhaltungswillig und burlesk daher, als wollte er den Leser von der ersten Zeile an zum Mitschunkeln animieren. Schon der Name des Erzählers -"Keith Stapperpfennig" - ist ja als echter Brüller gedacht. Kauzig und skurril wie der Name, sind die meisten Szenen angelegt.

    So erfährt der Leser, dass Großvater seine Enkel mit einer "Art doktrinärer Gerechtigkeit" erzogen hat:

    "Unangenehm wurde es, als meine jüngere Schwester ihre ersehnten Ballettstunden gewährt bekam und wir daraufhin alle am Unterricht teilnehmen mussten.

    Noch unangenehmer war die langwierige Mittelohrentzündung meines zweitältesten Bruders, bei der die Antibiotika gerecht unter uns aufgeteilt wurden.

    Zu Knochenbrüchen kam es in dieser Zeit glücklicherweise nicht."

    Glücklicherweise, weil, wie der geneigte Leser weiterdenkt, der fundamentalistische Gerechtigkeitserzieher auch diese Brüche geschwisterlich - ja, was? den Knochen der Geschwister zugefügt hätte?

    Hier wird - wie so oft im Roman - nicht wirklich erzählt, sondern eine Idee durchdekliniert, und man hört förmlich, wie der Erzähler seinem eigenen Einfall und den daraus erwachsenden Pointen Beifall klatscht.

    Als eines Tages der Kater der Familie stirbt - der heißt, da man sich auf keinen Namen einigen konnte, lustigerweise "Friedrich oder Vincent" - bahrt Großvater die Tierleiche von "Friedrich oder Vincent" auf und spricht in ihrem Angesicht zu den Enkeln so:

    "Schaut ihn euch genau an. (...) Er wird nie wieder lebendig werden. Er wird keinen einzigen Vogel mehr jagen, er wird sich nie mehr räkeln, er wird nie mehr schnurren, er wird sich nie mehr die Pfoten lecken, er wird nie mehr die Augen schließen, er wird nie mehr etwas schmecken, er wird sich nie wieder etwas vornehmen, er wird nie wieder glücklich sein, er wird nie wieder traurig sein, er wird nie wieder etwas wollen, er wird nie wieder Schmerzen haben, er wird nie wieder etwas hoffen, er wird nie wieder diese Leere in sich spüren, er wird keinen einzigen Tag älter werden, und er wird nichts mehr bereuen" - "

    und so weiter und so weiter, bis man dem geschwätzigen Leichenredner ins Wort fallen und ihm zurufen möchte: Das alles überrascht uns Leser nicht. Das Tier ist tot.

    Aber im Roman hat leider der Autor das Wort beziehungsweise sein Sprachrohr, Keith, und das nutzt er immer wieder erbarmungslos aus, um seine detailfreudigen Aufzählungen von Nichtigkeiten vorzutragen.

    Da wird auf dem Dachboden Inventur gemacht, dass es nur so staubt; da wird getreulich der Inhalt einer großväterlichen Schublade aufgelistet, und man erfährt, es handele sich dabei um

    " "Büroklammern und Münzen, Batterien, Visitenkarten und abgerissene Knöpfe. Auf der Schreibfläche stapelten sich Papiere, Zeitungsausschnitte ohne erkennbare Thematik, Kontoauszüge, Quittungen, Geschäftspost."

    Requisiten wie aus einer lieblos zusammengestellten Rumpelkammer. Als Keith das Haus seines Großvaters verlässt, grübelt er:

    "Mit der Türklinke in der Hand drehte ich mich noch einmal um und fragte mich, ob sich wohl auch der Großvater noch einmal umgedreht hatte, um sich zu vergewissern, auch ja nichts vergessen zu haben."

    Ja, so geben sie sich gern, die deutschen Erzähler: immer voller tiefer Gedanken. Immerhin hat der Leser bald verstanden, dass hier aller Witz vom Großvater ausgeht, der als exzentrische Figur gedacht ist, als einer jener Sonderlinge, von dem man in komischen Romanen gerne liest. Besonders gerne in britischen Romanen, in denen der Exzentriker mit seinem britischen Humor ja zuhause ist.

    Nach einem bewährten Muster fürs derart Komische wird die exzentrische Figur allerdings mit einem Allerweltstypen geteamt.

    Mit einem Durchschnittsmenschen, der mit der Stimme des gesunden Menschenverstandes spricht, der mit beiden Beinen fest auf dem Boden der Tatsachen steht und die Eskapaden seines humoristisch verrückten Partners glaubwürdig in der Wirklichkeit verankert.

    So steht dem wunderlichen Don Quichotte ein handfester Sancho Pansa zur Seite, dem spindeligen Stan Laurel der bodenständige Oliver Hardy, dem verschrobenen Jerry Lewis ein solider Dean Martin.

    Rammstedt mag etwas durchaus Ähnliches im Sinn gehabt haben, als er Großvater und Enkel auf die gemeinsame chinesische Gedankenreise schickte. Doch der Roman findet keine rechte Balance, denn diese Reise nach China ist nichts als ein Monolog und der via Reisebericht wieder belebte Großvater bleibt die bloße Kopfgeburt eines Erzählers. Eines Erzählers, der seiner eigenen Erzählung zu wenig zutraut und immer wieder mit phantasielosen Inventurlisten jeden erzählerischen Schwung aus der Geschichte nimmt.

    Rammstedts britischer Humor ist Made in China, und selbst dieses China bleibt so lauthals gut gelaunt und dabei brav gesinnt wie die Sitcoms im hiesigen Vorabendprogramm.

    "Der Kaiser von China" setzt zu oft auf groteske, lärmige Übertreibung, wo ein wenig mehr Understatement dem Text gut getan hätte. Wenn Rammstedt nämlich rafft und auf den Punkt erzählt, wird es durchaus unterhaltsam. So heißt es über die Stadt Luoyang:

    "Auf dem Bahnhofsplatz tummelten sich Enten und Gänse, sonst aber ist die Stadt sehr ruhig, die Menschen gehen hier deutlich langsamer als in Peking oder Xi'an, sie schleichen eher, es wird wenig und fast schüchtern gehupt, kaum geschrien. Eine Schicht Melancholie liegt über Luoyang, vielleicht weil diese einstige Metropole (immerhin sechzehneinhalb Dynastien lang diente sie als Hauptstadt) seit ihrer Zerstörung im 12. Jahrhundert noch nicht wieder die Alte geworden ist, man lässt sich eben Zeit hier."

    Was für ein buntes, farbenfroh-phantastisches China hätte Keith sich ausdenken, auf was für eine unerhörte Reise hätte er seinen toten Großvater schicken können, befreit von den Lasten biederer Reiseführer und den Spielregeln der Realität.

    Das China, das er stattdessen erfindet, steht kaum anders im Internet und wirkt bieder wie Bielefeld.

    Stattdessen: ein paar launige Bemerkungen über die chinesische Küche, in der - oho! - glubschäugige Fische und Kreaturen mit Tentakeln die Hauptrolle spielen; ein bisschen Zirkus mit einer Vielfraßfrau; ein bisschen kecke Erotik am Krankenbett.

    Und so wirkt der ganze Roman am Ende wie ein vorzeitig gealterter Herrenwitz, ein Witz mit Bart, und wäre es selbst der Bart des Konfuzius.

    Tilman Rammstedt: Der Kaiser von China
    Roman. DuMont Verlag, Köln 2008
    191 Seiten