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Beim Thema Immigration hört Europa auf

Die Vorwürfe wiegen schwer: Die griechischen Behörden sollen nach Einschätzung der Organisation Pro Asyl die Menschenrechte von Bootsflüchtlingen systematisch verletzen. Der Journalist Karl Hoffmann geht in der Europakolumne der Frage nach, wie es an den Grenzen Europas zu solch eklatanten Menschenrechtsverstößen kommen kann und warum die EU in der Theorie soviel weiter ist als ihre Staaten in der Praxis.

    In diesem Jahr 2007 hat die Zahl der Boat People von Afrika nach Süditalien abgenommen. Das ist die gute Nachricht. Dafür ist die Zahl der Menschen, die auf ihrem Weg nach Europa ums Leben kamen, um mindesten 60 Prozent gestiegen. Die jüngsten Opfer fand man vor einer Woche an einem Strand in Kalabrien, es werden nicht die letzten sein.

    Zumindest unter humanitären Gesichtspunkten ist die bisher einzige gesamteuropäische Aktion zur Verteidigung der gemeinsamen Außengrenze im Mittelmeer ein dramatischer Misserfolg. Die Kriegsschiffe verschiedener EU Staaten im Frontex-Einsatz vor Libyen haben einige wenige von der gefährlichen Überfahrt nach Europa abgehalten, aber wahrscheinlich viele auf unsichere Routen abgedrängt. Daher wohl die Zunahme der Toten.

    Paolo Ferrero, kommunistischer Minister für soziale Solidarität, ein typisch italienisches Unikum, beklagte die jüngsten Toten als neuerliche Opfer der Abschottungspolitik in Europa, das zwar dringend ausländische Arbeitskräfte braucht, ihren ungeordneten und gefährlichen Zustrom aber nicht reguliert und gar als bedrohlich bezeichnet. Weil ein gesamteuropäisches Problem nicht auf europäischer Ebene angegangen wird, wurstelt jedes einzelne Land vor sich hin. Alle Länder der Südflanke suchen individuelle Lösungen durch bilaterale Verträge zur Rückführung unerwünschter Immigranten und ignorieren dabei die Brüsseler Direktiven.

    Mal werden die Menschen vorschnell und brutal abgeschoben, mal duldet man Illegale sehr großzügig, weil man ihrer gar nicht Herr wird. Dabei wird diese wenig erfolgreiche Ausländerpolitik auch noch stolz zum nationalen Hoheitsgebiet erklärt . Beim Thema Immigration hört Europa auf. Was für den Zustrom von Menschen aus Afrika und Asien gilt, das setzt sich seit der letzten Ausweitung der EU in der eigenen Großfamilie fort.

    Laut Europarichtlinie Nummer 38 aus dem Jahr 2004 dürfen sich alle Bürger der Gemeinschaft frei in der EU bewegen. Erst nach drei Monaten in einem anderen Land können auch Bürger der EU zwangsweise zurückgeschickt werden, wenn sie sich und ihre Familien nicht ernähren können. Italien hat dem einen weiteren Ausweisungsgrund hinzugefügt: wenn der Ausländer Grundgesetz oder Menschenwürde gefährdet, kann er abgeschoben werden.

    Vergangene Woche hat ein junger Mann aus Rumänien eine Römerin beraubt und dabei erschlagen. Ein Chor der Entrüstung erhob sich und der überwiegende Teil der Italiener sprach sich spontan für Sondermaßnahmen gegen kriminelle Ausländer aus. Prompt droht jetzt den ersten 5000 vorbestraften oder unerwünschten rumänischen Bürgern die Abschiebung in ihr Heimatland.

    Italiens Innenminister Giuliano Amato verteidigt den italienischen Alleingang mit dem Hinweis, dass die Europäischen Richtlinien nicht mehr ausreichen. Das Problem der Immigration habe ungeahnte Ausmaße erreicht, die mit dem Regelwerk aus Brüssel nicht mehr gelöst werden können. Auch in Italien macht sich Rassismus breit. Rechte Schlägertrupps verprügelten völlig unschuldige Rumänen. Linken Intellektuelle und Politikern warnen davor, Ausländer mit Kriminellen gleichzusetzen, und werden prompt als weltfremd abgetan.

    Italiens Regierung steht vor einer neuerlichen Zerreißprobe. Von ihr ist weder im eigenen Land noch in Europa derzeit ein positiver Beitrag zu erwarten, wie eine dringend nötige Wende in der Integrationspolitik. Europa ist ein einziges großes Einwanderungsland. Die unkontrollierte und damit destabilisierende Immigration von außen führt auf Dauer zu einer deprimierenden Abschottung. Wenn dann auch noch Massenabschiebungen innerhalb der EU zur Regel werden und damit neue enge Grenzen geschaffen werden , dann ist es mit der großen Freiheit der Europäer bald vorbei.