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Beim "Verrückten der Dünen"

Einer der beliebtesten argentinischen Badeorte ist Villa Gesell. Wo sich heute eine der Hochburgen des argentinischen Badetourismus befindet, waren Anfang der 1930er-Jahre nur Strand, Wind und Dünen. Carlos Gesell, ein Unternehmer aus Buenos Aires, träumte davon, das wilde Fleckchen zu bepflanzen - bald wurde er "Verrückter der Dünen" genannt.

Von Victoria Eglau | 17.05.2009
    Der Strand von Villa Gesell an einem Nachmittag im argentinischen Spätsommer. Es ist noch immer warm. Eis- und Getränkeverkäufer bieten rufend ihre Ware an und schaffen es kaum, das Meeresrauschen zu übertönen. Der helle Sand ist bunt betupft von Sonnenschirmen, Badetüchern und Strandliegen. Erwachsene räkeln sich in der Sonne, Kinder spielen in den Wellen und Spaziergänger laufen barfuss durch den nassen Sand. Villa Gesell - ein Badeort wie viele andere. Hinter dem Strand erheben sich Hochhäuser. Zu Fuß ist man in ein paar Minuten an der Hauptstraße Avenida Tres, der dritten Avenida.

    Dort flanieren Urlauber und Einheimische an Eisdielen, Restaurants und Geschäften vorbei. Es gibt auch mehrere Spielhallen, die gut besucht sind. Die 20.000 Einwohner Stadt Villa Gesell wird jeden Sommer von rund 750.000 Touristen besucht, die dort eine Mischung aus Erholung und Vergnügen suchen.

    Man braucht sich nicht weit weg zu bewegen von der quirligen Avenida Tres, um in grüne, ruhige Strassen zu gelangen. Wer in Villa Gesell unterwegs ist, läuft stets über sandige Wege. Vor dem Haus von Sonja Thomys stehen Birken und ein blauer Jasminstrauch. Drinnen sitzt die 81-jährige zierliche Frau mit dem weißen Pagenkopf und blättert in einem Fotoalbum der Familie Gesell. Sonja Thomys ist die Schwester von Carlos Gesell, dem 1977 verstorbenen Gründer des Badeorts. Da ihr Bruder wesentlich älter war als sie, nannte Sonja ihn Onkel Carlos.

    "So sah es ganz kahl aus, als Onkel Carlos hier anfing. Nichts. Auch kein Gras. Außer vereinzelte, etwas über einen Meter hohe sehr harte Gräser, die Carlos dann vermehrt hat, und dann in Reihen aufgepflanzt hat, damit sie den Wind etwas hemmen."

    Sonja Thomys zeigt auf ein Foto aus der Zeit, als Villa Gesell noch keinen Namen hatte und ein wilder, zehn Kilometer langer, unbesiedelter Küstenstreifen war - eine Dünenlandschaft ohne Baum und Strauch. Carlos Gesell hatte das Gebiet im Jahr 1931 günstig erstanden. Die Ursprungsidee des deutschstämmigen Argentiniers war, dort Bäume zu pflanzen, um Holz für das Familienunternehmen Casa Gesell in Buenos Aires herzustellen. Casa Gesell verkaufte alles für das Kind, so auch Kindermöbel und Holzspielzeug.

    "Für ihn war das eine Herausforderung. Und es war gar nicht so einfach. Er erzählte, wie er eine schöne kleine Düne sah, und sich vorstellte, wie darauf ein großer Zedernbaum wachsen würde. Und dann kam er über die Wochenenden, und brachte einmal einen Zedernbaum mit. Und pflanzte ihn da mit großen Hoffnungen auf die Düne. Aber als er wiederkam, war sie trocken. Weil eben der Boden noch reiner Sand war, wuchs eben das wenigste an."

    Weil viele das Unterfangen von Carlos Gesell für sinnlos hielten, nannte man ihn bald den "Verrückten der Dünen". Auch in seiner eigenen Familie stieß der Plan, die sandige Küstenlandschaft zu bepflanzen, auf Widerstand. Carlos - offenbar mit einer Mischung aus Sturköpfigkeit und unermüdlicher Erfindergabe ausgestattet - ließ sich nicht entmutigen. Und doch sollte es ein Jahrzehnt dauern, bis es ihm gelang, die Dünen zu befestigen und dauerhaft zu bepflanzen. Sonja Thomys erinnert sich:

    "Er hat es immer wieder neu versucht. Er hat alle Pflanzen versucht, derer er überhaupt nur habhaft werden konnte. Bis dann diese Akazien kamen, die wirklich schnell wuchsen und sich auch hielten. Und die Pionierpflanze hier in der Gegend waren die Tamarisken. Die sich nichts daraus machten, wenn sie zugeweht wurden - im Gegenteil, sie gediehen besser. Aber wir mussten dann nach Sturmtagen immer - wir haben die dann immer wieder aufgerichtet, abgeschüttelt, und dann wuchsen sie weiter."

    Am Ende der Avenida Tres, der Hauptstraße von Villa Gesell, beginnt Pinar del Norte, "der nördliche Kiefernhain". In dem Wäldchen wachsen neben Kiefern mehr als hundert weitere Baum- und Pflanzenarten - alle von Carlos Gesell angepflanzt. Monica García vom Historischen Museum Villa Gesell läuft über die schattigen Wege des Pinar del Norte:

    "Wir sind gerade an einem Orangenbaum vorbeigekommen, und einem Quittenbaum - die Früchte waren für den Verzehr der Familie Gesell bestimmt. Es gab auch einen Gemüsegarten. Unglaublich, all das wuchs im Sand. Dies ist eine sehr alte Eiche, und dort sieht man eine Weide. Hier, diese riesige Buche. Buchen gediehen hier gut. Jeder Baum hat sich, so gut es ging, angepasst. Dies ist ein Olivenbaum. Pflanzen vom Mittelmeer haben sich hier in Villa Gesell ziemlich gut entwickelt, weil das Klima ähnlich ist. Ebenso die australischen Arten, wie der Eukalyptusbaum. Hier steht einer, daneben eine Zypresse und ein Feigenbaum."

    Das Wäldchen Pinar del Norte ist der historische Kern von Villa Gesell - hier befindet sich das 1937 erbaute erste Wohnhaus von Carlos Gesell, in dem heute das Museum untergebracht ist, sowie das Chalet, in das die Familie später zog. Von dort aus sind es nur wenige Meter bis zum Strand, an dem 1940 das erste Haus für Urlauber entstand: La Golondrina, "Die Schwalbe".

    "Carlos Gesell baute es, um es zu vermieten. Emilio Stark, ein Schweizer Unternehmer aus Buenos Aires, war der erste Tourist, der dort Ferien machte. Er verbrachte hier mit seiner Frau fünfzehn wundervolle Tage. Als er nach Buenos Aires zurückkam, erzählte er allen seinen Freunden von diesem Ort, und von da an wurde er von Freund zu Freund weiterempfohlen. So entstand der Werbeslogan, den Villa Gesell viele Jahre lang verwendete: Der Badeort, den Freunde ihren Freunden empfehlen."

    Rekonstruiert Mariela Siste vom Historischen Museum Villa Gesell die Anfänge des Tourismus in Villa Gesell. Anfang der 40er-Jahre hatte Carlos Gesell, der das Familienunternehmen in Buenos Aires verlassen hatte, das Vorhaben der Holzgewinnung aufgegeben. Er war nun entschlossen, einen Badeort zu gründen, der ganz anders als das mondäne Seebad Mar del Plata mit seiner eleganten Strandpromenade sein sollte: ein ruhiges Fleckchen Erde für Naturliebhaber.

    "Ich mag die Stille, ich liebe die Natur. Ich kam hierher und mochte den Ort sofort. Damals studierte ich und mein Vater sagte zu mir: In den Ferien schauen wir uns Villa Gesell an. Wenn es dir dort gefällt, kaufen wir ein Grundstück. Und es gefiel mir."

    Juan Manuel Greco gehört zu den Pionieren, die Villa Gesell mit aufbauten. Mitte der 40er-Jahre ließ sich seine Familie hier nieder und baute mehr als sechzig Häuser - auf Grundstücken, die Carlos Gesell verkaufte. Juan Manuel Greco war in Italien geboren worden, und in seiner Baufirma fanden viele andere italienische Einwanderer Arbeit, die nach dem Zweiten Weltkrieg nach Argentinien kamen. Villa Gesell begann, sich zu bevölkern. 1943 eröffnete die deutsche Familie Gussmann das erste Hotel: Hotel Playa. Sonja Thomys, die Schwester von Carlos Gesell, blickt zurück:

    "Zuerst hatten wir viele Deutsche hier, und dieses Hotel Playa von Gussmanns, das zog auch andere Europäer an. Wir hatten Franzosen, Engländer - auch damals, als es noch Krieg war, kamen sie alle hier zusammen. Die die Natur liebten, und die Herausforderung, hier überhaupt anzukommen, und auch wieder zurück."

    "Für mich war es die beste Zeit meines Lebens. Heute gefällt mir Villa Gesell nicht mehr. Damals waren wir nur wenige, wir kannten uns alle und wir konnten mit geöffneter Haustuer schlafen - keiner hat uns gestört. Wir brauchten nicht einmal eine Polizei."

    Schwärmt Juan Manuel Greco von den Anfangszeiten von Villa Gesell, als an Massentourismus noch nicht zu denken war. Carlos Gesell hatte den entstehenden Ort nach seinem Vater, dem Ökonomen Silvio Gesell, benannt. In den 50er- Jahren begann die kleine Marta Gesell, die Ferien im Chalet ihres Großvaters Carlos zu verbringen. Der freute sich damals über die Früchte seiner beharrlichen Arbeit. Mit seiner Enkelin, die heute 59 ist, unternahm er Spazierfahrten durch die Dünen:

    " Mein Großvater spielte wie ein Kind, er fuhr die Dünen rauf und runter, und manchmal versank der Jeep bis über die Räder im Wasser. Es gab eine Düne, die seinen Namen trug - Don Carlos - und wir Kinder ließen uns hinunterkugeln. Danach fuhren wir durch das Kiefernwäldchen wie durch ein Labyrinth, und manchmal stieg er aus, umarmte die Bäume und rief: Schau, Martita, wie sie wachsen !"

    Die Liebe zu Pflanzen hat Marta Gesell von ihrem Großvater geerbt - sie betreibt in dem Küstenstädtchen eine Baumschule. Für Marta waren die 60er- und 70er-Jahre die beste Zeit Villa Gesells - als aus dem Paradies für Naturfreunde eines der angesagtesten Seebäder Argentiniens wurde.

    "Es entstand ein Badeort, der ganz anders war als die anderen, irgendwie europäischer. Alles war freier, nicht so sehr von der Zugehörigkeit zu sozialen Klassen geprägt, was sonst so typisch für Argentinien ist. Es gab sehr viel Kultur, es kamen viele Schriftsteller, viele Musiker. Villa Gesell hatte diese Mischung von Bohème und Kultur, die es in keinem anderen Ort an der Küste gab."

    Villa Gesell war in - und das hatte ein explosionsartiges Wachstum zur Folge. Mitte der 70er-Jahre wurde dort so viel gebaut wie an keinem anderen Ort in Lateinamerika. Ein Boom, der einige Jahre später wegen politischer und wirtschaftlicher Krisen in Argentinien wieder zum Erliegen kam. Doch die Entwicklung zu einem der Zentren des Massentourismus' war nicht mehr aufzuhalten.

    Nach den Osterfeiertagen verschwinden die letzten Urlauber aus Villa Gesell. Der Lärm der Spielhallen verstummt. Bis Dezember, wenn die Sommerferien beginnen, gehört der Ort nun den Einheimischen. Am Strand, den Blick von den Hochhäusern abgewandt, ist Villa Gesell wieder das einsame Paradies aus Dünen, Wind und Meer, das Don Carlos hier entdeckte.