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Bekenntnisse eines todernsten Schwindlers

In seinem Selbstporträt des Schriftstellers als "Leibeigener des Todes" treibt Josef Winkler sein kunstvolles Spiel mit autobiografischer Authentizität und Fiktion auf die Spitze. Ohne die Sprache, so Winklers Botschaft in diesem Buch, sei für ihn Überleben nicht möglich.

Von Michaela Schmitz | 05.03.2012
    Es gebe keine andere Quelle der Schönheit als die Verletzung, einzigartig, verschieden bei jedem einzelnen. So zitiert Josef Winkler im neuen Buch über seine Geburt als Schriftsteller aus dem Geiste der Verletzung seinen literarischen Schutzheiligen, den französischen Autoren Jean Genet. Ein Schutzengel sei Ursache seiner eigenen ersten einschneidenden Verwundung gewesen, bekennt Winkler zu Beginn seiner Büchnerpreisrede. Ein persönlicher Engel, so der katholische Pfarrer, führe Buch über alle guten und schlechten Taten und Gedanken bis hin zum Tag des jüngsten Gerichts. Die Furcht vor diesem himmlischen Buchhalter seines Lebens habe ihm als Kind Todesangst eingejagt. Genauso wie das Begräbnis des patriarchalischen Großvaters. Wie dieser heißt auch der ungeliebte renitente Enkel Josef Winkler. Buchstäblich zu Tode erschreckt, liest der Achtjährige seinen eigenen Namen auf der Todesanzeige des Großvaters – und fühlt sich selbst mit aus dem Leben gewünscht.

    Als schwerwiegendste Station seiner kindlichen Passion aber erlebt der Jugendliche den Doppelselbstmord zweier Jungen aus seinem Heimatdorf.
    Die verzweifelte Suche nach Erlösung wird zur Obsession, Worte für dieses unbeschreibliche Grauen und damit zur eigenen Sprache zu finden. Doch die einzigen Bücher auf dem Bauernhof sind die Gebetsbücher mit Litaneien der gläubigen Großmutter. Heimlich entwendet der Handelsschüler Geld aus der Brieftasche seines Vaters, um davon Hunderte von Büchern zu kaufen. Seine "existenziell entscheidende Art zu lesen" rettet ihn vor dem sprachlosen Entsetzen. Aus "reiner Notwehr" beginnt er, Tagebuch zu schreiben; Zeile für Zeile seinen eigenen Selbstmord aufschiebend.

    In dieser Zeit (...) klebte ich die (...) Bilder (...) der beiden erhängten siebzehnjährigen Buben aus meinem Heimatdorf (...) auf meine Brust und schrieb (...) mein erstes Romanmanuskript. Morgens, bevor ich ins Bad ging, löste ich die roten Gazestreifen (...) und klebte sie später wieder, wenn beim Dunkelwerden das Lesen und Schreiben begann, über meinem Herzschlag auf die Brust.

    Schreibend entwirft der junge Autor seine eigene fiktive Lebensgeschichte als Genealogie der Verwundungen. Und findet Seelenbrüder in anderen Künstlern: allen voran der französische Schriftsteller Jean Genet und Winklers Lebensmensch, der Kunstmaler Georg Rudesch, sowie der von diesem verehrte Maler Chaim Soutine. Im Spiegel seiner eigenen und seelenverwandter Künstlerbiografien zeigt Winkler die Geburt der Schönheit aus dem Geiste der Verletzung. Sie sei Auslöser und bleibe lebenslanger Antrieb künstlerischer Arbeit. Unübersehbar in den Demütigungen des Waisenknaben Jean Genet und des Sohns eines armen jüdischen Flickschneiders, Chaim Soutine. Winkler berichtet, wie Soutine sich an ein Erlebnis im russischen Schtetl erinnert, in dem ...

    "(...) ein Dorfschlachter einer Gans die Kehle durchschnitt und das Blut herauslaufen ließ. Ich wollte schreien (...). Diesen Schrei fühle ich immer noch in mir. Als ich als Kind ein Selbstporträt zeichnete, habe ich versucht, mich von diesem Schrei zu befreien. Bis jetzt ist es mir noch nicht gelungen (...)."

    Aus der Einsicht in die ursächliche Verknüpfung von Kunst und persönlicher Verletzung entwickelt Winkler seine eigene Poetik der Verwundungen. Das künstlerisch radikale Programm: die Spuren persönlicher Verletzungen bis in die Kindheit hinein schonungslos zurückzuverfolgen.

    Der Autor kehrt heim auf den elterlichen Bauernhof. Er fürchtet, die Sprache erneut zu verlieren. Und man droht ihm mit dem Tod – die absoluteste aller Verletzungen. Doch Winkler folgt Genet in seinem Entschluss, sich dem Entsetzen zu überlassen, um ihm zu entgehen. Er inszeniert fiktive Todesarten für sich selbst und flüchtet zu den "herzensguten Toten" auf dem heimatlichen Friedhof – der Ausgangspunkt einer gelebten Todespoetologie. In Italien stiehlt der Autor einen Totenschädel aus einer Gruft, beobachtet monatelang am Ganges indische Bestattungsrituale und pilgert sogar mit seiner ganzen Familie nach Mexiko zum Allerheiligenfest, um genüsslich mit den eigenen Namen beschriftete Zuckertotenköpfe zu verspeisen. In schaurig-schönen literarischen Nature-morte-Gemälden hält Winkler das Neben- und Ineinander von Leben und Tod fotografisch genau bis ins kleinste drastische Detail in seinen Büchern fest. Im Gegenzug wird der Schmerz über Verletzung und Tod buchstäblich in der Schönheit seiner Sprachbilder aufgehoben.

    "Die Realität so sagen, als ob sie trotzdem nicht wär oder Die Wutausbrüche der Engel" greift viele aus Winklers Büchern bekannte Schlüsselmotive und -themen auf. Doch sein begrenztes Motiv-Panorama wird auch in diesem Text, so der Autor, "nicht eigentlich wiederholt, wohl aber wieder geholt". In besonders konzentrierter Form setzt Winkler in dieser poetologischen Reflexion von existenzieller Wucht und sprachlicher Schönheit die Bausteine seines fiktiv stilisierten Erlebnismaterials noch einmal neu zusammen. Komplexe, stark verdichtete Satzkompositionen verknüpfen eine große Bandbreite seiner Themen- und Bildkomplexe zeichenhaft über sinnlich erfahrbare Klang- und Bildanalogien. Das künstlerische Augenmaß und absolute Gehör, mit dem Winkler die Sprache hier Satz für Satz auf die goldene Waage legt, Leben und Tod auspendelt, ist beeindruckend.

    In seinem Selbstporträt des Schriftstellers als "Leibeigener des Todes" treibt er außerdem sein kunstvolles Spiel mit autobiografischer Authentizität und Fiktion auf die Spitze. Auf die mehrfach potenzierte Fiktionalität seiner autobiografischen Texte weist der Autor selbst in jeder Überschrift hin: Wie beim Schelmenroman beginnen fast alle mit der Formel "Die Geschichte vom ...". Winkler präsentiert sich hier als todernster Schwindler, indem er gleichzeitig tut, was er sagt, während er sagt, was er tut: nämlich "Die Realität so sagen, als ob sie trotzdem nicht wär". Dieser Satz des Komponisten Edvard Grieg ist für Josef Winkler poetologisches Programm und Existenzgrundlage in einem. Es geht um die Sprache, es geht um alles. Denn ohne diese, so Winklers Botschaft in diesem Buch, sei für ihn Überleben nicht möglich.


    Josef Winkler: Die Realität so sagen, als ob sie trotzdem nicht wär oder Die Wutausbrüche der Engel
    Suhrkamp Verlag 2011
    163 Seiten, 17,90 Euro