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Beklemmend und negativ

Fast sechzig Jahre sind seit ihrer Entstehung vergangen, und über vierzig, seitdem sie erstmals auf deutsch erschienen. Und doch trifft immer noch zu, was die Kritiker von Anfang an behaupten: dass diese Erzählungen nämlich zu den originellsten und zugleich beklemmendsten Werken der KZ-Literatur gehören. Denn im Gegensatz zu den meisten Büchern, die sich mit diesem Thema befassen, zeichnet Borowski ein Bild der Lagerrealität, in der alle Beteiligten gleichermaßen negativ erscheinen.

Von Marta Kijowska | 08.01.2007
    Es ist eine moralisch indifferente Welt, in der es keine klare Trennung zwischen Opfern und Tätern gibt, in der jeder nur darauf bedacht ist, das eigene Überleben zu sichern - sei es durch Anpassung, sei es durch Passivität. Und in der ein Umgangston herrscht, in dem sich Zynismus mit scheinbarer Akzeptanz vermischt. Bei uns in Auschwitz - kaum ein anderer Titel könnte treffender das Klima dieser Erzählungen erfassen.

    So heißen übrigens nur die beiden deutschen Ausgaben: die alte, aus den sechziger Jahren, und die aktuelle. Sie ist um einige Erzählungen erweitert, und vor allem entspricht ihre Gliederung genauer der Entstehungsgeschichte dieser Texte. Im Original waren es nämlich drei verschiedene Sammlungen: Sie erschienen in den vierziger Jahren und trugen die Titel Wir waren in Auschwitz, Abschied von Maria und Die steinerne Welt. Dem ersteren Band, den Borowski gemeinsam mit zwei anderen Autoren schrieb, entstammt auch die Erzählung Bei uns in Auschwitz - ein besonders eindrucksvolles Beispiel seines provokanten, pietätlosen Stils.

    "Herrliche Tage - keine Appelle, keine Pflichten. Das ganze Lager ist zum Appell angetreten, und wir stehen am Fenster, halb hinausgelehnt, Zuschauer aus einer anderen Welt. Die Leute lächeln uns zu, wir lächeln zurück, sie nennen uns 'Kollegen aus Birkenau', ein wenig mitfühlend, weil wir ein so elendes Schicksal haben, und ein wenig beschämt, weil das Schicksal es gut mit ihnen meint. Vom Fenster aus wirkt die Landschaft harmlos, das Kremo ist nicht zu sehen. Die Leute sind in Auschwitz verliebt, stolz sagen sie: 'Bei uns in Auschwitz...'"

    So hört sich der Monolog eines Lagersanitäters an. Kein Wunder, dass die ersten Leser - selbst noch stark vom Krieg traumatisiert - mit Ablehnung oder heftigen Attacken auf den Autor reagierten. Man warf ihm vor, die Würde der Häftlinge zu missachten, sich als Zyniker und Nihilist zur Schau zu stellen. Schon nach wenigen Jahren galten seine Erzählungen allerdings als Meisterwerke. Und als besonders gelungen sah man eben seinen ungewöhnlichen narrativen Standpunkt an. Borowski erzählt nämlich immer wieder aus der Perspektive eines Menschen, der weder ganz zu den Tätern noch eindeutig zu den Opfern gehört. Meistens ist es der "Kapo", jemand also, der gezwungenermaßen ein Bindeglied zwischen diesen beiden Gruppen darstellt. Auf diese Weise überwindet er die traditionelle, dualistische Darstellungsweise und stellt unter Anklage das gesamte verbrecherische System. Dabei zeigt er, wie perfekt dieses System innerhalb eines Lagers funktionieren konnte - etwa dann, wenn einer jener Tage zu Ende ging, an denen ein weiterer Transport vergast worden war.
    "Ruhig, sachkundig marschieren die schwarzen Gestalten der SS-Männer auf und ab. Der Herr mit dem Notizbuch macht seine letzten Striche, rechnet die Zahlen zusammen: fünfzehntausend. Gleich ist Schluss. Ein letzter Lastwagen sammelt die auf der Rampe herumliegenden Leichen ein. Der Kapo hat Gold, Seidenstoffe und schwarzen Kaffee in den Teekessel gestopft. Das ist für die Wachtposten am Tor, damit sie das Kommando unkontrolliert durchlassen. Ein paar Tage lang wird das Lager von diesem Transport leben. Es war ein guter, reicher Transport."

    Mit der gleichen erbarmungslosen Sachlichkeit und Präzision, mit der er die Ermordung von Tausenden schildert, berichten Borowski auch von anderen Ereignissen und Zuständen im Lager: von den zufällig beobachteten individuellen Tragödien - etwa einer Mutter, die bei der Selektion ihr Kind verleugnet - oder von den Feinheiten der Lagerhierarchie und sich daraus ergebenden Empfindlichkeiten.

    Dass diese Erzählungen einen stark autobiographischen Charakter haben, ist unbestritten. Über Borowskis plötzlichen Tod im Juli 1951 wird hingegen bis heute spekuliert. War es wirklich ein Selbstmord? Und wenn ja: War seine Lebensmüdigkeit allein auf seine KZ-Erlebnisse zurückzuführen, wie die deutschen Kritiker immer wieder behaupten? Oder sind die Gründe eher im Nachkriegskapitel seines Lebens, in seiner damaligen politischen Haltung zu suchen?

    1948 trat Borowski der Polnischen Arbeiterpartei bei und wurde bald zu einem führenden Propagandisten des neuen Regimes. Dass dies auf Kosten seines literarischen Stils ging, dass er auf einmal Texte publizierte, die im Vergleich zu seinem Frühwerk geradezu peinlich wirkten, schien niemanden zu stören. Im Gegenteil, "je kräftiger er auf das Pedal drückte", wie Czeslaw Milosz es einmal ausdrückte - der Borowski übrigens auch zu einer Hauptfigur seiner berühmten Essaysammlung Verführtes Denken machte -, desto heftiger wurde er gelobt. Waren das also die Ursachen seiner tiefen Depression, die schließlich zu der Katastrophe führten? Sein literarischer Abstieg und seine politische Verstrickung, die er zunehmend als Selbstbetrug empfand? Das ist die Meinung der meisten polnischen Kritiker. Was allerdings die Beurteilung von Borowskis Auschwitz-Erzählungen betrifft, so stehen sie in ihrem Enthusiasmus den deutschen Kollegen in nichts nach.