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"Bel Ami der Aschenbahn"

1960 war, im nachhinein besehen, für die Deutschen ein Jahr der Sport-Legenden: Georg Thoma wurde Olympiasieger in der Nordischen Kombination und Sportler des Jahres, zugleich ging der Stern von Sprinter Armin Hary . In seinem Schatten sorgte: der 400-Meter-Läufer Carl Kaufmann aus der Generation der Martin Lauer und Manfred Germar mit seinem Weltrekord für Furore.

Von Gerd Michalek | 01.01.2011
    Carl Kaufmann kommt 1936 als Sohn eines aus Karlsruhe emigrierten Außenhandelskaufmanns in New York zur Welt. Im Zuge einer Deutschlandreise bleibt er nach 1939 mit seiner Familie in Karlsruhe, wo er 2008 an einem Tumor stirbt. Die Autoren, die beiden Sportjournalisten Daniel Merkel und Michael Dittrich, durchmessen 72 gut gefüllte Lebensjahre; sie führen den Leser in die Hoch-Zeit des deutschen Sprints, der Ende der 50er-Jahre die Stadien füllte und Reporter beschäftigte. Vor allem Vertreter der Yellow-Press heften sich an die schnellen Fersen Kaufmanns, der weibliche Fans in seinen Bann zieht und bald als Sport-Gigolo tituliert wird.

    Kaufmanns kometenhafter Aufstieg beginnt 1953: Mit 17 zieht der wieselflinke Fußballer die Spikes eines Freundes an und läuft auf Anhieb exzellente 11,9 Sekunden über 100 Meter. Ein Jahr später trainiert er bereits zusammen mit Heinz Fütterer, dem schnellsten Mann Europas Mitte der 50er. Der 19-jährige Carl besiegt sein Idol bei den Deutschen Meisterschaften über 200 Meter. 1959 sprintet er über 400 Meter Europarekord mit brillanten 45,8 Sekunden, - eine Zeit übrigens, die kein deutscher 400 Meter-Sprinter im Jahre 2010 zu laufen vermochte.
    Carl Kaufmann erreicht 1960 den sportlichen Zenit: Am 6. September macht der 26-Jährige bei den Olympischen Spielen in Rom das Rennen seines Lebens:

    "Kaufmann ist innen, Otis Davis liegt vorn, jetzt kommt Kaufmann, spurtet mächtig, geht nach vorn - ja! Ob es reicht? Ich weiß es nicht. Kaufmann liegt der Länge nach am Boden, vier fünf Meter hinter im Ziel"

    Wie in Zeitlupe präsentieren die Biografen den Finallauf von Rom mit seiner Dramatik am Zielstrich: Kaufmann hechtet mit letzter Kraft nach vorn. Ein Bild, das durch alle Gazetten geht. 30 Minuten dauert die Auswertung des Zielfotos. Kaufmann kommt einen Wimpernschlag hinter dem Amerikaner an: Silber für den Karlsruher, der dennoch den Weltrekord von 44,9 Sekunden einstellt. Fortan wird sein Auto-Kennzeichen "CK-449".

    Auf jeder Buchseite gerät der Leser ins Gravitationsfeld eines rastlosen Multitalents, das heutzutage sicherlich Medienstar und Millionär wäre. Kuriose Dinge hat Kaufmann erlebt: 1962 will er in Südafrika Sprint-Wettkämpfe und Gesangsauftritte kombinieren. Vor der Abreise zwingt ihn jedoch der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV), die Flugtickets zurückzugeben. Die Alarmglocken des Verbandes schrillen, wegen Kaufmanns Amateurstatus. Im Rückblick erinnert sich der Sprinter an seinen einzigen Sponsor:

    "Der Milchmann, das war mein Sponsor, und der sagte, er spendet mir jeden Tag einen Liter Milch bis zur Olympiade, als Unterstützung für meine Nahrung""

    Nach Kaufmanns sportlichem Höhepunkt in Rom 1960 nehmen seine Leistungen deutlich ab. Für die 400 Meter benötigt er in den Folgejahren gut zwei Sekunden länger - im Sprint sind das Welten! Kein nationaler Titel gelingt ihm mehr. Der Spagat zwischen Gesangskarriere, Sportstudium und Leistungsport fordert offenbar seinen Tribut.

    Leider erklären seine Biographen nicht wirklich, warum Kaufmann sein ernsthaft verfolgtes Comeback - die Olympiateilnahme 1964 in Tokio - so weit verfehlt. Ebenso bleibt im Dunkeln, wie der Perfektionist Kaufmann sein sportliches Scheitern 1964 reflektiert. Stattdessen berichten Merkel und Dittrich ganz unvermittelt vom "persönlichen Rekord" des Karlsruhers 1964: In drei aufeinander folgenden Jahren wird er Vater dreier Jungen. Kaufmanns Privatsphäre dominiert die Darstellung in der zweiten Buchhälfte.

    Dabei verfolgt Kaufmann beruflich viele Wege: Er tritt in den 60ern als ausgebildeter Opernsänger auf und wird von der Fachkritik durchaus ernst genommen. 1967 feiert die erste Fernsehoperette Premiere. Kaufmann ist bei "Polenblut" mit von der Partie - wenn auch mit auffällig schüchternem Auftritt. Seine kurzen Versuche als Schlagersänger bleiben ohne Erfolg. Er beeindruckt dagegen als Vereinsgründer, Sportbuchautor und besonders als Theatermacher. Ein Mensch voller Leidenschaft, talentiert und fleißig, aber nicht sehr geschäftstüchtig. Ob Sport oder Kultur- am Ende seines Lebens stellt er sich die Frage nach den Prioritäten:

    ""Ob ich beides noch mal in diesem Ausmaße machen würde? Ich würde mich wahrscheinlich künstlerisch stärker engagieren, weil es mein Beruf ist und weil ich da Sängerinnen und Sänger sehe. Da wird es mir wehmütig ums Herz."

    Die Biographen Merkel und Dittrich sparen auch Konflikte nicht aus, die der Patriarch und Lebemann in seiner Patchwork-Familie verursacht. Zu Wort kommen Sportler und Freunde wie der TV-Journalist Franz Alt, der sich als Student gemeinsam mit Kaufmann auf Bühnen ein Zubrot verdiente. Allerdings streuen die Autoren etwas zu oft Zitate der Regenbogenpresse ein.

    Lesenswert ist das Buch allemal - es liefert persönliche Einblicke in das Leben eines widersprüchlichen und faszinierenden Menschen. Welcher Sportler noch hat es auf 130 Inszenierungen als Theaterregisseur gebracht? Er ruft 1967 die "Käuze" ins Leben - ein semiprofessionelles Ensemble, das noch heute Kleinkunst und Kindertheater miteinander verbindet. Genau dort - auf der Karlsruher Bühne - wurde neulich zu Ehren des Gründers dessen Biografie vorgestellt.

    Soweit Gerd Michalek über "Bel Ami der Aschenbahn". Die Biographie des deutschen 400 Meter-Rekordläufers Carl Kaufmann ist im Werkstatt-Verlag Göttingen erschienen, hat 191 Seiten und kostet 16,90 Euro.