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Belgische Comicszene
Arm, aber kreativ

Comics sind in Belgien eine ernstzunehmende Kunstform. "Die Schlümpfe", "Lucky Luke" und "Tim und Struppi" – die großen Comics aus Belgien kennt auch in Deutschland jedes Kind. Die Brüsseler Independent-Comicszene ist bei uns weniger bekannt, dabei steckt gerade dort viel kreative Energie.

Von Ramona Westhof | 27.02.2019
Die "Ballon-Parade" mit den überdimensional aufgeblasenen Schlümpfen und anderen Figuren beim 9. "Comic Strip Festival" in Brüssel 2018
Die "Ballon-Parade" mit den Schlümpfen und anderen Figuren beim 9. "Comic Strip Festival" in Brüssel 2018 (picture-alliance/dpa/Hatim Kaghat)
Émilie Plateau hält ein kleines Papphaus in den Händen. Fenster, Türen und die Schilder der kleinen Geschäfte hat sie in feinen schwarzen Linien gezeichnet. In einem Schuhkarton auf ihrem Schreibtisch liegt ein ganzer Straßenzug. "Ich war gerade für eine Ausstellung in Deutschland, in Bremen. Dafür habe ich diese kleinen Modelle gemacht. Die Häuser sind aus meinem letzten Comic, für die Ausstellung habe ich sie aus Papier nachgebaut. Es gibt auch kleine Autos und einen Bus."
Brüssel als Nährboden der Comic-Szene
Die Kulisse in Émilie Plateaus Buch "Noire: la vie méconnue de Claudette Colvin". Die Bürgerrechtsaktivistin Claudette Colvin war die erste Afroamerikanerin, die sich weigerte, ihren Platz im Bus an eine Weiße abzugeben. Die Schachtel mit den Papphäusern steht in einem kleinen Atelier im Brüsseler Künstlerviertel Saint-Gilles. Neben Plateau arbeiten hier noch sechs andere Comiczeichnerinnen und –zeichner. Mit einem Schreibtisch pro Person plus einem Besucherschreibtisch sind die beiden Räume gut gefüllt.
Das Atelier wurde vor einigen Jahren von ehemaligen Studierenden der Brüsseler Schule Saint-Luc gegründet. Comic ist dort ein eigener Studiengang. Plateau selbst aber hat an der Kunsthochschule im französischen Montpellier studiert, ihre Dozenten konnten mit Comics weniger anfangen, sagt sie, sie fanden Comics sind keine Kunst. Nach ihrem Abschluss ist sie darum nach Brüssel gezogen: "Es gibt hier viele Ausstellungsräume, das belgische Comicmuseum, viele Ateliers - also eine große Comicszene. Dazu kommen eine ganze Menge Kollektive, die auch ‚Fanzines‘ machen, und unabhängige Verlage wie ‚L’employé du Moi‘, ‚Fremok‘ oder ‚La 5e Couche‘. Das macht Brüssel zu einem Nährboden für Comiczeichnerinnen und -zeichner, das stimmt schon."
Erfolg mit Fanzines
Sie zeigt ein paar ihrer eigenen "Fanzines", kleine dünne Hefte mit schwarz-weißen Zeichnungen, die sie selbst kopiert und auf Festivals und im Internet verkauft. Plateaus kurze Geschichten sind autobiografisch. In einer geht es um Homophobie, in einer anderen um das renommierte französische Comicfestival in Angoulême und die Frage, warum dort eigentlich so selten Frauen ausgezeichnet werden. Auch mit den unabhängigen Verlagen in Brüssel hat sie zusammengearbeitet, etwa für "L’employé du Moi". Der Verlag ist vor fast 20 Jahren auch aus einem Fanzine entstanden, erzählt Mitgründer Stéphane Noel, ebenfalls Zeichner. In seinem Wohnzimmer und Büro in Saint-Gilles stehen deckenhohe Bücherregale, voll mit Comics und Skizzenbüchern.
Frau, schwarz-weiß,
Comiczeichnerin Emilie Plateau (Rita Scaglia)
"Angefangen hat es mit ein paar jungen Leuten, alle frisch von Saint-Luc oder Erg, zwei Schulen hier in Saint-Gilles. Sie hatten ein Heft, das ‚Spon‘ hieß. Es gab einen Briefkasten, in den man seine Zeichnungen werfen musste, und aus denen ist dann jede Woche die neue Ausgabe entstanden. Am Ende waren noch ungefähr acht Leute dabei. Sie haben mich dann gefragt, ob ich nicht mit ihnen zusammen etwas Ernsteres machen will – Bücher."
Verlagsgründung allein reicht nicht
"L’employé du Moi" verlegt nur eine Handvoll Bücher im Jahr. Von niedlich über verstörend bis künstlerisch wertvoll ist eigentlich alles dabei. Der Kleinverlag bietet seinen Autorinnen und Autoren zwar nicht viel Geld, aber dafür die Möglichkeit, mit viel Autonomie eigene Geschichten zu veröffentlichen. Bei den großen, rein kommerziellen Verlagen ist das nicht so einfach.
Auch die Verlagsgründer, die sich etwa um Verwaltung, Versand oder Lektorat kümmern, haben andere Jobs, zeichnen und illustrieren regelmäßig für Zeitschriften, die für einen Tagesjob gut und besser bezahlen, oder sind Lehrer, so wie Stéphane Noel. Die Autorinnen und Autoren werden für ihre Comics erst seit ein paar Jahren bezahlt: "Wir wachsen und versuchen, Leute für ihre Arbeit zu bezahlen. Mit den großen Häusern können wir aber nicht mithalten, die zahlen 5.000, 6.000, 10.000 oder noch mehr. Wir können 1.000 oder 2.000 Euro für ein Buch bezahlen, das ist nicht viel, aber das ist alles, was wir uns leisten können."
Das erste Jahr ohne Auftragsarbeiten
Selbst in der Comicstadt Brüssel können die wenigsten Comiczeichnerinnen und –zeichner von ihren Büchern leben. Die Arbeit an einem Comic sei viel zu aufwendig, sagt Noel. Auch in Émilie Plateaus Atelier arbeitet eine ihrer Kolleginnen gerade an einer Illustration für eine Modezeitschrift – nicht ihre Lieblingsaufgabe, sie nennt es ihren "Day Job". Im Nachbarraum entstehen noch eine Illustration und ein kurzer Comic für ein CD-Booklet.
Émilies Plateau hat mehr Erfolg: Ihr neues Buch "Noire: la vie méconnue de Claudette Colvin" ist im Januar bei einem großen Verlag erschienen, bei Dargaud. Es ist das erste Jahr, in dem sie keine Auftragsarbeiten machen muss, erzählt sie. Nur von Comics zu leben, sei aber tatsächlich nicht einfach: "Es ist ziemlich schwierig nur davon zu leben, ja."