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Benediktiner zu Eingriff in Grundrechte
"Mir fehlt das rechte Maß"

Der bekannte Benediktiner Notker Wolf warnt davor, dass die Gesellschaft in der Corona-Krise unmenschlich werde, ohne es zu bemerken. Menschen müssten aufgrund der staatlichen Vorgaben alleine sterben. "Ich frage mich, ob Minister überhaupt nachempfinden können, was das bedeutet", so Wolf.

Von Corinna Mühlstedt |
Notker Wolf beim Kongress filmtonart - Tag der Filmmusik zum Auftakt des 32. Filmfests München beim Bayerischen Rundfunk. München, 27.06.2014
Notker Wolf beim Kongress filmtonart Tag der Filmmusik zum Auftakt des 32 Filmfests München beim (imago / D. Bedrosian)
"Ich würde hoffen, dass der Exit,- der Ausstieg aus diesen Maßnahmen, die durch die Corona-Epidemie hervor gerufen worden sind, - diskutiert wird, und zwar nicht nur von einigen Leuten der Regierung, sondern dass es hier zu einem gesellschaftlichen Diskurs kommt. Das ist es, was wir brauchen. Demokratie lebt vom Diskurs."
Grundrechte dieser Art dürfen in Deutschland nicht ignoriert werden, mahnt Notker Wolf. Die Aggression des Corona-Virus sei fraglos ernst zu nehmen, Schutzmaßnahmen wichtig. Doch ihre Umsetzung gängle Bürger derzeit oft unnötig:
"Wenn ich nicht einmal mehr im Freien auf einer Bank ein Buch lesen darf, dann muss ich sagen: Hier sind Grenzen überschritten", betont der Benediktiner mit Blick auf einen Zwischenfall, der ihm dieser Tage berichtet wurde.
"Ich finde es sehr bedenklich, dass man diese Beschneidung der menschlichen, der individuellen und demokratischen Freiheiten soweit treibt. Ich habe die Sorge, dass hier übers Ziel hinaus geschossen wird. Mir fehlt die nötige Gelassenheit, auch das rechte Maß."
Was Gottesdienste von Konzerten unterscheidet
Eine Gesellschaft, die nur angstvoll an ihre Sicherheit denkt, läuft Gefahr, unmenschlich zu werden ohne es zu bemerken, kritisiert Notker Wolf. Zentrale ethische Werte bleiben auf der Strecke, so zum Beispiel der Wunsch nach einem menschenwürdigen Tod. In vielen Krankenhäusern oder Pflegeheimen können Patientenverfügungen nicht mehr respektiert werden - aufgrund von Sicherheitsverordnungen:
"Es ist sehr tragisch, dass es keine Sterbebegleitung gibt, dass Menschen völlig allein sterben müssen, auch dass die Angehörigen die Sterbenden nicht mehr besuchen können und nicht einmal zur Beerdigung fahren dürfen. Eine Reihe der Minister, ich frage mich, ob sie das überhaupt nachempfinden können, was das für die Menschen bedeutet. Ich denke, hier müsste man differenzieren und schauen, was möglich ist."
Ähnlich verhält es sich mit dem derzeitigen Verbot öffentlicher Gottesdienste. Nur digitale Angebote sind erlaubt, doch die kann nicht jeder nutzen. Eilanträge deutscher Gemeinden, an Ostern zumindest in kleinem Kreis und mit entsprechenden Sicherheitsvorkehrungen Gottesdienste feiern zu dürfen, wurden von Gerichten zurückgewiesen: Es handle sich um eine schwere "Einschränkung der Religionsfreiheit", räumten die Richter ein, man müsse ihre Berechtigung fortwährend "prüfen". Dennoch seien öffentliche Gottesdienste derzeit ebenso wie Konzerte verboten. Notker Wolf schüttelt den Kopf:
"Ich halte es für unmöglich, dass man Gottesdienste mit Konzerten vergleicht. Konzerte sind da für unsere ästhetischen Bedürfnisse, Gottesdienste bedeuten für den Gläubigen den Kontakt mit Gott. Das ist ein Lebenssinn. Und wenn der mir genommen wird in dieser kritischen Zeit… Es wäre sicher gut, wenn sich die Bischöfe nochmal zusammentäten. Hier müsste man schauen, ob nicht auch noch andere Wege gangbar wären. Wir brauchen da mehr Fantasie und Kreativität."
"Wir haben alle nichts zu sagen"
Dieser Tage äußerte sich auch der Deutsche Ethikrat besorgt und wies auf die zum Teil "dramatischen Nebenfolgen" staatlicher Sicherheitsmaßnahmen hin. Man solle konsequent hinterfragen, in welchem Umfang sie zur Bekämpfung des Corona-Virus "weiterhin erforderlich und angemessen sind". Eine "öffentliche Diskussion" sei nötig, so der Rat. Man müsse Grundwerte gegeneinander abwägen.
Coronavirus
Das sieht auch der Benediktiner Notker Wolf so: "Mein Problem besteht vor allem darin, dass der Bürger seiner Rechte und seiner Mündigkeit beraubt wird. Er wird bevormundet. Wir haben alle nichts zu sagen. Und das Schlimme dabei ist, dass wir uns auch entmündigen lassen. Es wäre gut, wenn wir das täten, was Frau Merkel am Anfang sagte, und unsere "Eigenverantwortung wahrnehmen" würden. Gehorsam ist gut, aber wenn er in Unterwürfigkeit abgleitet, dann zerstört er. Dann zerstören wir uns selber und auch die anderen. Ich würde mir mehr Mündigkeit, mehr Kreativität erwarten."
Nicht zuletzt gelte es, die fatalen Folgen zu bedenken, die der jetzige Lockdown weit über die Grenzen Deutschlands hinaus hat, meint der welterfahrene Benediktiner. Internationale Aufträge fallen aus, Millionen von Menschen verlieren ihre Arbeit und ihren Lebensunterhalt.
"Im Moment denken wir nur an uns. Vielleicht sind wir noch ein bisschen solidarisch, wenn wir Betten nach Italien liefern oder von dort ein paar Kranke aufnehmen bei uns zur Behandlung. Aber ich denke auch an die Flüchtlingslager. Was passiert dort? Wer denkt noch ein bisschen weiter: an die Kriege?"
UNO-Generalsekretär Antonio Guterres hat kürzlich einen weltweiten Waffenstillstand gefordert. Die Eindämmung des Corona-Virus müsse Vorrang haben vor politischen Machtkämpfen. Papst Franziskus, der Weltkirchenrat und andere schlossen sich dem Appell an. Sie forderten zudem die Aufhebung von Wirtschaftssanktionen, durch die Länder wie Syrien oder der Iran das Virus nicht wirkungsvoll bekämpfen könnten. Bei Politikern finden solche Aufrufe aber bislang kaum Gehör, bedauert Notker Wolf und mahnt: Kriege sind mindestens ebenso tödlich wie das Corona-Virus.
"Wir müssen weiter denken, an die vielen Kranken in den schwachen Ländern, die keine Medikamente bekommen. Unsere Aufgabe ist in erster Linie auch, Frieden zu schaffen. Denn nur in einem friedlichen Land wird das Leben für viele Menschen garantiert."
Die Politik darf sich heute nicht von Angst bestimmen lassen, sonst verliert sie das Wesentliche aus dem Blick, unterstreicht Wolf. Es sei höchste Zeit, angesichts der Corona-Krise die globale ethische Verantwortung jedes Einzelnen und jedes Landes neu zu durchdenken:
"Panik scheint mir nicht der richtige Ratgeber zu sein. Mir ist natürlich bewusst, dass eine Lösung nicht einfach ist, aber ich würde mir sehr wünschen, dass rasch über einen Exit nachgedacht wird, und zwar gemeinschaftlich, und dass man die Liebe zur Freiheit und zum Menschen durchspürt."