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Beobachten und beschreiben

Als Anne Zielke 2004 ihr literarisches Debüt vorlegt, schwelgten die Kritiken in Lobeshymnen. Denn das Buch "Arraia" überraschte nicht nur mit einer so abseitigen wie ungewöhnlichen Handlung, es betörte auch durch eine Novellen-Form, die sich die 1972 geborene Autorin für ihre Geschichte auserkoren hatte. Nun liegt von der Autorin, die sich zuerst als Journalistin einen Namen gemacht hat, ein neuer Band vor: "Die Frau, die vom Himmel fiel und andere wahre Geschichten".

Von Claudia Kramatschek | 22.07.2008
    Wie entstehen Geschichten, wie fangen sie an? Kommen sie aus dem Nichts? Man sitzt vielleicht im Zug, das Abteil ist leer, ein Fahrgast hat auf dem Sitz seine Zeitung liegen lassen. Es ist eine englische Zeitung. Irgendwo in der Mitte steht eine Meldung, dass in Russland Akten über ein Flugzeugunglück aufgetaucht sind, und dass es eine Frau gegeben hat, die einen Sturz aus großer Höhe überlebt hat. Ist das aber die Geschichte? Oder beginnt sie vielmehr mit einem Piloten, der morgens fast verschlafen hätte? Mit dem Leser, der auf eine Notiz stößt, die ihn so sehr interessiert, dass er Nachforschungen anstellt?

    In diesem Fall war der Leser eine Frau: Anne Zielke. Tatsächlich hat sie sich auf die Suche begeben nach jener Frau, die 1981 als Einzige den Absturz einer Passagiermaschine überlebt, die in 5220 Meter Höhe von einem Militärflugzeug gerammt wird. Anne Zielke trifft Larissa Sawitzkaja in Moskau - und schreibt ihr wunderbares Porträt "Die Frau, die vom Himmel fiel", das nun den Auftakt ihres neuen, gleichnamigen Buches bildet. Diesmal also keine ausgefeilte Fiktion, keine abseitige Tropenphantasie, wie sie in Zielkes literarischem Debüt, der Novelle Arraia, schillerte. Stattdessen Geschichten - hier in Form von Porträts und Reportagen - die betonen, ausnahmslos wahr zu sein, und mit denen Zielke zugleich den journalistischen Urgrund ihres Erzählens freilegt: beobachten und beschreiben.

    Unter Sawitskaja tut sich das Nichts auf. Es sind die Instinkte, die sie zwingen, die Hand ihres Mannes loszulassen und sich in den Mittelgang zu werfen; sie rutscht ein Stück weiter nach oben, ein Stück weiter weg vom Nichts. Dort verliert sie das Bewusstsein. Als sie wieder erwacht, fällt sie immer noch, sie hat keine Ahnung, wie lange schon, wie weit der Boden noch entfernt ist. Ihr Bein schmerzt. Und noch etwas ist anders. Etwas fehlt. Sie hört keine Schreie mehr, keine menschliche Stimme.

    Wie schon in Arraia, erweist sich Zielke auch hier als eine Könnerin der Inszenierung, die mit Gespür für Dramaturgie ihre Versatzstücke zu einem Ganzen komponiert: Hier die Fakten, denen man die Recherche anmerkt: dort die Empathie, mit der sie den Menschen gegenübertritt, deren Geschichte sie erzählt. Hier Distanz, dort Nähe - und all das verhandelt in einer Sprache, die klar und zurückgenommen zugleich ist, um dem Raum zu geben, was Zielke in allen sechs Geschichten umkreist: der Moment 'danach' - jener Moment, der eintritt, wenn eine unerhörte Begebenheit das Leben ihrer Protagonisten von einem Tag auf den anderen verändert. Sei das die erste Pille, die einen Londoner Clubgänger in die Drogenabhängigkeit und in die Nähe des Todes führen wird; sei das die Erkenntnis einer italienischen Familie, dass sie seit mehreren Generationen schon an einer genetisch bedingten und damit unheilbaren, sprich: tödlichen Schlaflosigkeit leidet. Oder ein kleiner, aber verdächtiger weißer Punkt am Herz eines Ungeborenen, der während einer Vorsorgeuntersuchung auf dem Bildschirm erscheint.

    Er müsse noch kurz mit dem Paar reden, sagt der Arzt. Er blättert in Listen, sein Blick wandert. 'Erfahrungswerte zeigen ...', beginnt er und reiht weitere Sätze mit 'man' und 'die Medizin' daran, bis er es endlich sagt. Ein weißer Punkt in der Herzgegend kann bedeuten, dass das Kind einen Herzklappenfehler hat. Und das wiederum kann bedeuten, dass es Trisomie 21 hat. 'Sie verstehen doch', sagt der Arzt, 'Down-Syndrom'.

    99 Prozent der Eltern, so klärt Zielke uns anhand von ernüchternden Zahlen auf, nehmen eine Abtreibung vor. Ohne Pathos oder Seelenkitsch führt sie in diesem Porträt mit dem Titel Weißer Punkt nicht nur den Seelenkonflikt von einzelnen Individuen vor. Es ist der eindringlichste Text, von untergründiger Bedrohung. Denn Zielke öffnet hier ihren Blick auf jene Krankheit, die sich Zivilisation zu nennen wagt und unter dem Deckmantel des Fortschritts und der Medizin ein Horrorszenarium erschaffen hat. Zu diesem Horrorszenarium zählen nicht nur Föten, die lebendig geboren aber nicht am Leben erhalten werden. Dazu zählen auch die Eiskinder der gleichnamigen Erzählung, die uns ins tiefreligiöse Amerika führt:

    Die Kinder kamen mit der Post. Das war an einem schönen, sonnigen Januartag vor zwei Jahren, und das Fahrzeug, das die Kleinen transportierte, war ein weißer Kleinbus mit einem orangefarbenen Schriftzug.

    Die Kinder: das sind Embryonen, die tiefgefroren eingelagert sind und darauf warten, aus dem ungeklärten Niemandsland zwischen Tod und Leben erweckt zu werden. Eine monströse Menschenerzeugungsindustrie, so Zielke, erfunden von und für Menschen, die nicht nur im Namen Gottes, sondern auch um jeden Preis Fortpflanzung wollen, und dafür die Zerstörung zugleich in Kauf nehmen.

    So geht es letztlich in diesen wahren Geschichten ums große Ganze: Um die Frage, in welcher Welt wir leben, wie diese beschaffen ist. Nicht alle sechs Geschichten halten dem thematischen wie stilistischen Furor der besten Texte dieser Bestandsaufnahme stand; vor allem das Schlussstück über das echte Girl von Ipanema wirkt dagegen ein wenig blass. Für das nächste Buch wünschen wir uns daher von Anne Zielke wieder viel fiebernde literarische Phantasie.