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Berg und Beck

Der großen Pariser Judenrazzia und damit der Deportation in die deutschen Konzentrationslager sind Robert Bober und seine Eltern 1942 entgangen - ein Glücksfall, den es zu bewältigen gilt. Joseph jedenfalls, der Erzähler seines zweiten Romans "Berg und Beck", fühlt sich von der Tatsache, überlebt zu haben, bedrückt, wenn nicht gar beschämt. Neuen Halt erhofft er sich Anfang der fünfziger Jahre durch seine Arbeit als Betreuer im jüdischen Waisenheim von Andrésy, unweit von Paris. Dazu der Autor:

Sabine Günther |
    "Das Buch ist gleichermaßen ein Lehrbuch. Die Hauptfigur Joseph, die den Roman erzählt, ist zwanzig Jahre alt. Über den Tag seiner Ankunft im Kinderheim sagt er: Ich wußte noch nicht, daß meine Anwesenheit hier auf dem Schloß mit diesen Kindern für mich wichtiger sein würde als für sie. Das heißt, auch er lernt, durch diese Kinder hindurch zu leben. "

    Im Waisenheim ist die Abwesenheit der Deportierten allgegenwärtig. Durch das Leid der Kinder wird das Unfaßbare der industriellen Judenvernichtung aber zumindest in seinen Folgen konkret: so wenn die kleine Laura ihrer Puppe mütterliche Falten aufmalt oder wenn der zehnjährige André seinem Onkel ins Auto scheißt, weil er erkunden will, wie weit die Liebe des selbsternannten Ersatzvaters reicht. Eine Rolle spielt das Waisenheim bereits in Robert Bobers vielbeachtetem Erstling "Was gibt´s Neues vom Krieg?" Da allerdings scheitert der Erzähler bei dem Versuch, die Geschichte des kleinen David aufzuschreiben, dessen Dasein sich nur noch um die vom Vater beim Abschied geschenkte Taschenuhr dreht. Der Grund für dieses Scheitern liegt auf der Hand: Denn Robert Bobers wirkungsvollste literarische Waffe gegen die Sentimentalität - sein subtiler Humor - ließ sich angesichts des traumatisierten Kindes nicht mehr einsetzen. Der Autor:

    "In "Was gibt´s Neues vom Krieg?" sind Humor und Spott sehr wichtig. Schon in der zweiten Zeile tritt Abramowicz auf, der in der Schneiderei Abramauschwitz genannt wird, weil er deportiert worden ist. Die Figuren müssen schon eine ganze Menge Humor aufbringen, um das zu wagen. Im ersten Buch ergibt sich der Humor aber von selbst. Denn es spielt kurz nach der Befreiung. Ich erinnere mich gut daran, ich war damals dreizehn. Es herrschte eine solche Euphorie, eine solche Lebenslust, für die kleinsten Dinge. Endlich konnte man wieder singen, tanzen, spielen, ins Kino gehen. Alles konnte man tun. Und man hat sich gesagt: so, das wäre geschafft, der Krieg ist zu Ende, das liegt hinter uns. Wir dachten, wir würden ihn vergessen. Und sieben Jahre später merkt man, daß er immer noch gegenwärtig ist. Und man kann nicht mehr auf dieselbe Weise scherzen, weil man in dem Moment begreift, daß es kein Vergessen geben wird. "

    Kein Lachen also über den Abgrund der mörderischen Vergangenheit hinweg!Und doch gibt es in Robert Bobers zweitem Roman "Berg und Beck" Szenen des Trostes, die zumindest ein brüchiges Glück für die Zukunft erhoffen lassen. Als wirksamster Katalysator erweist sich die Kunst: So läßt sich Joseph Berg von einem Film der Marx-Brothers dazu anregen, den sogenannten "Sonntags-kindern", die überhaupt keine Verwandten mehr haben, das Essen auf Rollschuhen zu servieren. Oder er weiht sie am Plattenspieler in seine Faszination für den Jazz der Schwarzen ein. Privat ist es nicht anders. Denn für Joseph gehört auch das Beschwören der eigenen Vorkriegserinnerungen zum Überlebensprogramm. Immer wieder schreibt er Briefe an seinen deportierten Schulfreund Henri Beck, Botschaften ins Nichts also, die Zeugnisse einer kindlich-verträumten Alltagsnormalität sind, die 1940 durch den Einmarsch der Wehrmacht gekappt wurde:

    "Es gibt einen Moment, wo das Schreiben das Erinnern nicht ersetzen, sondern fortsetzen soll. Es gibt die unbearbeitete Erinnerung, die so ist, wie sie ist, verbunden mit Vorstellungen, Ideen, Gefühlen. Aber man kann ein Gefühl nicht einfach so schriftlich mitteilen, das genügt nicht. Je zugespitzter eine Situation ist, desto schmerzhafter ist sie und desto mehr muß man das Pathos meiden. Und deshalb sollte man vielleicht so einfach wie möglich schreiben. "

    "Berg und Beck" ist ein Buch der leisen Töne, der kleinen, anrührenden Gesten. Wenn Robert Bober über den Betreuer Willi schreibt, daß sein sachlicher Ton ihn vor seinem Kummer zu schützen schien, dann trifft dies auch auf ihn selbst zu. Er klagt nicht an - er registriert, nicht kühl, sondern beherrscht, sich selbst beherrschend. Das gelingt ihm, indem er das erlebte Grauen durch Filterung abdämpft. Nicht der Leidtragende selbst erzählt, sondern ein dritter oder vierter über den Leidtragenden.

    "Von meinem ersten [Dokumentar-]Film an habe ich den Text zum Film schreiben wollen. Vor dem reinen schriftstellerischen Schreiben aber hatte ich große Angst, da ich nicht auf dem Gymnasium war. Das Bild, sagte ich mir, schützt mich vor den Unzulänglichkeiten meines Schreibens. Es war Georges Perec, der mir eines Tages, als ich ihm eine Geschichte erzählte, sagte: "Das muß du aufschreiben!" Ich habe ihm entgegnet: "Ich bin aber kein Schriftsteller. " Und er daraufhin: ‘Aber die Texte, die du für deine Filme schreibst, haben literarisches Gewicht. ’

    Meine Motivation zu schreiben - das habe ich erst hinterher begriffen, da ich das nicht gleichzeitig analysiere - liegt, nachdem ich so viele Filme im Team gemacht habe, sicher in der größeren Intimität des Schreibens. Man ist mit dem, was man zu erzählen hat, allein: mit einem weißen Blatt Papier, mit einem Bleistift oder einem Kugelschreiber. Ich kann das nur zu Hause - umgeben von meinen Sachen, meinen Büchern. Ich muß mich wohl fühlen. Und außerdem kann ich da um drei Uhr nachts arbeiten, oder sonntags, das ist völlig egal. Ich bin dann allein mit dem, was ich zu erzählen habe. "

    Auch in seinen Dokumentarfilmen hat Robert Bober die Folgen der Judenvernichtung thematisiert. Die Filmerfahrung erklärt sein Gespür für frappierende Bilder, die die Seelennot der Hinterbliebenen festschreiben und doch jede Pathetik gefrieren lassen. So türmt im Roman "Berg und Beck" ein Ehemaligerer des Waisenheims, der Dekorateur Nathan, einen Schuhhaufen im Schaufenster auf, um an die Selektierung in den Konzentrationslagern zu erinnern. Oder Simon schickt seinem fünf Jahre jüngeren Bruder einen Brief mit einem unbeschriebenen Blatt Papier, den dieser, da er sonst keine Verwandten mehr hat, jahrelang wie einen Schatz hütet.

    Robert Bobers symbolisches Bild für die Anmaßung, zu der Menschen fähig sind, ist das einer Krötenverbrennung durch Schüler. "Die Kröten", heißt es lapidar, "starben, weil sie Kröten waren. " Dazu der Autor:

    "Ich bin im November ´31 geboren worden. Als Hitler ´33 die Macht ergriff, sind wir nach Frankreich gekommen. Das bißchen Deutsch, das ich kann, habe ich also in Frankreich gelernt, nicht in Berlin, denn da habe ja noch nicht sprechen können. Meine Mutter sprach deutsch mit mir, mein Vater eher jiddisch. Französisch habe ich in der Schule gelernt - mit den anderen Kindern ging das schnell. Für mich waren die drei Sprachen eine einzige Sprache. Es war mir nicht bewußt, daß es drei waren. Und später hat dann das Französische natürlich nach und nach die Oberhand gewonnen. "

    Robert Bober schreibt in seinen Romanen über den Umgang mit Verlust und Vereinsamung, über die Suche traumatisierter Juden nach einem "Ort im Leben", nach Alltagsnormalität, nach Bindung und Ziel. Er schafft Betroffenheit durch Lebensgeschichten, die für sich stehen. Psychologische Deutungsmuster, wie sie im Roman "Berg und Beck" von den Waisenbetreuern herangezogen werden, können da nur Hilfskonstruktionen sein. Denn die Tatsachen sind zu monströs - so, wenn eines der Heimkinder tönt, daß es in Auschwitz "frei" gewesen sei, weil es dort "die Hunde auf die Juden hetzen [durfte]. " Überlebt hatte der Junge im Konzentrationslager als Schützling eines deutschen Offiziers und Päderasten.

    Robert Bober ist nicht sehr optimistisch, aber - so sagt er: "man sollte dennoch so tun als ob. " Das ist seine pädagogische Devise, sein trotziger Widerstand gegen die Hiobsbotschaften der Welt. So unprätentiös wie sein Auftreten sind auch seine Romane. Robert Bober trägt nicht die gewiefte Selbstsicherheit der in Frankreich so zahlreichen schreibenden Professoren zur Schau. Er ist Autodidakt. "Ein Buch", sagt er bescheiden, "kann anderen helfen". Vielleicht auch deshalb die Einfachheit, die Eingängigkeit seines Stils. Denn Robert Bober will nicht kunstvoll verschlüsseln, er will erzählen. Und er erzählt stark autobiographisch. Seiner Erfahrung als Waisenbetreuer, die er im Roman "Berg und Beck" verarbeitet hat, verdankt er da übrigens auch die Zusammenarbeit mit dem Filmregisseur François Truffaut. Als der mit Kindern drehte, die er nicht in den Griff bekam, erinnerte er sich an die bereits abgelehnte Bewerbung eines gewissen Robert Bober. Mit Erfolg. Aus dem Schneider und Kinderbetreuer wurde so ein in Frankreich renommierter Dokumentarfilmer. Und Mitte der siebziger Jahre war es dann der Romancier und Oulipist Georges Perec - auch er Sohn polnisch-jüdischer Emigranten -, der den Anstoß zu seiner späten Karriere als Schriftsteller gab.

    Wie ernst Robert Bober das Schreiben heute nimmt, zeigt allein die Tatsache, daß er mit Bleistift schreibt. Denn er weiß, daß es so "ganz und gar vorläufig ist". Und auch beim Kürzen ist er schonungslos: sein Roman "Berg und Beck" schrumpfte von anfangs 1000 auf 200 Seiten zusammen. "Bei der Montage", sagt Robert Bober, findet nämlich "das Entscheidende statt". In seinen Filmen wie in seinen Romanen dominiert so letztlich die Kunst des Unscheinbaren über die grellen, die vordergründigen Effekte.