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Berichte ohne Anklage

Mitten in der Diskussion um die Freilassung von RAF-Terroristen aus den Gefängnissen ist ein Buch erschienen, das die Geschichte des Terrors aus der Perspektive seiner Opfer schildert. Die Journalistin Anne Siemens hat das Gespräch mit den Opfern gesucht. Verblüffend reflektiert und überlegt sind deren Aussagen. Brigitte Baetz rezensiert.

    "Es ist gut, wenn immer wieder nach Erklärungen und nach Gründen gesucht wird, nach dem Warum des Terrors. Niemals aber dürfen bei der Suche nach Ursachen die Opfer aus dem Blickfeld geraten."

    Als Bundespräsident Johannes Rau im Oktober 2002 in Berlin der Opfer des RAF-Terrors gedachte, empfand Corinna Ponto zum ersten Mal die Genugtuung, dass die Taten der RAF als das bezeichnet wurden, was sie ihrer Meinung nach waren, nämlich als kriminelle Handlungen. Die Tochter des ermordeten Vorstandsvorsitzenden der Dresdner Bank, Jürgen Ponto, ist eine von neun Angehörigen und Opfern der RAF-Anschläge der 70er und 80er Jahre, die die Autorin Anne Siemens befragt hat und deren Schicksale sie schildert.

    "Wer einmal Opfer wurde, kann nie Ex-Opfer sein. Bei den Tätern wird heute doch vielfach von 'ehemaligen' Terroristen gesprochen. Dieses 'Ex' ist ein Privileg. Ich kenne keinen Ex-Mörder, auch keinen Ex-Kindesentführer. Ex-Terroristen nennen sie sich aber alle, die in der RAF waren und heute wieder in unserer Gesellschaft leben. Das 'Ex' verwandelt sozusagen ein Minusvorzeichen in ein mir unbekanntes, diffuses Plus. Hat denn ein ehemaliger Terrorist einen klugen Appell an die nächste Generation gerichtet? Oder hat irgendein Ex-Terrorist wahrnehmbar eine Antiterrorismus-Bewegung in Gang gebracht?"

    So wie Corinna Ponto reagieren die meisten Angehörigen der RAF-Opfer, wenn von der Begnadigung ehemaliger Terroristen die Rede ist. Keiner von ihnen nimmt den Tätern von einst wirklich ab, ihre Taten zu bereuen. Keiner allerdings zöge Befriedigung daraus, sie jenseits ihrer Haftzeit leiden zu lassen. Der Rechtsstaat wird von keinem der Angehörigen in Frage gestellt, im Gegenteil: Verblüffend reflektiert und überlegt sind die Aussagen, die Anne Siemens zusammengetragen hat. Umso selbstgerechter, kindischer und menschenverachtender, ja dümmer wirken dagegen die Rechtfertigungen der Terroristen. Ausführlich berichten die Angehörigen über die Herkunft ihrer Väter und Männer, über deren Lebenslust und über deren durchaus abgewogenes Urteil gegenüber der RAF, der sie zum Opfer fallen sollten. Hass gegenüber den Tätern spielt keine Rolle, eher sind es die immer noch ungeklärten Fragen, die ihre Gesprächspartner umtreiben, so die Autorin Anne Siemens:

    "Das darf man nicht vergessen: Ab 1985 sind alle Taten im Zusammenhang mit der RAF weitgehend ungeklärt, und es ist ja auch so, dass die RAF sich immer in Form von Kommandos zu ihren Taten bekannt hat. Wer im Einzelnen ausführend war oder auch die internen Prozesse in der Gruppe, zum Beispiel wie Opfer ausgewählt wurden oder ob es überhaupt eine Auseinandersetzung damit gab, wer diese Menschen wirklich waren, all das ist unbeantwortet."

    Anne Siemens erzählt die Geschichte des deutschen Terrorismus aus der Perspektive seiner Opfer. Sie gibt ihnen ein Gesicht und erzählt ihr Leben, wie es verlief, bevor sie zur Zielscheibe des Terrors wurden. Dies ist das Hauptverdienst dieses bewegenden Buches: Der Leser stellt fest, dass die RAF bevorzugt Menschen ermordet hat, die eben nicht ihrem verzerrten Bild von kapitalistischen Ausbeutern oder reaktionären Charaktermasken entsprachen, und dass der Kampf gegen den Staat nichts weiter war als Gewalt gegen Einzelpersonen. Dabei gehörte es zu den Besonderheiten der RAF, sich moralisch über die Ermordeten zu erheben und ihren Tod dadurch zu rechtfertigen, so Anne Siemens:

    "Es ist ja vielleicht auch eine der Heimtücken dieser Gruppe, nicht nur, in Anführungszeichen, nicht nur zu morden, sondern zugleich auch eine Schuldzuweisung auszusprechen. Selbst wenn die RAF Eichmann selbst gefunden hätte, hätte sie nicht das Recht gehabt, ihn in einen Wandschrank zu sperren und mit einem Genickschuss umzubringen."

    Zum Beispiel Andreas von Mirbach, Verteidigungsattache in der deutschen Botschaft in Schweden. Ein Berufssoldat, der gleichwohl seinem Sohn die Abneigung gegen Schusswaffen anerzog und seine Kinder früh über die Verbrechen des Nationalsozialismus aufklärte. Er wird zum ersten Opfer, als die RAF die Botschaft in Stockholm besetzt. Seine Witwe Christa erzählt:

    "Etwa eine Stunde lang hatte mein Mann über den Countdown seiner eigenen Erschießung zu verhandeln. Gegenüber den Polizisten musste er immer wieder auf das Ende des von der RAF an die Bundesregierung gestellten Ultimatums hinweisen. Als die Verhandlungen erfolglos blieben, wurde er nach dem letzten Wortwechsel mit der Polizei aus unmittelbarer Nähe von hinten mit fünf Schüssen in Kopf, Rücken, Becken und Beine niedergestreckt. Anschließend warfen die Terroristen den noch Lebenden mit dem Kopf voran die Treppe hinunter. Dort lag er, schwer röchelnd auf den Treppenstufen - einsam und im Niemandsland -, bis eine aus gesundheitlichen Gründen freigelassene Geisel die Nachricht in die Freiheit brachte, dass Andreas noch lebe. Nach langwierigen Verhandlungen mit den Terroristen wurde er nach circa einer Stunde von zwei schwedischen Beamten, die nur in Unterhosen gekleidet waren, geborgen."

    Nach von Mirbach, der, erst 44 Jahre alt, in der Klinik starb, wurde Botschaftsrat Heinz Hillegaart ermordet. Doch die Bundesregierung bleibt hart, will sich nicht erpressen lassen. In der Botschaft in Stockholm geht Sprengstoff in die Luft.

    Tagesschau-Bericht: "In Minuten stand der Gebäudeflügel, in dem sich die Terroristen mit den Geiseln verschanzt hatten, in Flammen. Der Botschafter sagte später aus, die Terroristen hätten die Sprengladungen in verschiedenen Räumen der Mission angebracht und nacheinander gezündet."

    Die blutige Geiselnahme von Stockholm, die Ermordung des Bankiers Jürgen Ponto in seinem eigenen Haus unter Mithilfe der Tochter seines besten Freundes, Geiselhaft und Tod Hanns Martin Schleyers, die entsetzlichen Tage in der entführten "Landshut" und der Mord am Politischen Direktor des Auswärtigen Amtes, Gerold von Braunmühl: Selbst wer die Fakten schon kannte und die RAF-Jahre bewusst miterlebt hat, wird sich den Gefühlen der Wut und Trauer ob der Brutalität und Menschenverachtung, die in diesem Buch geschildert wird, nicht entziehen können, und das, gerade weil die Angehörigen und die beiden Besatzungsmitglieder der "Landshut", die ebenfalls zu Wort kommen, erzählen ohne anzuklagen. Alle ihre Aussagen aber zeigen, dass eine Relativierung des RAF-Terrors, eine Beschönigung gar durch die modische Verklärung der Baader-Meinhof-Gruppe zu einer Vereinigung von Widerständlern gegen ein spießiges und korruptes System absolut haltlos ist.

    Anne Siemens: Für die RAF war er das System, für mich der Vater. Die andere Geschichte des deutschen Terrorismus
    Piper Verlag, München, 2007
    288 Seiten, 19,90 Euro