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Berichterstattung in der "Flüchtlingskrise"
"Reich an Perspektiven"

Umfangreicher als in allen anderen Ländern sei in deutschen Medien seit 2015 über Flüchtlinge und Migranten berichtet worden, sagte die Journalistik-Professorin Susanne Fengler im Dlf. Für ihre Untersuchung hat sie mehrere europäische Länder verglichen.

Susanne Fengler im Gespräch mit Henning Hübert | 26.08.2020
Mehrere Asylbewerber werden von Kamerateams und Fotografen umlagert.
Menschen in einer Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge werden von Kamerateams und Fotografen umlagert. (dpa/Felix Kästle)
Henning Hübert: Die Journalistik-Professorin Susanne Fengler ist Wissenschaftliche Leiterin des Erich-Brost-Instituts für internationalen Journalismus an der TU Dortmund. Von ihr kam Anfang des Jahres als Mitherausgeberin eine vergleichende Studie heraus, die besagt: Über Migration und Flucht wird - zusammen mit Ungarn - in keinem anderen EU-Land so intensiv berichtet wie in Deutschland. Der Auftrag für die Studie kam von der Otto-Brenner-Stiftung der Gewerkschaft IG-Metall. Verglichen wurden die Berichte aus Deutschland mit denen aus 16 weiteren Staaten. Kurz vor der Sendung habe ich Susanne Fengler nach der Art und Weise gefragt, wie in Deutschland über Flüchtlinge seit August 2015 berichtet wurde: Solche emotionalen Zugänge wie eben gehört – welche Lücke haben die denn geschlossen?
Susanne Fengler: Ich würde gar nicht sagen, dass die eine Lücke ausgeglichen haben. Ich würde sagen, dass die Berichterstattung in Deutschland sehr viel umfangreicher war als in allen anderen Ländern, wie Sie gerade schon herausgehoben haben, mit der Ausnahme Ungarn. Und weil sie sehr viel umfangreicher war, war sie natürlich auch sehr viel komplexer. Wir hatten auch einen deutlich anderen Fokus in der Berichterstattung, die wir exemplarisch analysiert haben. Wir müssen ja dazu sagen: Wir haben sechs ausgewählte Untersuchungswochen uns vorgeknöpft zwischen August 2015, also dem Startpunkt der sogenannten Flüchtlingskrise, und März 2018 – das war unser Schlusspunkt. Und hier haben wir natürlich auch nur einen Teil des ganz großen Spektrums analysieren können aus forschungsökonomischen Gründen. Aber wir sehen eben ganz klar in Deutschland, dass sich die Berichterstattung insofern unterscheidet, als dass es um Migration und Flucht ins eigene Land geht. Da sticht Deutschland zusammen mit Italien deutlich heraus. Das sind zwei Länder, in denen es wirklich darum geht, die Menschen, die auf der Flucht sind, die Migranten sind – die kommen nach Deutschland und der Fokus liegt auf dem Inland, und innerhalb der inländischen Berichterstattung gibt es auch noch mal ganz viele Unterschiede.
FAZ und die Süddeutsche Zeitung im Fokus
Hübert: Also blicken wird auf die Inlandsberichterstattung – quasi eine Spezialität für Deutschland. War sie denn nun einseitig oder überreich an Perspektiven?
Fengler: Ich würde im Vergleich auch mit den anderen Ländern, die wir untersucht haben, sagen, dass sie schon reich an Perspektiven war, weil wir zum Beispiel einen deutlichen Anteil auch an Bürgern und zivilgesellschaftlichen Akteuren hatten, die dort zu Wort gekommen sind. Die sind in anderen Ländern deutlich weniger stark oder teilweise gar nicht vorgekommen. Das spiegelt natürlich auch ein Stück diese "Willkommenskultur", die wir gerade am Anfang hatten; da war ja sehr viel zivilgesellschaftliches Engagement. Und das spiegelt sich eben auch in der Berichterstattung ganz deutlich wider. Dann gibt es zum Beispiel auch Fälle – wir hatten in Ungarn zwei Medien untersucht: eine staatsnahe, eine staatsferne Redaktion; und wir sehen eben auch, dass die eine ungarische Zeitung quasi ohne jeden Flüchtling oder Migranten als Akteur auskommt in dem ganzen Untersuchungszeitraum. Also, da sind wir sehr viel breiter aufgestellt. Wir sehen aber auch Unterschiede zwischen den beiden untersuchten Zeitungen…
Hübert: …das sind die FAZ und die Süddeutsche Zeitung bei ihnen ja gewesen.
Fengler: Genau. Also die Süddeutsche Zeitung hatte quantitativ auch noch mal deutlich stärker, also umfangreicher als die FAZ berichtet. Und es fällt auch auf, dass der Anteil der Berichterstattung, die sehr positiv mit dem Thema Flucht und Migration beschäftigt war, auch hier deutlich ausgeprägter war. Das ist ein Trend, den wir insgesamt für Westeuropa erkennen können. Da sehen wir deutliche Unterschiede, wie linksliberale Medien mit dem Thema umgehen, also da ist der Tenor deutlich stärker auf Hilfe und die Situation der Migranten und Flüchtlinge ausgelegt, während es in den konservativen Medien und den osteuropäischen Medien sehr viel stärker um Probleme mit Migranten und Flüchtlingen und um Proteste, Manifestationen dagegen geht.
Geflüchtete junge Männer sitzen wir einer Wand, an der "I want go to Germany" geschrieben steht.
Berichterstattung über Geflüchtete - Zwischen Nähe und Distanz
"Wir schaffen das" - Vor fünf Jahren prägte Angela Merkel diesen Satz, als täglich Tausende Menschen nach Deutschland kamen, um Asyl zu beantragen. In den Medien wurde umfassend berichtet - eine Herausforderung, dabei journalistische Distanz zu wahren.
Hübert: Frau Fengler, wenn ich in die Richtung fragen möchte jetzt, welchen Ausgleich denn solch einfühlsame Porträts schaffen. Reportagen, wie im Beitrag vorhin angesprochen, im Gegensatz zu Analysen, Berichten und Politikerstatements, möchte ich doch noch mal auf Claas Relotius kommen, der nun zum Beispiel mit seiner "Königskinder"-Reportage im "Spiegel" als Reporter – das war ja eine Märchenerzählung über ein Geschwisterpaar aus Syrien mit ihrer Fluchtgeschichte; das Paar gab es ja gar nicht. Glich Claas Relotius eine Art Defizit für Sie aus, das auch selbstgemacht war durch die Dominanz von Nicht-Beteiligten in Berichten über Flüchtlinge, eine Dominanz der Politik in der Mehrzahl der Artikel.
"Politische Perspektiven dominieren"
Fengler: Ja. Also, wir finden ganz klar, dass politische Perspektiven und Politiker als Akteure ganz klar die Berichterstattung dominieren; und Migranten und Flüchtlinge kommen in Deutschland noch stärker als in anderen Ländern, aber insgesamt auch sehr untergeordnet zu Wort, werden dort erwähnt. Das ist in den USA auch anders, die beziehen sehr viel stärker Migranten und Flüchtlinge in die Berichterstattung ein. Aber wir sehen eben auch, dass die Berichterstattung in vielen Fällen gar nicht so genau hinschaut. Also, in wirklich einem Bruchteil der Artikel erfahren wir überhaupt, aus welchen Ländern die Flüchtlinge und Migranten kommen; und das wäre natürlich ein wichtiger Punkt, um auch deren Kontext einschätzen zu können. Und auch wenn es um die Bezeichnung geht: Geht es um Flüchtlinge, geht es um Migranten? Da sind viele Artikel schwammig bis ungenau, und auch da, denke ich, haben wir ein Defizit, mehr Klarheit für den Leser zu schaffen oder für den Nutzer.
Hübert: Warum diese Unschärfe? was ist ihre Erklärung?
Fengler: Ich würde mir das so erklären, dass das Thema natürlich, wenn man es umfassend einschätzen möchte, auch einschätzen möchte: Wie steht es denn um die Fluchtursachen oder Migrationsursachen in den Herkunftsländern, was passiert wirklich in den Transitländern, dass dazu natürlich eigentlich auch ein umfangreiches Netz an Auslandskorrespondenten und ein sehr tiefes Verständnis der Situation vor Ort benötigt wird. Gerade wenn es natürlich um sich überschlagende Ereignisse geht, wie wir 2015 das natürlich gesehen haben, bleibt oft nicht viel Zeit; und auch diese Expertise muss ja erst mal erworben werden. Wir sehen zum Beispiel, dass im Verlauf der Zeit die Artikel deutlich klarer werden in der Unterscheidung zwischen Flüchtlingen und Migranten. Aber gerade am Anfang war eben auch das benötigte Wissen, um die Situation einschätzen zu können, offenbar noch nicht so stark ausgeprägt. Und nach wie vor bleibt es eine Herausforderung, wirklich die Situation auch der Flüchtlinge und Migranten in den Herkunftsländern einzuschätzen und was eben dort auch die konkreten Flucht- und Migrationsmotive sind.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.