Der große Saal der Urania ist gut gefüllt, über 400 Zuhörer sind gekommen. Und eines stellt der Moderator Peter Raue, renommierter Berliner Jurist und Kunstmäzen, von vorneherein klar:
"Worüber wir nicht reden wollen, ist die Frage: War es klug oder falsch, das Ende von Castorf zu beschließen. Und eigentlich auch nicht: War es klug oder falsch, Chris Dercon ans Haus zu holen. Sondern wir wollen eigentlich wissen: Was kommt jetzt, wie kann es weitergehen?"
Eine gefährliche Frage – vor allem, wenn sie direkt zu Saisonbeginn von einem bekennenden Freund der beiden Intendanten gestellt wird. Denn was macht ein neuer Chef, der die Stadt noch für sich gewinnen muss in so einer Situation? Werbung!
Politisches Autoren- und Ensembletheater versus Labor
Und so schafft es Oliver Reese, der von Frankfurt ans Berliner Ensemble wechselt, die Stars seines 30-köpfigen Schauspiel-Ensembles nicht ein- oder zweimal, sondern mindestens dreimal aufzuzählen - und sein komplettes Programm, zu dem immerhin 16 Premieren gehören, ausführlich vorzustellen, anzupreisen und zu verteidigen. Auch ganz ohne Angriff. Sein Konzept ist klar: Das Berliner Ensemble soll, in der Tradition von Brecht, wieder ein gegenwärtiges, politisches Autoren- und Ensembletheater werden, das seine Schauspieler fordert und die Fragen der Zeit behandelt.
Chris Dercon ist im ersten Werbeblock noch stark in der Defensive und steigt tatsächlich in den Wettstreit um die schiere Anzahl an Premieren in der kommenden Spielzeit ein:
"Im Gegensatz zu Oliver, das müssen wir akzeptieren, müssen wir bei Null anfangen. Zwölf ist etwas weniger als 16, aber ich schäme mich nicht zu sagen, dass wir das doch geschafft haben, zwölf eigene Neuproduktionen hier in Berlin an die Volksbühne zu bringen."
Sein Theater, so Dercon einmal mehr, sei ein Mehrspartentheater und ein Labor, das neue Formen ausprobieren wolle. Das aber, anders als das Berliner Ensemble unter Reese, der sich komplett der Gegenwart verschreibt, die Geschichte des Theaters bewahren möchte. Und: Dercon will ein Ensemble mit zwölf Mitgliedern aufbauen.
Weiterentwicklung oder Planbarkeit
Applaus vom Publikum, als Reese hineingrätscht:
"Ihre Mitarbeiterin und Marietta Piepenbrock hat gesagt in eurem gemeinsamen Interview, dass das Ensemble keine Vertragsgemeinschaft mehr sei, sondern eine ideelle Gemeinschaft. Und ich denke schon, dass das anders ist. Ich glaube, dass es wichtig ist, dass Schauspieler sich auch verlassen können auf feste Engagements."
Den Vorwurf, Dercon wolle gar kein festes Künstler-Team, kann er auch diesmal nicht entkräften. Sein Begriff von Ensemble bleibt schwammig:
"Wenn wir dem Theater eine Chance geben, um sich noch weiter zu entwickeln, als es schon ist, müssen wir auch die Frage stellen: Was könnte ein Ensemble in der Zukunft sein? Gibt es andere Möglichkeiten, um über Ensembles nachzudenken, über Verträge undsoweiter."
Ruf nach Klasse statt Output-Maschine
Diese Positionen der beiden Leiter sind natürlich hinlänglich bekannt. Und so charmant und publikumsnah Peter Raue auch moderiert – zu den großen, spannenden Fragen, in welche Richtung sich das Theater der Gegenwart entwickelt, was dabei verloren geht und gewonnen wird, dringt Raue kaum vor. Oder lässt die beiden viel zu schnell vom Haken und wieder die eigene Werbetrommel rühren.
Weil der intellektuelle Diskurs also dem Marketing weicht, rückt das Auftreten der neuen Chefs in den Vordergrund: Dercon entwickelt sich im Laufe der anderthalb Stunden zum souveränen Redner, der sich sowohl für Shakespeare als auch für Jelinek starkmacht und Reese vorwirft, das Theater im Zustand einer voll ökonomisierten Maschine belassen zu wollen, die immer mehr Output bringt.
Saisonstart mit Tanztag auf dem Tempelhofer Feld
Das klingt sogar überzeugend – nur muss sich Dercon, anders als Reese, schon an seiner ersten Premiere messen lassen: Einem Tanztag auf dem Tempelhofer Feld, der dann doch mehr Event und Volksfest war, als überzeugender programmatischer Auftakt.
Reese dagegen scheint über das eigene Programm kaum hinaus zu blicken und beantwortet grundsätzliche Fragen – zum Beispiel jene, ob das klassische Theaterstück womöglich ausgedient habe – mit immer floskelhafteren Verweisen auf den eigenen Spielplan.
Der Startschuss für die erste Saison ist gefallen – und deren Erfolg entscheidet sich, zum Glück, nicht auf dem Podium, nicht im Spielzeitheft, sondern auf der Bühne.