Die Bühne der Berliner Philharmonie ist in ein schummriges Halbdunkel getaucht. Rechts dirigiert der entspannt wie selten, ja geradezu beseligt wirkende Simon Rattle das klein besetzte, um historische Instrumente erweiterte Orchester. Links absolviert der Chor zu jedem Wort eine starr zeichenhafte Anrufungsgeste wie im Eurythmie-Unterricht: "Herr, unser Herrscher, dessen Ruhm in allen Landen herrlich ist!". Währenddessen verleihen die Solisten in der Mitte der leeren Bühne, beschienen vom kargen Licht einer einsam herab baumelnden Glühbirne, ihren Worten Nachdruck durch sehrend-mitleidsvolle Blicke, schmerzensreich geneigte Köpfe und demutsvolle Körperhaltungen. Eine "Ritualisierung" hat Peter Sellars sein semi-szenisches Konzept der "Johannes Passion" genannt - im gleichen Sinne hatten er und Rattle 2010 mit beinahe identischer musikalischer Besetzung schon die "Matthäus Passion" von aller Statik befreit - mit überwältigendem Publikumserfolg.
Die Bezeichnung "Ritualisierung" trifft den Charakter der Aufführung recht genau. Denn sie trägt Züge einer überkonfessionellen religiösen Feier, einer in ihren Mitteln stark stilisierten und ästhetisierten szenischen Andeutung des Leidensweges Christi. Die Aufführung steht irgendwo zwischen einem rein künstlerischen Ereignis und einer auf den kollektiven Glaubensvollzug hin ausgerichteten Veranstaltung. Ein gewagtes Unternehmen, das - ob es einem nun gefällt oder nicht - immerhin in sich stimmig aufgeht und das Publikum zweieinhalb Stunden lang in Atem hält.
Die Botschaft, die vermittelt wird, ist die eines passionierten Mitleidens, das vom Szenischen bis in die feinsten Fasern der musikalischen Umsetzung hinein, ja sogar auch über die Gestensprache und die Mimik des Dirigenten konsequent vermittelt wird. Wenn Camilla Tilling mit ergreifend klarem Timbre in der letzten Arie des Soprans den Tod Jesu betrauert, dann faltet auch Simon Rattle voller Andacht die Hände wie zum Gebet. Mark Padmore als Evangelist steht mitnichten nur kommentierend und berichtend außerhalb des Geschehens, sondern er nimmt sich vielmehr als ein großer Tröster aller anderen Figuren an. Er ist der Dreh- und Angelpunkt dieser Bach-Deutung: die Gestalt gewordene Barmherzigkeit. Mit seinem geradezu instrumental rein geführten, gelegentlich in die Kopfstimme wechselnden Tenor, verwandelt Padmore die Rezitative in dramatisch ausgestaltete Höhepunkte der Komposition.
Menschlichkeit verleiht auch der großartige Christian Gerharer mit warmem Baritontimbre den Partien des Pilatus, während die hochschwangere, furios intensiv singende Mezzosopranistin Magdalena Kozená im sündig roten Kleid der Maria Magdalena sich mit den Tiefen ihrer Arien etwas schwertut. Roderick Williams ist der baritonal ansprechende und vorzüglich textverständliche Christus. Nur Topi Lehitipuu fügt sich mit seinem vibratoreichen, etwas unausgeglichenem Timbre in den Tenorarien nicht ganz in dieses insgesamt doch eher intime Gesangsensemble.
Der eigentliche Hauptakteur dieses Abends ist, neben Rattles Philharmonikern und den vorzüglichen Instrumentalisten der Da-caccia- und D'amore-Oboen sowie der Violen d'amore und der Viola da gamba, ohnehin der fabelhafte Rundfunkchor Berlin. So differenziert, präzise und räumlich aufgefächert wie in dieser Aufführung hört man die zwischen Hass, Anteilnahme und Gläubigkeit zerrissenen Chorpartien des Werks selten. Rattles auf ein Äußerstes an Verfeinerung und Subtilität zielende Interpretation mit den Philharmonikern dagegen entgeht nicht überall der Gefahr einer Konturlosigkeit. Die über alles regierende Gefühlsästhetik des Mitleidens wirkt mitunter auch eigentümlich blass und leidenschaftslos. Das Experiment aber ist es wert.