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Berliner Schaubühne
Poetischer Zauber am Werk

Wajdi Mouawads Stück "Sœurs" lässt beim F.I.N.D. Festival für neue Dramatik an der Berliner Schaubühne wieder Hoffnung aufkeimen für die Überwindung innerer Kriegszustände, findet unserer Kritiker.

Von Eberhard Spreng | 22.04.2015
    Geneviève Bergeron ist mit ihrem Wagen auf der Autobahn unterwegs und grölt einen Chanson. Sie träumt sich in die Rolle der Ginette Reno, einer frankokanadischen Schlagersängerin. Es schneit und die kurze Strecke nach Ottawa zu einer Vorlesung zieht sich hin. Die 50-jährige alleinstehende Frau ist Expertin für Völkerkonflikte und soll demnächst nach Mali reisen, um dort einen blutigen Konflikt lösen zu helfen. Wenige Stunden später hat sie eine niederschmetternde Erfahrung hinter sich: Völlig desinteressierte Studenten, die anschließend nichts vom syrischen Spezialitäten-Buffet probieren wollten, weil ihnen das alles zu scharf ist. Geneviève Bergeron weiß: Wenn das die künftigen Konflikt- und Kulturvermittler sind, dann steht es schlecht um den Weltfrieden.
    Das Vorspiel findet auf der Vorderbühne statt vor zwei schwarzen Paneelen, auf die Videoprojektionen nur eben Konturen werfen. Nun aber, da die genervte Juristin witterungsbedingt in Ottawa übernachten muss, öffnen sich diese Wände zu einem modernen Hotelzimmer ohne elektrische Schalter. Sprachgesteuert gehen hier das Licht und der Fernseher an und aus und auch der interaktive Kühlschrank erweist sich als äußerst eigenwilliger Dienstleister. Was Geneviève Bergeron aber in einer Folge burlesker Komplikationen am meisten nervt, ist, dass sie nur gut hundert Kilometer von Montréal entfernt permanent in Englisch angesprochen wird und keinerlei französische Sprachsteuerung möglich ist. Sie beklagt sich deswegen bei einer Hotelmanagerin.
    "Non, je ne m'appelle pas Djenevivi Burger-On, mais Genevieve Bergeron. Non, il n'y a pas de Burger la-dans. Mais oui, j'en fais une affaire personnel, Madame. Mon nom Y'a pas plus personnel."
    Die Diskriminierung des Französischen ist in Kanada ein Politikum, überhaupt nicht verfassungskonform und reizt die Juristin letztlich zu einer gewaltigen Zerstörungsorgie. Sie zerfetzt die Tapeten, zerreißt die Kissen und gießt Getränke über der Einrichtung aus. Während sie eine Dose nach der anderen entnimmt, überschlägt sich die Automatenstimme aus dem Kühlschrank geradezu bei der Aufzählung der Beträge für die Hotelrechnung. Dann verschwindet die Akteurin zwischen den Resten der Matratze und dem Bettgestell.
    Poetische Grenzüberschreitung
    Nun beginnt ein zweites Solo in diesem Stück für zwei Frauen an den Schnittpunkten der Lebenskrisen. Ließ sich Wajdi Mouawad vor allem für den ersten Teil von der Schauspielerin Annick Bergeron inspirieren, die hier eine Figur namens Geneviève Bergeron spielt, so lässt er nun in gewissem Sinne seine Schwester auftreten, die hier Leyla Bintwarda heißt. Sie ist Versicherungs-Sachverständige und nimmt in dem verwüsteten Hotelzimmer den mutwillig angerichteten Schaden auf. In diesem Zimmer, das an Beirut im Bürgerkrieg erinnert, führt sie ein Telefongespräch mit ihrem libanesischen Vater, mit dem sie einst aus der Bürgerkriegsstadt nach Kanada floh. Dieser ist von seinen Kriegserfahrungen zutiefst traumatisiert und klammert sich an seine Tochter, die sich mit dem westlichen Lebensstil arrangieren möchte. Eine symbiotische Beziehung voller Abhängigkeiten. Auch diese Frau spielt die frankokanadische Schauspielerin Annick Bergeron mit umwerfendem Elan.
    Wo Geneviève sich in der Unabhängigkeit ihres internationalen Singledaseins Freiheit verspricht und sich ihre Mutter vom Leib hält, versucht Leila die divergierenden Bedürfnisse ihrer Restfamilien zu vermitteln. Beide scheitern und beide finden nur über eine poetische Rückerinnerung in verschüttete Bereiche der Kindheit zu einem neuen Einverständnis mit ihrem Leben. Der Autor lässt nun den Lärm und die Prosa der Welt hinter sich und schlägt lyrische, poetische Töne an. Möglich wird dies aber erst, nachdem Leila auf dem zurückgelassenen Handy der Juristin ein Gespräch annimmt und mit Genevièves vorwurfsvoller Mutter ein unendlich einfühlsames und geduldiges Gespräch führt. Leila, so wird in dieser Szene deutlich, ist die bessere Konfliktmoderatorin.
    Trotz mancher etwas mutwilliger Findungen des inszenierenden Autors ist hier im Dienst der Spiegelungen und seelischen Transformationen ein poetischer Zauber am Werk, ein melodramatischer Schmelz und der Charme eines modernen Märchens. Nach "The Civil Wars", dem Start dieses FIND Festivals an der Schaubühne mit Milo Raus pessimistisch verdüstertem Kehraus der abendländischen Kultur lässt Mouawads poetische Grenzüberschreitung wieder Hoffnung aufkeimen für die Überwindung innerer Kriegszustände.