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Berliner Theatertreffen
"Wir stecken bis zum Hals im Kapitalismus"

Die zehn bemerkenswertesten deutschsprachigen Theaterinszenierungen einer Saison werden einmal im Jahr in die Hauptstadt eingeladen – zum Berliner Theatertreffen. Bis zum 18. Mai werden die Stücke dort auf die Bühne gebracht. Mit dabei: "Zement" von Heiner Müller, inszeniert vom mittlerweile verstorbenen Dimiter Gotscheff.

Von Karin Fischer | 06.05.2014
    Das Theatertreffen in Berlin findet bis zum 18. Mai statt
    Das Theatertreffen in Berlin findet bis zum 18. Mai statt (picture-alliance / dpa / Jens Kalaene)
    Die Rolle als Außenseiter-Regisseur spielt Dimiter Gotscheff auch im Film seines bulgarischen Landsmanns und Freundes Ivan Panteleev. Ungesprächig, aber auch offen, die wenigen Sätze in Stein gemeißelt wie die vielen Falten in Gotscheffs Gesicht. Natürlich ist auch seine "Theaterfamilie" dabei; Samuel Finzi entpuppt sich als begabter Schlagzeuger, und von Josef Bierbichler heißt es, er habe Gotscheffs heimlichen Wunsch, selbst zu spielen, aus dem Kantinendunkel ans Licht geholt. Theater, so wird deutlich, das Spiel, entsteht aus einer übergroßen ungestillten Sehnsucht – nach sich selbst und dem Anderen.
    Der Film, der für das Bulgarische Fernsehen gedreht wurde und damals niemanden in der ARD interessierte, findet jetzt beim Theatertreffen sein Publikum und liegt auch einer Gottscheff-Sonderausgabe des Magazins "Theater der Zeit" bei. Die klugen Inszenierungen der vergangenen Jahre sind auf Monitoren im Haus der Berliner Festspiele wieder zu sehen, wie der Salzburger "Tartuffe" mit der berühmten Konfetti-Kanonade von Kathrin Brack; andere Stücke, wie die "Perser" von 2006, werden noch mal am Deutschen Theater gezeigt. Immer in den Inszenierungen dabei: Das Glück der Verzweiflung, der Mut vor dem Abgrund, die Lust am Untergang, die Komödie in der Katastrophe.
    Der Regisseur Dimiter Gotscheff wurde durch Shakespeare und Heiner Müller geprägt
    Der Regisseur Dimiter Gotscheff wurde durch Shakespeare und Heiner Müller geprägt (picture alliance / dpa / Alina Novopashina)
    "Zement" zur Eröffnung
    Das letzte Begriffspaar spielte überhaupt eine große Rolle in den ersten Tagen in Berlin. Gotscheffs letzte Inszenierung, "Zement" vom Münchner Residenztheater eröffnete das Theaterfest. Inmitten einer Gesellschaft staubgrauer Lemuren – der Chor ist auch das depravierte Volk – werden die Kosten der Revolution offenbar. Die Träume vom Aufbau des Sozialismus zerschellen: Die Gleichberechtigung an der privaten Begrenztheit des Einzelnen, die Menschlichkeit an Partei-Gesetzen. "Wir stecken bis zum Hals im Kapitalismus." So mythologisch aufgeladen der Text von Heiner Müller daher kommt, so erschreckend nah ist er auch an den katastrophischen Umstürzen von heute.
    Die Vervielfältigung von Identitäten
    Sind die Räder zu groß, die die kleinen Menschen drehen wollen? In Karin Henkels Verwechslungs-Spaß "Amphitryon und sein Doppelgänger" nach Heinrich von Kleist wird in altmodischem Ambiente und Outfit ein sehr zeitgenössisches Problem verhandelt, die Vervielfältigung von Identitäten im Zeitalter von social media. Das Privileg der Götter – sich kurz mal als wer anders zu präsentieren – kann heute jeder haben. Und selbst die Erschleichung von Beischlaf ist dabei weniger weit hergeholt als gedacht. Kleist spielt hier jenseits der komödiantisch geglückten Inszenierung vor traurig ernstem Hintergrund.
    Die Aktualität von Theater hob schon Alexander Kluge in seiner Eröffnungsrede hervor. Das Wichtigste dabei heute: die Differenz, die Theater zur Wirklichkeit hat und schafft, auch zur medialen:
    "Es gab im Zeitalter der Aufklärung Theater, die waren so wichtig wie Parlamente. Der Kokon der Aktualität, in dem wir uns gemeinsam mit den Medien und der Tagespolitik einspinnen, ist nicht ein Bild unserer realen Gegenwart. Ich behaupte nicht, dass das Theater hierzu bereits die Gegenöffentlichkeit bildet. Aber das Theater, wenn es gelingt, hat einen anderen Erzählfluss. In dem Stück, das Sie nachher sehen, sind alle Abgründe einer Gegenwart geöffnet, bis hin zu Medea. Aber auch bis zu einem verloren gegangenen Prozess der Revolution. Alles dies zusammen ist wirklich. Das macht das Theater zu einem natürlichen Ort, an dem Trauerarbeit stattfinden kann."
    Den Gegenentwurf liefern dabei auch junge Regisseure wie Robert Borgmann, der fürs Schauspiel Stuttgart einen"Onkel Wanja" inszenierte, der das ätzende Gift der Depression literweise verstreute, gleichzeitig aber durch phantastische Affekte - Slow-Motion und Show-Down inclusive - und poetische Momente abfederte. Neben tollen Schauspielern wie Peter Kurth und Thomas Lawinky spielt die junge Katharina Knap die Sonja, eine Entdeckung in Berlin. Sie ist die aufregendste Empfehlung der ersten Tage - für den Alfred-Kerr-Darstellerpreis, der zum 20. Mal zum Ende des Theatertreffens vergeben wird.