Was kann menschlicher sein als all das, was hier geschieht und für den Menschen getan wird? So dient der 13. August wahrer Menschlichkeit.
War also früher, in der heimeligen DDR, doch alles besser? Nein, sagt der Leipziger Kabarettist Bernd-Lutz Lange. Von nostalgisch-wehleidigen Rückblicken auf die angeblich gute alte Zeit im Sozialismus ist er nicht sonderlich angetan. Ebenso natürlich auch nicht von einer pauschalen Verurteilung:
Es war unser Leben. Wir können unser Leben nicht wegschmeißen, weil es in der beknackten DDR war. Aber wenn jetzt teilweise eine Verklärung einsetzt: Das war ja alles nicht so schlimm. Oder damals war’s: Der Hitler hat die Autobahnen gebaut, und jetzt gab es eben Kindergarten und Arbeit für alle, also dann muss man immer daran denken, womit wir das bezahlt haben. Die Leute vergessen eben sehr schnell.
Mit seinem neuen Buch "Mauer, Jeans und Prager Frühling" will Bernd-Lutz Lange folglich erinnern. Erinnern an das Leben in einer miefigen und alles andere als freigeistigen DDR. Frisch eingemauert und – so die Worte des Kabarettisten – kollektiv zum Stubenarrest verurteilt. Alltag im Hinterland einer rigoros dicht gemachten Grenze, tagein, tagaus überwacht von den Spitzeln der Staatssicherheit. Auf der einen Seite die pure Repression, zum Beispiel gegen junge Menschen aus Leipzig, die Ende Oktober 1965 gegen das Verbot etlicher Beatbands protestieren wollten. Auf der anderen Seite aber auch das Irgendwie-Zurecht-Wursteln der Generation des Autors, die Träume und Sehnsüchte der damals Jugendlichen im Osten. Mit der aufgehenden Sonne auf dem blauen FDJ-Hemd hatten die freilich wenig zu tun. Vielmehr wollte man all jenes, was im Sinne der Partei einen unverschämt-dekadenten Beigeschmack trug: Beat-Schallplatten, Bücher von Böll bis Orwell. Und natürlich Jeans:
Ich verdanke meine Jeans einer verloren geglaubten Patentante. Und ich muss sagen – das kann sich Westen niemand vorstellen –, das war für uns keine Hose. Das war für uns etwas Exotisches. Das leuchtete richtig. Und der Stoff, der duftete. Bei uns diese einzelne Jeans auf dem Tisch, die glänzte wie Gold.
Wer das Glück des Autors nicht teilen durfte und nicht von der Westverwandtschaft mit dem blauen Beinkleid beschenkt wurde, der half sich auf anderem Wege weiter. Zum Beispiel die blaue Arbeiterhose aus dem Berufsbekleidungsladen, von Mutti umgenäht und vom Vater an der sozialistischen Kombinatsstanze mit richtigen Nieten versehen. Sie war ein würdiger Ersatz für das Original, erklärt Bernd-Lutz Lange seinen Lesern. Zugleich zeugte sie vom beinah unendlichen Improvisationstalent des soeben volljährig gewordenen DDR-Bürgers – eine Eigenschaft, für die sich etliche Belege in Langes Buch finden lassen. Da ist etwa die Beschaffung von Giftschrank-Literatur während der Buchmessen in Leipzig, da ist das Herumkreisen der erbeuteten Taschenbücher in den Kaffeehäusern der Stadt: kollektive Sartre-Lektüre unter dem Konterfei des Staatsratsvorsitzenden.
Die hundert Leute hätten sich auf der Straße nie zusammenfinden können, das wäre sofort Zusammenrottung gewesen. Aber im Kaffeehaus konnte uns niemand etwas anhaben. Das war unsere tägliche Demo. Und da hing zur Absicherung der privaten Besitzer auch auf der Art-Deko-Stoff-Spannung – das ist absurd –, im absolut bürgerlichen Milieu hing dort auch ein Bild von Walter Ulbricht. Und wir haben dann immer solche Witzchen gemacht, dass wir dann eben gesagt haben: Was, die Kneipe gehört dem auch? Oder wir haben dann im Bierglas, wenn es frisch gezapft war, das Kinn rein gestopft, dann hatten wir so einen weißen Bart: ,Das ist eine gute Sache, ja.’ Und immer Ulbricht unentwegt nachgemacht.
Die Stasi führte Buch, trocken und kommentarlos. In vielen Nischen der DDR war der spitzbärtige Genosse Ulbricht zwar eine Witzfigur, der realsozialistische Alltag längst Thema für spitzzüngige Kommentare im vertrauten Kreis. Doch längst nicht immer ging es so glimpflich zu wie in den Kaffeehäusern, in denen Bernd-Lutz Lange als Student umhertingelte. Er berichtet von Peter Sodanns Leipziger Kabarett-Truppe "Rat der Spötter", deren Mitglieder 1961 wegen angeblich "feindlicher Hetze" ein Dreivierteljahr lang in U-Haft gesteckt wurden. Oder von den am eigenen Leib erfahrenen Querelen, die eines der bewegendsten Kapitel seines Erinnerungsbuches bestimmen: 1968, wenige Tage nach der Niederschlagung des Prager Frühlings, lief Bernd-Lutz Lange zu später Stunde durch Leipzig und schrieb mit Kreide den Namen "Dubček" an die Häuserwand. Nicht lange dauerte es, da fand er sich auf dem Volkspolizei-Kreisamt der Stadt wieder.
Ich habe ja nicht einmal geschrieben: Nieder mit der DDR. Ich habe ja nur ,Dubček’ geschrieben. Das war ja durchaus ein Wort, das ja in den Zeitungen dort stand. Aber das hat alles gereicht, weil man natürlich wusste, warum ich das anschreibe. Da war das sofort Staatsverleumdung.
Penibel verzeichnen die Stasi-Akten des Autors die Höhe des Schriftzugs und die Größenunterschiede zwischen dem ersten und dem letzten Buchstaben. Selbst die Tatwaffe, – Zitat – "ein Stück weiße Kreide in der Größe von ca. 5 cm", wurde dem Dossier angeheftet. Heute mag dieser Dokumentationswahn belustigend wirken. Damals war er verbunden mit dem Gefühl von Ohnmacht und Einschüchterung:
Was ich zurückbehalten habe, ist eben viel Angst. Über lange Jahre, weil ich immer dachte: Sie kommen wieder. Und sie wollten ja, dass ich für sie arbeite, und ich habe immer gesagt, nein, ich mach das nicht, und habe mich dagegen gestellt und habe immer im Hinterkopf gehabt: Irgendwann kommen die wieder. Die hatten mir ja drei Jahre Knast angedroht, und das war ja damals auch alles möglich. Und so blieb auf lange Zeit die Angst, irgendwann kommen die wieder und sagen: also entweder – oder.
Vor diese Entscheidung gestellt wurde DDR-Bürger Bernd-Lutz Lange nicht noch einmal. Vorsorglich aber ließ man den aufmüpfigen Kabarettisten erst einmal nicht mehr nach Prag fahren. Nur wenige Wochen vor dem Einmarsch der Sowjets im August 68 war er noch in der Stadt an der Moldau, saß auf der Karlsbrücke und genoss die größere politische Offenheit im Vergleich zum deutschen demokratischen Heimatland. Wer Langes Erinnerungen an die sechziger Jahre liest, gewinnt ein eindrückliches Bild von der geistigen Welt in den liberalen Bruderstaaten der DDR, neben der damaligen Tschechoslowakei auch Ungarn und Polen.
Dort haben wir ganz anders gelebt irgendwie. Das war dort immer irgendwo das Gefühl, hier kann man sich mehr leisten, hier kann man viel mehr machen. Da gab es überall Jazz-Klubs, und da gab es diese Leseklubs. Das war für mich unvorstellbar, als ich das erstemal in Bydgoszcz, früher Bromberg, von einem Freund in einen Leseklub geführt wurde, und er sagte: Da vorne kannst du dir den Spiegel holen. – Das kann nicht sein. – Ja. Du musst bloß im Austausch für die Zeit des Lesens deinen Ausweis hinterlegen bei der Aufsicht. Da gab ich also meinen Personalausweis der Deutschen Demokratischen Republik im Austausch für einen Spiegel. Und da habe ich gedacht: Wenn das mein ABV wüsste, was ich hier mache.
Umso größer der Schock, als plötzlich die sowjetischen Panzer alle demokratischen Reformversuche der Regierung Dubček über den Haufen rollten. Detailliert schildert Bernd-Lutz Lange den 21. August 1968, den er in Leipzig erlebte. Selbst der Name der "Aufbau"-Tombola, auf deren Dach ein Lautsprecher des Stadtfunks die militärische "Hilfe" für das tschechoslowakische Brudervolk vermeldete, ist ihm nicht entgangen. Und auch nicht das Gefühl der Lähmung, das Lange drei Jahre später, bei seiner ersten Prag-Tour, nach dem verzweifelten Dubček-Schriftzug beschlich.
In einem Antiquariat, in einem hinteren Raum, da lag ein bärtiger Mann, von vielleicht dreißig Jahren. Der lag da während der Arbeitszeit auf dem Tisch und schlief. Und das war garantiert auch einer von der Uni. Da mussten so viele Wissenschaftler, Politiker irgendwo eine Arbeit finden. Teilweise sogar in der Straßenreinigung. Und das war für mich ein Symbol. Ein Intellektueller, fix und fertig, liegt dort im Antiquariat während der Arbeitszeit und schläft. Das Land war in eine Lähmung, in einen tiefen Schlaf gefallen.
Mit dem gewaltsamen Ende des Prager Frühlings schließt das zweite Erinnerungsbuch von Bernd-Lutz Lange. Ein weiteres, so betont der sächsische Kabarettspieler, soll es nicht geben. Wie dem auch immer sei, mit "Mauer, Jeans und Prager Frühling" hat Bernd-Lutz Lange eine spannende Geschichte seiner Jugend geschrieben. Eine Jugend in der ollen und engstirnigen DDR, eine Zeit, die zugleich aber Spaß machen konnte und mehr als bloß grauer, trister und stumpfer Sozialismus gewesen ist. Auf der anderen Seite aber auch eine Zeit, von der man nicht nostalgisch sagen sollte: Da war doch eh alles besser.
Bernd-Lutz Lange: "Mauer, Jeans und Prager Frühling". Erschienen im Gustav Kiepenheuer Verlag Leipzig, 342 Seiten mit 46 Abbildungen zum Preis von 17 Euro und 90 Cent.