Montag, 29. April 2024

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Bernd Sösemann (Hrsg.): Der Nationalsozialismus und die deutsche Gesellschaft.

Dass die deutsche Gesellschaft sich nicht vom Schatten ihrer Geschichte lösen kann, ist durch die öffentlichen Debatten der letzten Wochen so deutlich wie lange nicht mehr geworden. Welche Position man auch immer selbst in dieser Diskussion vertreten mag - ohne fundierte historische Kenntnisse über die NS-Zeit fehlt ihr das Fundament. Um zur kompetenten Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus nicht nur im historischen Seminar, sondern auch in einer breiteren Öffentlichkeit anzuregen, hat der Berliner Kommunikationshistoriker Bernd Sösemann vor einem Jahr eine entsprechende Vortragsreihe veranstaltet. 18 Historiker, Politologen, Literaturwissenschaftler und Soziologen stellten damals ihre Forschungen einem großen Publikum vor – mit solchem Erfolg, dass ihre Vorträge nun in Buchform veröffentlicht wurden. Es trägt den Titel "Der Nationalsozialismus und die deutsche Gesellschaft", will keine Darstellung für den akademischen Gebrauch sein und richtet sich folglich an einen breiten Leserkreis.

Niels Beintker | 24.06.2002
    Berlin, am Abend des 30. Januar 1933. Marschmusik schallt über die erleuchteten Straßen der Reichshauptstadt, Menschenmassen verkünden grölend den Sieg einer vermeintlich neuen Zeit. Doch was an diesem Tag mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler und einer rauschhaften Fackelorgie begann, führte nicht in eine strahlend-helle Zukunft. Es war die amtliche Geburtsstunde einer zutiefst Menschen verachtenden Diktatur, der Aufbruch in ein Reich von Terror, Krieg und Vernichtung. Die unvorstellbaren Verbrechen der Jahre 1933 bis 45 verfolgen die deutsche Gesellschaft bis heute. Bernd Sösemann, Professor für Kommunikationsgeschichte in Berlin:

    Ich halte den Nationalsozialismus für ein Zentralereignis der jüngeren deutschen Geschichte. Es ist nicht nur der Erinnerungsort und es ist selbstverständlich auch nicht der alleinige Bezugspunkt für unsere deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert. Aber er hat so viele Probleme auf die Tagesordnung gebracht, hat die deutsche Öffentlichkeit und das Ausland in einem Maß herausgefordert durch Tod, durch Vernichtung, durch Krieg, aber auch durch eine moderne Art, Politik in Massengesellschaften zu veranstalten, dass wir gut daran tun, von Zeit zu Zeit in unserer Forschung einzuhalten und einen Überblick zu formulieren.

    Unter dem Titel "Der Nationalsozialismus und die deutsche Gesellschaft" hat Sösemann einen solchen Forschungsüberblick für ein breites Publikum veröffentlicht. Gemeinsam mit 17 Autoren – unter ihnen die renommierten Historiker Wolfgang Benz, Jürgen Kocka und Wolfgang J. Mommsen – untersucht der Berliner Kommunikationsforscher die wichtigsten Kapitel der nationalsozialistischen Diktatur. Dazu gehören die zentralen Themen Machtergreifung und Gleichschaltung, Judenvernichtung, Widerstand und Wirtschaftspolitik. Doch auch spezielle Fragestellungen wie die Propaganda, der Vergleich der europäischen Diktaturen im 20. Jahrhundert und die Rolle der Schriftsteller im Exil werden in den einzelnen Essays behandelt. Die Entstehungsgeschichte des Dritten Reiches wird nicht ausschließlich in ihrer politischen Dimension geschildert und auf die Folgen des Versailler Friedens, den wachsenden Radikalismus auf der Straße und die bedrohliche wirtschaftliche Krisenlage der späten zwanziger Jahre reduziert:

    Uns war klar, dass wir uns nicht darauf beschränken können, den Nationalsozialismus aus der Geschichte der Weimarer Republik herzuleiten. Andererseits wollten wir aber auch eine Kontinuitätslinie, die man nur relativ eindimensional über Jahrhunderte in die deutsche Geschichte zurück verfolgen kann. Wir haben einen pragmatischen Weg gewählt, indem wir uns gesagt haben, wir nehmen uns drei zentrale Themenbereiche heraus: den Nationalismus, die Völkische Bewegung und den Völkischen Gedanken und den Antisemitismus beziehungsweise die Politik des Rassismus und Antisemitismus. Also haben wir es gründlich angefasst und gesagt, wir gehen vom 18. und 19. Jahrhundert aus, aber immer streng fokussiert auf die Diktatur zwischen 1933 und 1945.



    O-Ton Radio-Reportage 30. Januar 1933: Er ist nur unterbrochen worden und doch leuchtet es in seinen Augen über dieses erwachende Deutschland, über diese Massen von Menschen aus allen Ständen, aus allen Schichten der Bevölkerung, die hier vorbei marschieren. Arbeiter der Stirn und der Faust. Alle Klassenunterschiede sind verwischt. Es ist ein Bild, wie es einmal gewesen ist, 1813, als es hieß der König rief und alle alle kamen.

    Die neuen Machthaber sprachen von einer Revolution, vom ruhmreichen Sieg ihrer Bewegung. Die Macht ergriffen im eigentlichen Sinn des Wortes, so der Berliner Historiker Wolfgang Wippermann in seinem Aufsatz, haben Hitler und seine Partei indes nicht. Der kometenhafte Aufstieg der Nationalsozialisten lässt sich nicht mit einer dämonischen Führer-Figur erklären – einem Verführer, dem die Deutschen blindlings hinterher gelaufen seien. Vielmehr wurde das Terror-Reich erst möglich durch eine tiefe politische und wirtschaftliche Implosion der ersten deutschen Demokratie. Allen voran haben die konservativen Eliten der Weimarer Republik das in ihren Augen ungeliebte System Stück für Stück in den Ruin getrieben. Am Ende holte Franz von Papen die braunen Extremisten auf die Bank einer Minderheitsregierung. Er wollte Hitler in das politische Abseits drücken, bis er – so die berüchtigte Formel – nach spätestens zwei Monaten "quietscht". Das Kalkül schlug fehl: Bei den Wahlen vom 5. März 1933 erhielt die NSDAP fast 44 Prozent der Stimmen, zwei Wochen später verabschiedete Hitlers Kabinett das Ermächtigungsgesetz und setzte damit die parlamentarischen Spielregeln endgültig außer Kraft. Die Kommunistische Partei war bereits verboten, nur die SPD-Fraktion unter Führung von Otto Wels stimmte im Reichstag gegen die Gesetzesvorlage:

    Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht. Niemals noch seit es einen deutschen Reichstag gibt, ist die Kontrolle der öffentlichen Angelegenheiten durch die gewählten Vertreter des Volkes in solchem Maße ausgeschaltet worden, wie das jetzt geschieht.

    Der letzten kontroversen Debatte im zerstörten deutschen Parlament folgte die schrittweise Entrechtung und Gleichschaltung der deutschen Gesellschaft. Wie tief greifend die zahlreichen Gesetzesänderungen gewesen sind, zeigt der Politologe und Widerstandsforscher Peter Steinbach in Bernd Sösemanns Buch. Nicht nur mit knüppelnden SA-Brigaden, Konzentrationslagern und einem totalitär ausgerichteten Führerstaat sicherte sich Hitlers Bewegung die dauerhafte Macht über das Jahr 1933 hinaus. All diese Maßnahmen fanden ihr Äquivalent in der nur schwer zu erklärenden Hingabebereitschaft der breiten Öffentlichkeit. Die totalisierende Politik der Nazis fiel auf fruchtbaren Boden: Maßnahmen wie das "Gesetz zur Wiederherstellung des deutschen Berufsbeamtentums", erlassen am 7. April 1933, förderten die ideologische Selbstgleichschaltung in allen gesellschaftlichen Bereichen. Die Zahl der Mitläufer und überzeugten Parteigänger überwog die der Opponenten um ein Vielfaches. Herausgeber Bernd Sösemann:

    Der Nationalsozialismus präsentierte sich einzelnen Bevölkerungsschichten auf eine nicht unattraktive Weise, indem er jedem nämlich – vom Arbeiter bis zum Angestellten, vom Landwirt bis zum Adeligen – eine programmatische Breite und Vielfalt bot. Und deshalb muss man, wenn man die Wirkung des Nationalsozialismus erklären will, von beiden Seiten auf dieses Phänomen schauen: einmal natürlich vom Programm der Regierung her, aber zum anderen auch von der Erwartungshaltung dieser unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen her, die nämlich meinten, mit dem Nationalsozialismus würden sie ihre Politik oder ihre Vorstellungen am besten umsetzen können.

    Besonders eindrücklich schildert die Historikerin Gisela Bock die Mechanismen der totalitären Herrschaft am Beispiel der nationalsozialistischen Geburten- und Ehepolitik. Die in demokratischen Gesellschaften übliche Trennung von privater und öffentlich-politischer Sphäre wurde aufgehoben, individuelle Lebensentwürfe, Partnerschaften und Sexualität dem unerbittlichen Prinzip von Volk und Rasse unterworfen. Die Folge waren Aggressivität und brutale Gewaltsamkeit, nach Hannah Arendt wichtige Kennzeichen totalitärer Herrschaftssysteme: In ihrem Arier-Wahn ließen die Nazis 400-tausend Frauen und Männer zwangssterilisieren. Die so genannten Eheverbots-Gesetze aus dem Jahr 1935 drohten im Falle einer Liebes-Beziehung zwischen Deutschen und Juden mit drakonischen Strafen. Im Krieg schließlich wurden unzählige weibliche Gefangene in die Front- und Lagerbordelle verschleppt und dort zur Prostitution gezwungen. Doch waren die Frauen nicht nur Opfer des Nationalsozialismus, sondern haben umgekehrt dem Regime vielfach auch als Täterinnen gedient. Ob als KZ-Aufseherin oder Orts-Funktionärin des nationalsozialistischen Frauenbundes – das Verhalten von deutschen Frauen im Dritten Reich, so das Fazit von Gisela Bock, unterschied sich nur unwesentlich von dem der Männer.

    O-Ton Joseph Goebbels: Der Aufmarsch, den wir begonnen haben, ist ein Aufmarsch der Gesinnung. Es ist eine Gesinnung der Tat, die eine Umwertung der Werte eingeleitet hat, um ihre Neuwertung zu vollziehen. Sie hat die Menschen umgeformt und mit neuem Lebensmut und stärkerer Daseinskraft erfüllt. Nur wenige Monate nach der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler der Deutschen sprach sein Propagandaminister Josef Goebbels von einer rundum erneuerten Gesellschaft. Die nationalsozialistische Politik verkaufte sich selbst als radikaler Bruch mit der alten Welt, der schließlich im Zweiten Weltkrieg und in der Vernichtung von mehr als 20 Millionen Menschen mündete. Die Autoren, die Bernd Sösemann für seinen Sammelband über die braune Diktatur gewinnen konnte, zeichnen die einzelnen Facetten der Nazi-Herrschaft vielseitig und gut verständlich nach. Ein wichtiges Thema aber fehlt: Die Erinnerung an den nationalsozialistischen Terror. Kaum ein Wort fällt über die Worte Richard von Weizsäckers am 8. Mai 1985, Historikerstreit und Goldhagen-Debatte oder Martin Walsers Sonntagsrede in der Frankfurter Paulskirche. Es ist fraglich, ob sich eine umfassende Darstellung des Dritten Reiches ohne einen Blick auf dessen jahrzehntelange Nachwirkungen schreiben lässt. Ein Buch, das in die Geschichte von Nationalsozialismus und deutscher Gesellschaft einführen will, sollte die nachträgliche Auseinandersetzung über Schuld und Verstrickung jedenfalls nicht ausklammern.

    Niels Beintker über: Der Nationalsozialismus und die deutsche Gesellschaft. Herausgegeben von Bernd Sösemann in der Deutschen Verlags Anstalt Stuttgart, 321 Seiten für 29 Euro und 90 Cent.