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Berührend, verstörend, entsetzlich gerecht

David Mitchell hat einen Roman über einen niederländischen Buchhalter geschrieben, der von der Wende des 18. zum 19. Jahrhundert nach Dejima reist. Die Geschichte Dejimas ist hierzulande nicht gerade in aller Munde. Dabei hat die kleine, künstliche Insel vor der Küste Nagasakis einmal eine bedeutende Rolle gespielt, jedenfalls, was den Kontakt Europas mit Japan angeht.

Von Hartmut Kasper | 02.09.2012
    Japanische Kaufleute hatten die Insel in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts aufgeschüttet. Dort sollten die Nambanjin übersichtlich untergebracht werden, die Barbaren aus dem Süden, die bis dahin verstreut unter den Einheimischen in der Stadt gelebt hatten: die europäischen Händler also, die Abenteurer und Missionare.

    Im fernen Europa wälzte in jenen Tagen der später sogenannte Dreißigjährige Krieg seine Leichenberge durchs Land. Wenn es ein Brennglas der Geschichte gab, schien es damals auf Europa gerichtet.
    Immerhin reisten die Spanier und die Portugiesen in die Fremde Asiens. Nachdem Jahrzehnte später die japanischen Behörden diese Landsmannschaften des Landes verwiesen hatten, wurde Dejima zum Sitz einer Handelsstation der niederländischen Ostindien-Kompanie. Diese Kompanie war vom niederländischen Staat mit Hoheitsrechten ausgestattet; sie durfte Kriege führen, Landbesitz erwerben und darauf Festungen bauen. Sie ernannte Gouverneure, schloss – ganz wie ein Staat – völkerrechtlich bindende Verträge; sie dominierte die ein paar Jahre zuvor gegründete britische Konkurrenz-Kompanie, hielt weit über 4000 Schiffe unter Segel und ging als erste Firma der Welt mit Aktien an eine Börse.

    Über Dejima wanderte nicht nur europäisches Wissen nach Japan ein, sondern auch Kulturgüter wie Billard und Bier, Tomaten, Kaffee und – viel bestaunt – Knöpfe.
    Die künstliche Kaufmannsinsel erscheint heute als winziges historisches Detail.
    Selbst David Mitchell, der jahrelang als Englischlehrer in Japan gelebt hat, entdeckte die Insel eher zufällig: Im Jahr 1994 wanderte er als Rucksacktourist durch Japan. Auf der Suche nach einem preiswerten Mittagessen sei er in Nagasaki in das örtliche Dejima-Museum geraten.

    "Ich habe an diesem Tag kein Mittagessen bekommen," erzählte er später. "Aber ich habe ein ganzes Notizbuch mit Informationen über diesen Ort gefüllt, von dem ich noch nie gehört hatte, und beschlossen, eines Tages darüber zu schreiben."

    Mit seinem fünften Roman hat Mitchell diesen Beschluss in die Tat umgesetzt.

    Vier Jahre Recherche gingen der Arbeit voraus. Er delegiert seine fiktionale Hauptfigur Jacob de Zoet in einen historisch authentischen Kontext, wobei dieser de Zoet seinerseits Züge des wieder historischen Hendrik Doeff trägt, der Memoiren über seine Zeit auf Dejima hinterlassen hat.
    Jacob de Zoet reist im Jahr 1799 mit Unico Vorstenbosch, dem designierten neuen Faktor der Handelsstation, nach Dejima und also in jenes Land, das die Europäer Japan nennen.
    Die Reisenden in diesem Buch wissen:

    "Die Japaner ( ... ) verfügen über blumige Namen für ihr Kaiserreich ( ... ) `Land der tausend Herbste´ oder `Ursprung der Sonne´."

    Die Tausend Herbste des Jacob de Zoet bezeichnen also keinen Zeitraum, sondern einen Ort.
    De Zoets Beweggrund für die Reise ist privater Natur. Er hat sich verliebt, aber der Vater seiner Liebsten Anna wünscht, dass sein womöglicher Schwiegersohn nicht nur Liebe, sondern Vermögen in die Ehe einbringt. De Zoet will sich die befohlenen finanziellen Mittel im Dienst der Ostindischen Handelskompanie erwerben.
    Das Geschäft als Mittel zum Zweck. Sein Vorgesetzter Vorstenbosch definiert dem jungen Mann den künftigen Aufgabenbereich:

    "Sobald wir an Land sind, muss ich alles daran setzen, dass die Handelszeit so viel Ertrag bringt, wie unsere schäbige Fracht es zulässt. Sie, de Zoet, haben eine völlig andere Aufgabe: Sie prüfen die Bücher der Faktorei, sowohl auf die Geschäfte der Kompanie als auch auf die privaten."

    De Zoet macht sich an die Arbeit. Die bisherigen Macht- und Geldhaber des Stützpunktes haben eher in die eigene als in die Tasche der Kompanie gewirtschaftet. Seine Nachforschungen machen de Zoet nur bei einem kleinen Teil der Belegschaft beliebt. Auf der Insel leben Niederländer, andere Europäer, darunter ein Schotte und ein Preuße. Man hält sich Sklaven; amtlich bestellte japanische Dolmetscher sorgen für Verständigung zwischen den europäischen Handelsmissionen und dem Festland. Dass Europäer Japanisch lernen, ist behördlicherseits untersagt.
    De Zoet, gründlich, unbestechlich, fromm und neugierig, lernt kurz nach seiner Ankunft in einer burlesken Szene, in der unter anderem ein Bad in Affen-Urin eine Rolle spielt, die Japanerin Orito Aibagawa kennen. Sie ist die Tochter eines japanischen Arztes und Gelehrten und gehört als einzige Frau zu der Gruppe Japaner, die bei Dejimas Arzt Dr. Marinus studieren.
    Der Doktor ist das Inbild des aufgeklärten europäischen Gelehrten. Er vermittelt seinen Schülern medizinische Kenntnisse wie neuzeitliches Gedankengut überhaupt. Auf diese Weise wird er zum Mentor einer ganzen Generation junger wissensdurstiger Japaner.

    Für de Zoet wird der Arzt und Botaniker, der sich ebenso gut in der japanischen Pflanzenwelt auskennt wie in der japanischen Mentalität, zum Vater-Ersatz.

    Kein leichter Weg dorthin: Marinus kann von boshafter Spitzzüngigkeit sein und manche seiner medizinischen Experimente, wie er sie auch mit de Zoet durchführt, lassen es in der Schwebe, ob der Doktor nur schadenfroh ist, oder zynisch.

    Die Geschichte, die sich nun und in den nächsten Jahren an diesem klaustrophoben Ort abspielt, ist so farbenprächtig wie abenteuerlich.
    Aibagawa, die junge Frau, ist eine Hebamme. Sie hilft zu Beginn des Romans dem Sohn des Statthalters von Nagasaki auf die Welt, einer Totgeburt. Doch wie durch ein Wunder in diesem an Wundern und Wunderlichkeiten nicht armen Roman beginnt der Sohn von Shiroyama und seiner der Konkubine, doch noch zu atmen. Der Statthalter wird ihr, der Hebamme, das nie vergessen.

    Aibagawa ist ein unverheiratetes Fräulein. Ein Brandmal entstellt ihre Wange und mindert so ihren Wert auf dem Heiratsmarkt.
    Jacob de Zoet verliebt sich in sie – wenn auch mit schlechtem Gewissen, schließlich ist er in Japan, um sich eine ökonomische Ehebefähigung zu erwirtschaften.
    Seine Annäherungsversuche an das Fräulein Orito bleiben nicht ganz erfolglos.
    Dann aber stirbt Oritos Vater, und die Hebamme wird an den Shiranui-Schrein verkauft, eine Glaubensgemeinschaft oder Sekte, der Fürstabt Enomoto vorsitzt.

    Diese Sekte nimmt sich mittelloser, oft auch körperlich geschädigter Frauen an. Die Frauen werden im Namen einer Göttin von den Mönchen oder Novizen des Ordens begattet, im Jargon der Sekte: Sie werden von einem Gabenspender mit einer Gabe bedacht.
    Der Gabenspender bleibt anonym. Die Geschwängerten gebären; die Neugeborenen aber werden den Müttern genommen und weltlichen Familien zur Adoption freigegeben.
    Jeweils zum Neujahr empfangen ihre leiblichen Mütter immerhin Briefe, in denen die herangewachsenen Kinder von ihrem Leben in bescheidenen Verhältnissen künden, ihrem, wenn auch nicht überbordenden, Glück.
    So jedenfalls die amtliche Lesart.

    Tatsächlich spielen sich im Schrein denkbar horrible Szenen ab. Die Frauen sind mittels einer Droge klaglos gehalten und willfährig gemacht. Die tröstenden Briefe sind nichts Anderes als ein Mittel, literarische Fiktionen nämlich, die die Mütter unbesorgt und empfänglich für weitere Zwangsbegattungen halten sollen.
    In Wirklichkeit werden die gestohlenen Kinder im Namen eines magischen Rituals abgeschlachtet. Von der geraubten Lebenskraft versprechen sich die Mönche Langlebigkeit, ja Unsterblichkeit.

    Das alles erzählt sich gut und gern, denn der Roman ist geradezu stoffgesättigt. Ein beträchtlicher Teil des Ensembles trägt zudem die eigene Lebensgeschichte bei, erzählt von Lebenslust und Leid und mit je eigener Stimme.

    So auch der Dolmetscher Ogawa Uzaemon, der, was de Zoet nicht weiß, sein Nebenbuhler ist bei Fräulein Aibagawa, jedoch ein ebenso aussichtsloser Kandidat wie de Zoet selbst.
    Uzaemon ist, was man europhil nennen könnte:

    "Herr de Zoet kann durch Seepforte gehen und segeln über Ozean. Aber ich – alle Japaner ( ... ) sind Gefangene für ganzes Leben. Wer Plan macht zu gehen, wird hingerichtet. Wer geht und von Ausland zurückkehrt, wird hingerichtet. Mein kostbarer Wunsch ist ein Jahr in Batavia, um Niederländisch zu sprechen ... niederländisch zu essen, niederländisch zu trinken, niederländisch zu schlafen, nur ein Jahr."

    Das Andere, das Erleben des Anderen setzt Phantasien über ein anderes Leben frei und erzeugt damit die Idee der Freiheit überhaupt.
    Hier wie anderswo sinnen die Figuren in ihren historischen Kostümen über das nach, was sich als das Trans-Historische einer menschlichen Existenz verstehen ließe: das Verhältnis des Eigenen zum Anderen, die Sehnsucht nach und die Furcht vor der Grenzüberschreitung.
    Was der Roman zu diesen großen Themen zu sagen hat, wird nicht vom allwissenden Erzähler brachial diktiert, sondern von den Figuren erwogen, oft mehr angetastet als deklamiert. Und es kommt – und dies ist eine Stärke des Romans – mit einer oft humoristischen Schwerelosigkeit daher:

    Als herausragendes Instrument der Befreiung vom Althergebrachten wie Althergedachten dient in diesem Grenzgebiet die Sprache. Und so erinnert sich der Dolmetscher Uzeamon an seinen ersten Besuch auf Dejima:

    "Wir gehen über Holland-Brücke, und mein Herr sagt: 'Das ist längste Brücke, die du überquerst in Leben, denn diese Brücke verbindet zwei Welten'. Wir gehen durch Landpforte, und ich sehe Riese von Märchen! Nase groß wie Kartoffel. Kleider hat nicht Bänder, sondern Knöpfe, viele Knöpfe ( ... ). Dann Ausländer öffnet Mund und sagt: 'Schfgg-envigen-flinder-vasccchen morgengen!' Das war gleiches Niederländisch, ich so lange studieren? Ich verbeuge mich und verbeuge mich ( ... ). Ich sage: '( ... ) Wetter ist mild heute, ich danke Ihnen sehr, mein Herr.' Gelber Riese lacht und sagt: 'Ksssfffkkk schevingen-pevingen!'."

    Das Bemühen, ja der Kampf um die richtige Übersetzung, den der Dolmetscher wie auch de Zoet und die Hebamme kämpfen, hat etwas zutiefst Gerechtes, geradezu Aufklärerisch-Vorbildliches. Sie führen vor, dass jedes Übersetzen ein Verstehen ist, jedes Verstehen ein Übersetzen.

    Dieses Bemühen um den oder das Andere ahmt nicht zuletzt der Erzählduktus des Romans selbst nach.
    Der Erzähler lässt die Figuren zu Wort kommen, lässt sie fabulieren, deklamieren, denunzieren, fluchen, jammern und ausschweifende Reden halten, als wäre der Geist von Charles Dickens oder Dostojewskijs in den Text gefahren.
    Der Erzähler selbst dagegen schildert, was Sache ist, immer wieder mit einer minutiösen Knappheit, formuliert seine Sätze so präzise und abstrakt wie Piktogramme oder an japanischen Kurzgedichten geschulte Sprachminiaturen.

    "Die Menschenmenge drängelt und rempelt. Unter einer Pinie verkaufen Jungen Grasmücken aus Käfigen, die an den Ästen baumeln. Eine Großmutter mit lahmer Hand krächzt hinter ihrer rauchenden Grillplatte: 'Tiiiintenfische am Spieeeß ( ... )!' ( ... ) 'Erstaunliche Bilder, unglaubliche Zeichnungen!', brüllt ein Holzschnittverkäufer. Sein Kopf taucht vor dem Sänftenfenster auf, und er zeigt Uzaemon die pornographische Darstellung eines nackten Kobolds ( ... ) Die Sänfte neigt sich steil nach hinten, und er muss sich an dem lackierten Griff festhalten. Am Ende der Treppe schlagen ein paar Mädchen, nicht mehr Kind, noch nicht ganz Frau, ihre Kreisel. ( ... ) Ein schwerfälliger Ochse versperrt ihm den Blick auf die Mädchen. ( ... ) Als der Ochse vorübergezogen ist, sind die Mädchen verschwunden."

    Das mag so klingen, als hätte Mitchell mit den Tausend Herbsten einen historischen Roman wie aus dem 19. Jahrhundert geschrieben, fachkundig gewürzt mit allerlei gediegen recherchierten exotischen Details – einen Schmöker, der ins 20. Jahrhundert vorrückt nur dort, wo in einer naturalistischen Drastik die Leibhaftigkeit des Menschen inszeniert wird, sein physisches Leid, Blut und Kot, seine Verkrüppelung durch Gewalt, durch Krankheiten wie beispielsweise den Blasenstein, den Dr. Marinus ohne Narkose in einer schmerzhaft genau erzählten Szene operiert, oder die Gicht, an der Penhaligon leidet. Kapitän Penhaligon, der als Kommandant eines englischen Schiffes gegen Ende des Romans Dejima unter Feuer nehmen lässt, um dieses letzte Fetzen Land, über dem anno 1800 noch die niederländische Flagge weht, dem erblühenden britischen Imperium einzuverleiben.
    Man könnte es sich leicht machen und die spezifische Modernität dieses Textes, seine Geistesgegenwärtigkeit, im Post-Modernen verorten: Bedient er sich doch aus dem Faktenkatalog der tatsächlichen Historie ebenso, wie er aus dem Fundus der europäischen Abenteuergeschichte schöpft - mit seiner kulturgrenzenübergreifenden Liebesgeschichte, mit seinen Entführungen, Vergewaltigungen, mit dem pseudo-religiösen Horrorszenarium rund um den Shiranui-Schrein von Fürstabt Enomoto, mit Affe, Erdbeben und Seeschlacht am Ende.

    Alle Spannungsbögen des Romans beweisen einen souveränen Erzählarchitekten, alle Handlungsfäden werden ausgesponnen, zur rechten Zeit aufgenommen und am Ende kunstvoll miteinander verknüpft:
    Als der Statthalter von Nagasaki am Ende Selbstmord begeht, seinem historischen Vorbild folgend, reißt er den wahnwitzigen Fürstabt Enomoto in einem raffinierten Spielzug mit in den Tod, einer List, an der ein James Bond oder Jason Bourne ihre Freude hätten.
    Das befriedigt den Leser wohl – ob seine hehren Bedürfnisse nach Gerechtigkeit oder seine niederen nach Rache am Bösen, muss hier ja nicht entschieden werden.

    Nach diesem Finale klingt der Roman in einem Nachspann aus, der lange Jahrzehnte auf wenigen Seiten zusammenrafft. Denn der Roman gönnt sich keine Apotheose im Akt der Rache oder Gerechtigkeit, sondern zeigt, wie de Zoets Leben hernach verläuft, wie er seine japanische Frau verliert, sein Aufenthaltsrecht und damit den gemeinsamen Sohn, wie sich das Leben des Buchhalters in eine immer postenreicher werdende Verlustliste verwandelt.

    Was von de Zoet bleibt, ist sein über die Zeit gefertigtes Übersetzungswerk:

    "Und doch findet man ihr Wörterbuch inzwischen in jedem Lehen. Meine Schüler sagen nicht: `Gib mir das Niederländisch-Wörterbuch´, sie sagen: `Gib mir den Dazūto.´"

    Sprache ist, wie man weiß, auch ein biografisch wunder Punkt. Der Autor David Mitchell stottert.
    Liegt Erlösung also nur in der Sprache?
    Erlösung, Freiheit und Erfüllung hat, wie es scheint, am Ende des Romans nur ein nichtmenschliches Mitglied des Ensembles gefunden: der Affe, den die Leute in Dejima aus Ulk "William Pitt" getauft haben:

    "William Pitt ist vor vier Jahren mit einer Affendame auf der Santa Maria durchgebrannt. An dem Morgen, als das Schiff aussegelte, schwamm er hinaus zu ihr. Die Wachleute waren sich unsicher, ob die Gesetze des Shōguns auch für Affen gelten, aber sie ließen ihn ziehen."

    Der Affe kann Japan verlassen; den eigenen Sohn außer Landes und nach Europa mitzunehmen, verbieten die japanischen Gesetze. Jacob de Zoet kann ihm am Ende nur vom Schiffsdeck aus nachwinken.
    Szenen wie diese rücken die Figur dem Leser nah. Sie sind sie geeignet, die Lektüre stark zu emotionalisieren.
    Aber der Erzähler hält das Bewusstsein seiner Leser für die Gemachtheit solcher Gefühle wach, und das geradezu mit Lust an der Zerstörung seiner Illusionen:
    Als die Mönche des mörderischen Klosters die Neujahrsbriefe fälschen, lauscht die Hebamme Orito:

    "'Eine Geschichte muss bewegen", hört sie Meister Chimei dozieren, 'und Unglück treibt die Menschen an. ( ... ) Zufriedenheit macht träge. Deswegen werden wir in die Geschichte von ( ... ) Fräulein Noriko maßvoll Unheil säen. ( ... ). Man muss die nötigen Kniffe beherrschen, verstehst du? Geschichtenerzähler sind keine Priester, die Zwiesprache mit himmlischen Sphären halten, sondern Handwerker, geschickt wie ein Teigtaschenmacher, nur langsamer.'"

    Die Geschichte von Jacob de Zoet geht zu Ende. Im Augenblick seines Todes erlebt er eine Vision: Die Hebamme Orito tritt an ihn heran und küsst ihn auf die Stirn.

    "Dann kommt ein stürmischer Herbstabend Ende Oktober oder Anfang November. ( ... ) Das Kaminfeuer spiegelt sich im Pendel der Uhr, und in den letzten Momenten des Jacob de Zoet verwandeln sich die bernsteinfarbenen Schatten in der Ecke in die Gestalt einer Frau.
    Sie schlüpft unbemerkt zwischen den größeren, beleibteren Angehörigen hindurch ...
    ... und zieht das Kopftuch zurecht, um ihr Brandmal zu verbergen.
    ( ... )
    In ihren schmalen Augen erkennt Jacob sich selbst als junger Mann.
    ( ... )
    Eine gutgeölte Schiebtür öffnet sich lautlos."


    Geschichten, heißt es in der Mitte des Romans einmal über das Leben der gefangenen Frauen im Shiranui-Schrein,

    "Geschichten machen das Leben ( ... ) erträglich, Geschichten in allen möglichen Formen: die Briefe der Gaben, Klatsch, Erinnerungen und Lügenmärchen ( ... ). Sie denkt an Göttermythen ( ... ), an Buddha und Jesus und möglicherweise an die Göttin vom Berg Shiranui ( ... ). Orito stellt sich den menschlichen Geist als Webstuhl vor, der aus den ungleichen Fäden von Glaube, Erinnerung und Erzählung etwas wirkt, das man gewöhnlich als 'Ich' bezeichnet."

    Vielleicht macht das die besondere Modernität dieses großen Romans aus, dass er diese zweischneidige Erfahrung vermittelt:
    Geschichten werden gemacht wie Teigtaschen.
    Ja.
    Aber Geschichten und Geschichte sind zugleich noch etwas anderes als der zur manipulativen Aufbereitung vorhandene Plunder der Zeit. Richtig erzählt, sind sie eine Heimsuchung, berührend, verstörend, auf entsetzliche Weise gerecht.

    David Mitchell: "Die tausend Herbste des Jacob de Zoet". Roman.
    Aus dem Englischen von Volker Oldenburg
    Rowohlt Verlag. Reinbek bei Hamburg 2012
    715 Seiten