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Beruf mit Zukunft

Zum ersten Mal seit mehr als sechs Jahrzehnten sind in Deutschland wieder Rabbiner ausgebildet worden. Es ist ein Beruf mit Zukunft, denn die jüdischen Gemeinden suchen händeringend nach Geistlichen.

Von Gerald Beyrodt | 13.09.2006
    Liturgieunterricht im Abraham-Geiger-Kolleg in Berlin-Charlottenburg: die Kunst der Gottesdienstgestaltung. Die Studenten machen vor, wie sie mit ihren Praktikumsgemeinden den Schabbat und andere Festtage gefeiert haben. Wie sie die Gemeindemitglieder zum Mitsingen aufgefordert haben. Wie sie die Sitzordnung gestaltet haben. Wie sie einzelne Anwesende gebeten haben, etwas vorzulesen.

    Wichtige Frage im Liturgieunterricht: Wie viel trage ich auf Hebräisch vor, wie viel auf Deutsch und wie viel auf Russisch, in der Muttersprache der meisten Juden in Deutschland? Die Frage kann so nur in einem liberalen Kolleg auftauchen, denn in der Orthodoxie sind Gebete auf Hebräisch selbstverständlich. Weitere wichtige Frage: Erreiche ich meine Zuhörer? Bin ich präsent genug? Was für eine Atmosphäre erzeuge ich? Nach den Präsentationen gibt es Kritik und Lob.

    "Ich fand’s gut, dass man zusammenrutschen konnte. Ich find’s auch gut, wenn man sitzen kann. "

    Am Abraham-Geiger-Kolleg bekommen die künftigen Rabbinerinnen und Rabbiner ihre praktische Ausbildung: Dazu gehören neben dem Liturgieunterricht die Themengebiete. Gemeindearbeit und Supervision. Im Supersivionsunterricht denken die Studentinnen und Studenten über Konflikte und ihre eigene Rolle in den Gemeinden nach. Auch die Fächer Hebräisch und Talmud zählen am Geiger-Kolleg zur praktischen Ausbildung. An der Uni Potsdam belegen die Studenten Seminare in jüdischen Studien und Religionswissenschaften. Bislang absolvieren sie dort einen kompletten Magisterstudiengang, sagt Dr. Anne Brenker vom Abraham-Geiger-Kolleg.

    "Der Nachteil des Magisterstudiums ist, dass sie ein drittes Nebenfach wählen müssen, was mit der Ausbildung hier am Abraham-Geiger-Kolleg nichts zu tun hat und wodurch die Studenten stark zeitlich belastet sind. Dies wird sich erfreulicherweise in diesem Jahr ändern. Die Universität Potsdam bietet ab 2006 einen BA in jüdischen Studien an, den die Studierenden dann belegen können und von dem wir uns sehr viel versprechen, nämlich eine noch fundiertere Ausbildung, Schnitt die sich rein auf das Ziel der Rabbinerausbildung konzentriert und bei der dieses etwas unerfreuliche dritte Nebenfach wegfällt."
    Rabbiner sind in Deutschland Mangelware: Nach Angaben des Zentralrats der Juden in Deutschland kommen auf 102 Gemeinden gerade mal 23 Rabbiner. Fast alle Rabbiner, die hier arbeiten, haben Toraschulen oder Universitäten im Ausland besucht. Dieter Graumann ist Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland:

    "Sie müssen bedenken: drei neue Rabbiner, wunderbar, wunderschön, aber wir brauchen in Deutschland, 30, 40 Mal so viele Rabbiner. Denn viele Gemeinden sind ja rabbinisch unterversorgt, erheblich unterversorgt und hungern nach Betreuung. "

    Unzufrieden ist Dieter Graumann mit der Ausbildungssitution an der Hochschule für jüdische Studien in Heidelberg, die der Zentralrat 1979 ins Leben gerufen hat.

    "Anders als das Abraham-Geiger-Kolleg ist unser Anspruch, der Anspruch des Zentralrats, ja für alle Richtungen im Judentum offen zu sein, also auch für orthodoxe und konservative Rabbinerausbildung und das gestaltet sich viel, viel schwerer, da werden wir sicher auf Jahre hinaus nicht in der Lage sein, Rabbiner vollständig in Deutschland auszubilden, schon gar nicht, sie hier zu ordinieren,"

    und deshalb hat sich der Zentralrat erst einmal ein bescheideneres Ziel gesetzt: Die Studentinnen und Studenten sollen in Heidelberg das Grundstudium absolvieren können und im Ausland ihre weitere Rabbinerausbildung, doch auch das ist noch Zukunftsmusik. Seit letztem Jahr gibt es eine andere Möglichkeit, sich in Deutschland zum orthodoxen Rabbiner ausbilden zu lassen: an der Berliner Toraschule der Lauder-Stiftung: einer sogenannten Jeschiwa. Die Ausbildung an der orthodoxen Jeschiwa unterscheidet sich stark von der am liberalen Geiger-Kolleg: So können in der Orthodoxie nur Männer Rabbiner werden. An der Toraschule wird traditionelles jüdisches Wissen vermittelt, oft sehr viel ausführlicher als an einer Hochschule. Vor allem die gemeinsame Tora- und Talmudlektüre ist wichtig. Daneben werden praktische Fähigkeiten für den Rabbineralltag weitergegeben: Public Relations genauso wie die Fähigkeit, eine Gemeinde aufzubauen. Die wissenschaftliche Erforschung des Judentums spielt dagegegen kaum eine Rolle. Rabbiner Joshua Spinner von der Lauder-Stiftung.

    "Wenn ich die zehn wichtigsten Fähigkeiten eines Rabbiners auflisten sollte, gerade jetzt in Deutschland, wäre ein Hochschulstudium auf jeden Fall ganz unten auf der Liste. Ich habe nichts dagegen. Aber es ist unwichtig."

    Jüdisches Leben in Deutschland ist in den letzten Jahren vielfältiger, facettenreicher geworden. Und dieser Trend zeichnet sich auch für die Rabbinerausbildung ab.