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"Beschwörung der Schatten"

1894 fand die französische Spionageabwehr ein Schriftstück, dass auf die Kollaboration eines Militärangehörigen mit dem deutschen Feind hinwies. Angehängt wurde der Verrat dem jüdischen Artilleriehauptmann Alfred Dreyfus. Nach dem Tode des später rehabilitierten Hauptmanns, 1935, schrieb der Sozialist Léo Blum seine Erfahrungen mit diesem politischen Skandal nieder. Der Berenberg Verlag hat das aufschlussreiche Dokument mit dem Titel "Beschwörung der Schatten" nun wieder herausgebracht.

Von Hans-Martin Lohmann | 19.09.2005
    Im historischen Rückblick erweist sich die so genannte Dreyfus-Affäre, die vor gut 100 Jahren Frankreich bis in die Grundfesten erschütterte, als eine der großen Bewährungsproben der Republik. Noch wenige Jahre zuvor, am Ende der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts, war die Dritte Republik ins Fadenkreuz politischer Kräfte geraten, die offen mit der Rückkehr zu einer nichtparlamentarisch-autoritären Staatsform liebäugelten. Monarchisten, Bonapartisten und die Parteigänger eines militanten römischen Klerikalismus machten sich immer noch politische Hoffnungen auf die Wiederherstellung vorrepublikanischer Zustände. Als die Affäre um den jüdischen Artilleriehauptmann Alfred Dreyfus im Jahr 1906 mit der vollständigen Rehabilitierung des Offiziers endgültig ausgestanden war, hatte sich Frankreich innenpolitisch grundlegend verändert. In seiner immer noch lesenswerten Französischen Geschichte von 1953, deren pointierte Urteile freilich gelegentlich zum Widerspruch reizen, schreibt Friedrich Sieburg:

    Die Zivilgewalt hatte über die Armee triumphiert, der Antisemitismus war zwar noch nicht erloschen, aber eine Schande geworden, gleichzeitig jedoch war auch der Antimilitarismus zur Tugend aufgerückt. Die letzte Feindschaft gegen die herrschende Staatsform war erschöpft. Die Republik, die jetzt - nach der Frauengestalt, die sie in allen Schulen und Amtsgebäuden personifizierte - halb zärtlich, halb herablassend Marianne genannt wurde, hatte sich bewährt und ihre Anhängerschaft endgültig zu konsolidieren vermocht.

    Wer heute über den Montparnasse-Friedhof in Paris schlendert, findet in einem entlegenen Winkel, ziemlich weit abseits von den Gräbern Prominenter wie Samuel Beckett, Marguerite Duras und Eugène Ionesco, die letzte Ruhestätte von Alfred Dreyfus. Als er 1935 starb, wurde mit ihm eine Epoche zu Grabe getragen, die zu den unruhigsten und aufwühlendsten der jüngeren französischen Geschichte gehört. Nie zuvor und nie danach, so scheint es, war Frankreich gespaltener als in den Jahren um 1900. In Léon Blums Erinnerung "Beschwörung der Schatten", unmittelbar nach Dreyfus' Tod 1935 niedergeschrieben und veröffentlicht, zittert die ungeheure öffentliche Erregung jener Jahre noch spürbar nach.

    Die Generationen, die der unseren gefolgt sind, machen sich keinen Begriff mehr davon, daß während zweier endloser Jahre [...] das Leben innezuhalten schien, daß sich alles auf eine einzige Frage konzentrierte, daß in den innersten Gefühlen und den Beziehungen der Menschen zueinander alles unterbrochen war, umgestürzt, neu angeordnet. Man war Dreyfusard oder nicht.

    Der junge Léon Blum war, wie die Politiker Georges Clemenceau und Jean Jaurès, wie die Schriftsteller Octave Mirbeau und Lucien Herr, Anatole France und Émile Zola, dessen "J’accuse" - "Ich klage an" - den publizistischen Höhepunkt der Affäre bildete, von der Unschuld des angeklagten und verurteilten Dreyfus zutiefst überzeugt. Dass es sich hier um ein nationalistisch und antisemitisch motiviertes Komplott von höchster Stelle - des französischen Generalstabs -, ja um eine Verschwörung gegen die Republik handelte und dass ein anderer als Dreyfus, ein Hauptmann Esterhazy, der wahre Verräter war, der Armeegeheimnisse an deutsche Stellen weitergegeben hatte, war für die Dreyfus-Partei aufgrund der Beweislage sehr bald klar. Blum ging es nun allerdings nicht darum, den Ablauf des Komplotts, eine Folge von Fälschungen und Lügen, und die Gegenkampagne der Dreyfusards nachträglich zu rekonstruieren; vielmehr wollte er "jene leidenschaftliche Veränderung des ganzen Lebens", die der Skandal für ihn und eine ganze Generation junger Intellektueller bedeutete, "nacherlebbar" und "begreifbar" machen. Blum, der spätere Ministerpräsident der Volksfrontregierung, beschreibt in seinen Erinnerungen nichts anderes als seine persönliche Initiation in die Welt der Politik. Wer sein kleines Buch liest, diese anrührende Beschwörung der Schatten längst verstorbener Freunde und Kampfgefährten, dem teilt sich auch heute noch etwas von der Energie und Leidenschaft des Politischen mit, die Blum in seiner Jugend befeuerte.

    Aber im Hintergrund lauert noch etwa anderes, und das macht das eigentlich Beunruhigende des Textes aus - eine Frage, die weder der Autor noch sonst jemand hinreichend zu beantworten vermag. Blum schrieb seine Erinnerungen im zeitgeschichtlichen Kontext des Aufstiegs Hitlers, der Remilitarisierung Deutschlands und des sich anbahnenden Krieges, der in die Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden mündete. Der Sozialist Blum war selber Jude, und man sollte erwähnen, dass er das Ende des Krieges in einem deutschen Konzentrationslager erlebte. So gesehen, war die Dreyfus-Affäre mit ihrem überschäumenden Antisemitismus lediglich das düstere Vorspiel einer Katastrophe, die alles Bisherige in den Schatten stellen sollte.

    Wenn Blum "das innerste Geheimnis" der Affäre Dreyfus ergründen will, rührt er an die Frage, woher der unergründliche Hass stammt, mit dem die französische Rechte die Juden überzog. Dieser Antisemitismus, notiert Blum,

    war in den exklusiven Zirkeln der Pariser Gesellschaft entstanden, wo sich die feine Welt und die freien Berufe trafen; seine unmittelbare Ursache war das indiskrete Vordringen reich gewordener Juden oder das als allzu rasch empfundene Aufrücken fleißig-begabter Juden gewesen. [...] Um die Affäre genau einschätzen zu können, muß man sich also daran erinnern, daß Dreyfus Jude war, daß ein Jude immer ein Jude bleibt, daß die jüdische Rasse gewisse moralische Regeln niemals anerkennen wird, daß ihr unweigerlich gewisse ererbte Makel anhängen!

    Was Blum auch im Nachhinein noch fassungslos mache, war die Tatsache, dass trotz der bald erwiesenen Unschuld des Hauptmanns Dreyfus auf Seiten der Antidreyfusards keinerlei Einsicht und Einlenken zu registrieren war - die nationalistische Rechte fuhr ungerührt fort, ihr Komplott zu schmieden und "die Juden" für alle Missstände und Übel der französischen Gesellschaft in die Verantwortung zu nehmen. Blum selber spricht von einem "Rätsel", um damit anzudeuten, dass er für den flamboyanten Antisemitismus letztlich keine auch nur halbwegs einleuchtende Erklärung aufzubieten vermag:

    Was trieb sie an? Was lenkte sie? Selbst heute, im Abstand von fünfunddreißig Jahren, da ich diese Vergangenheit mit gereifter und kühler Vernunft betrachte, scheint es mir, als fehlten mir immer noch Elemente einer Lösung dieser Frage.

    Die Wahrheit ist wohl, dass es für den nationalistisch und rassistisch motivierten Hass, allen historischen, ökonomischen und sozialpsychologischen Erklärungsversuchen der Antisemitismusforschung zum Trotz, keine wirklich hinreichende Erklärung gibt - dass er grundlos, leer, monströs ist und insofern bis heute eine Bedrohung darstellt, der mit Vernunft nicht beizukommen ist. Zwar gelang es den Dreyfusards nach jahrelangem Kampf, die Hegemonie des Antisemitismus auf der politischen Bühne Frankreichs zurückzudrängen - aber seine Virulenz blieb ungebrochen, wie die spätere Geschichte der Dritten Republik und ihrer schließlichen Kapitulation vor dem nationalsozialistischen Deutschland zeigt.

    Léon Blums Beschwörung der Schatten, von Joachim Kalka mit nützlichen Erläuterungen versehen, die vor allem die zeitgeschichtlichen Konstellationen und deren Personal hervortreten lassen, liest man auch heute noch mit Interesse, aber auch, wie Kalka anmerkt, nicht ohne ein gewisses Frösteln. Denn der Antisemitismus scheint unsterblich zu sein.

    Leon Blum: "Beschwörung der Schatten - Die Affaire Dreyfus"
    Berenberg Verlag, 19 Euro, 116 Seiten.