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Beschwörung des "Geistes von Philadelphia"

Praktikum statt Festanstellung, Gelegenheitsjobs statt echter beruflicher Perspektive. Das ist der Hintergrund für Alain Supiots Buch. Er beklagt, dass ein Wettlauf um die niedrigsten Sozialstandards eingesetzt habe und dabei der soziale Wertekatalog außer Kraft gesetzt worden sei. Jetzt stehe der soziale Frieden auf dem Spiel.

Von Conrad Lay | 01.08.2011
    Im Jahr 1944 nahm die Internationale Arbeitsorganisation in Philadelphia eine Grundsatzerklärung über ihre Ziele an. Was das wenige Wochen später vereinbarte Abkommen von Bretton Woods für die Finanzmärkte bedeutete, das war die "Erklärung von Philadelphia" für das internationale Sozial- und Arbeitsrecht. Sie gilt als Gründungsdokument moderner Sozialstaatlichkeit. Soziale Gerechtigkeit sollte danach zu einem "Eckpfeiler der internationalen Rechtsordnung" gemacht werden. Ein wirklicher Friede - so heißt es in der Erklärung - könne "auf Dauer nur auf sozialer Gerechtigkeit aufgebaut werden"; "Freiheit von Not" sei auf den engen Zusammenhang von wirtschaftlichem Wohlstand und sozialer Gerechtigkeit angewiesen. Alain Supot möchte die Einsichten von damals neu beleben. In seinem Essay "Der Geist von Philadelphia" fordert er eine Neubesinnung und Rückkehr zu dem vor über 60 Jahren international vereinbarten Wertekanon: Soziale Gerechtigkeit soll danach wie schon 1944 zu einem "Hauptziel" internationaler Politik werden. Grund zur Sorge sieht der französische Arbeitsrechtler - Professor an der Universität Nantes - allerdings gerade in "Zeiten entgrenzter Märkte" - wie es im Untertitel heißt. Alain Supiot schreibt:

    In der Erklärung von Philadelphia sind die Wirtschaft und das Finanzwesen Mittel, die den Menschen zu dienen haben. Der gegenwärtige Globalisierungsprozess verläuft indes genau unter dem umgekehrten Vorzeichen: An die Stelle des Ziels sozialer Gerechtigkeit ist das des freien Kapital- und Warenverkehrs getreten, und die Rangfolge von Mitteln und Zwecken wurde umgekehrt.

    Wenn in der Erklärung von Philadelphia festgestellt wurde: "Arbeit ist keine Ware", dann sollten die Staaten im Arbeitsrecht für juristische Stützbalken sorgen, die die körperliche Unversehrtheit und die wirtschaftliche Sicherheit der Arbeitnehmer gewährleisten. Alain Supiot widersetzt sich dem neoliberalen Gegenwind, der sich seiner Ansicht nach aus dem Bündnis von angelsächsischen und postkommunistischen Ländern speist und seinen Ausdruck in Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs findet:

    Der Gerichtshof stellte fest, dass die Ziele der Erhaltung der Kaufkraft der Arbeitnehmer und der Wahrung des sozialen Friedens nicht im öffentlichen Interesse lägen und eine Einschränkung der Dienstleistungsfreiheit daher nicht gerechtfertigt sei. Besser kann man die Abkehr vom "Geist von Philadelphia" nicht beschreiben.


    Supiot wirft dem Europäischen Gerichtshof vor, er habe sich vom Ziel der Angleichung der Lebens- und Arbeitsbedingungen verabschiedet und beuge sich dem Wettlauf um die niedrigsten Sozialstandards. Es könne nicht sein, dass Streiks und andere gewerkschaftliche Aktionen untersagt würden, weil sie die "spontane Ordnung" des Marktes störten. Wer den Wettbewerb auf dem Markt "zum einzigen universellen Organisationsprinzip" mache, der gerate in eine ähnliche Sackgasse wie zuvor die totalitären Systeme des 20.Jahrhunderts. Als ein den Gewerkschaften nahestehender Arbeitsrechtler entwirft Alain Supiot im zweiten Teil des Buches Strategien, wie man der Globalisierung mit juristischen Mitteln beikommen kann, wenn man nur will. Die Ausrede, die transnationalen Unternehmen könnten sich aus der Verantwortung stehlen, lässt er nicht gelten. Supiot zeigt, welche juristischen Möglichkeiten es gibt, sich dagegen zu wehren - vorausgesetzt, der politische Willen sei da. Und er appelliert daran, einen "Sinn für Grenzen zu entwickeln, für das rechte Maß, für gezieltes Handeln, für Verantwortung und Solidarität". Am Beispiel des Begriffs Verantwortung führt Alain Supiot aus:

    Der Maxime Milton Friedmans, die einzige soziale Verantwortung des Unternehmens bestehe darin, seine Gewinne zu steigern, kann man den aus dem römischen Recht überkommenen Grundsatz entgegensetzen: Wo es einen Gewinn gibt, gibt es auch eine Pflicht, und damit auch einen Verantwortlichen. Diejenigen, die von einer Wirtschaftstätigkeit profitieren, sind als maßgebliche Akteure zu betrachten, welche juristischen Formen das Unternehmen auch haben mag.

    Durchaus konsequent legt der französische Arbeitsrechtler dar, dass Begriffe wie Verantwortung, Solidarität und Würde "justiziabel" sind, also vor Gericht praktische Anwendung finden können.

    Alle Mittel, die es einer natürlichen oder juristischen Person erlauben, sich den mit dem Solidaritätsprinzip verbundenen Pflichten zu entziehen, stellen eine Verletzung der Menschenrechte dar und sind als solche zu ahnden. Das ist beispielsweise der Fall, wenn ein Unternehmen seine Produktion verlagert oder an Subunternehmer vergibt, mit dem einzigen Ziel, Sozial- und Umweltstandards zu umgehen. Vor allem internationale Institutionen wie die Weltbank verstoßen gegen die Menschenrechte, wenn sie die Konkurrenz zwischen den Rechtssytemen fördern, die allein dem Nutzenkalkül von Investoren dient.

    So interessant solche Interpretationen sein mögen, so wird das Verständnis des Essays dadurch erschwert, dass viele Beispiele, die Supiot anführt, aus dem französischen Rechtsleben stammen. Und sicher kann man den französischen Code civil nicht einfach mit dem deutschen BGB gleichsetzen. Diese keineswegs äußerlichen Schwierigkeiten deuten auf exakt die Probleme hin, mit denen Supiot angesichts der Globalisierung zu tun hat: wie nämlich eine Transnationalisierung rechtlicher Maßstäbe aussehen könnte. Supiots Buch ist ein erster Einstieg in eine Problematik, die angesichts globaler Handels-, aber nationaler Rechtsverhältnisse an Bedeutung zunehmen wird. Immerhin kann er an zahlreichen Beispielen nachweisen, dass das Recht sich nicht dem sogenannten "Sachzwang" eines scheinbar übermächtigen Marktes beugen muss. Verantwortung und Solidarität sind unter den Bedingungen der Globalisierung nicht dazu verurteilt, als Worthülsen für Sonntagsreden zu dienen, sondern sie sind - wenn man nur will - durchaus juristisch handhabbar.

    Alain Supiot:Der Geist von Philadelphia. Soziale Gerechtigkeit in Zeiten entgrenzter Märkte,Hamburger Edition, 143 Seiten, 18 Euro

    ISBN: 978-3-868-54231-8