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Beschwörung einer großen Unbekannten

Torben Guldbergs Roman sprüht vor fantastischer Erzählkunst und ist der seltsam berührende Beweis, dass die Liebe sich mit den Skalpellen der Wissenschaft nicht sezieren lässt.

Von Annette Brüggemann | 26.08.2010
    "Ich war müde. Aber immer noch am Leben. Vor fünfhundert Jahren hatte mein Freund Baldur Doppelzunge gesagt, ich könnte keinen Frieden finden, bevor ich mich nicht wieder der Liebe zuwenden würde. Und in all dieser Zeit hatte ich geglaubt, ich wüsste, wovon er sprach. Wie all die anderen, die ich gekannt habe, verstand ich die Liebe als eine Kraft, die größer war als der Mensch. Als etwas, das sich überall und nirgendwo befand, als eine unteilbare, alles umfassende Größe, eine Vibration im Weltall, wenn man so will. Als eine Kraft, die Verbindungen schuf, die Menschen packen, zusammenführen und ihre Schicksale aneinanderketten konnte. Doch nun änderten die Menschen um mich herum ihre Ansichten."

    So beginnt Torben Guldbergs Roman "Thesen über die Existenz der Liebe", dessen 500 Jahre alte Erzähler einem Orakel ähnelt, einem unsterblichen Reisenden durch die Zeit. Durch fünf Jahrhunderte wird er uns führen, selbst auf der Suche nach dem, was sich "Liebe" nennt.

    Er wird zuhören und uns berichten, was er gesehen, gehört und gelesen hat. Und er wird keine Antworten geben, keine Liebes-Glücksformeln bieten, sondern alle Fragen, Rätsel und Geheimnisse offen lassen.

    Torben Guldbergs Roman sprüht vor fantastischer Erzählkunst und ist der seltsam berührende Beweis, dass die Liebe sich mit den Skalpellen der Wissenschaft nicht sezieren lässt. Sie ist und bleibt ein irrationales Unterfangen und existiert doch als komplexes Bild und Gefühl in unserem Bewusstsein.

    Torben Guldbergs Roman wagt eine Annäherung an das Phänomen "Liebe" über die erzählerische Anrufung des Unbegreiflichen. Der Roman beginnt im 16. Jahrhundert mit der Geschichte der beiden Waisen Amalie und Frans. Eine heimliche Liebe, die ihrerseits ein Kind hervorbringt, das ohne Eltern aufwächst. Das Bild einer individuellen Seele ist noch nicht erfunden. Gott lenkt die Umlaufbahn und alle äußeren Geschicke. So äußern sich Amalies verborgene Gefühle in einem einzigartigen Gesang. Einem Gesang der Sehnsucht, der schmerzhaft an die Einsamkeit der eigenen Existenz erinnert. Frans wiederum ist es, der ihrem Gesang eine Partitur gibt.

    "Bevor in Europa Symphonien geschrieben wurden, bevor überhaupt diese Art von Musik geschrieben wurde, von der wir meinen, sie sei so alt, dass wir sie klassisch nennen müssen, notierte Frans eine Unzahl von Stimmen, von der jede ihre eigene Notenlinie hatte; sie lagen dicht übereinander, so viele, dass selbst bei einer feinen, dünnen Schrift drei ganze Pergamentbögen notwendig waren, um alle unterzubringen. Und während er schrieb und betete, vermischten sich die Noten und die Erinnerungen an sein früheres Leben als Mönch, und nach und nach begann er zu zweifeln, ob sich sein Gebet an Amalie, Gott oder die Musik richtete: Lass mich eins werden. "

    Von der "Unio Mystica", der mystischen Einswerdung, geht es weiter in eine Epoche, in der die menschliche Seele an Farbe und Form gewinnt. Der niederländische Philosoph Spinoza schreibt "Nachdem ich mir das Wesen der Seele vorgestellt habe, kann ich sie mir nicht als viereckig denken", die Absolutheit von Religion wird hinterfragt, die Welt mit See- und Kriegsflotten erobert.

    Und so führt uns Gregarius, Maler und Frauenheld, durch das 17. Jahrhundert. Vom Lebenshunger gepackt entdeckt er neue Welten.

    "Für Gregarius gibt es keine Grenze! Er hat gemalt und ist gesegelt, hat geliebt und erzählt. Er hat überall auf der Welt Freunde, von Grönland bis Afrika, von Java bis Amerika. Er wurde in einer Schatzkammer geboren, von einem Engel geküsst und von der himmlischen Seele gebissen."

    Und doch widmet er nur einer Angebeteten eine reiche Palette von Farben – Maris weibliche Seele ergründet er von Bild zu Bild ein Leben lang. Und auch wenn das junge Genie Hans und seine Geliebte Alma uns im nächsten Kapitel durch die Epoche der Aufklärung führen werden - auf Gregarius Lebensfrage, was für eine Kraft das sei, die alles miteinander zusammenhängen lässt, wird es auch im 18. Jahrhundert keine Antwort geben. Hans versucht eine Erklärung im Wesen des Lichts zu finden, das er mit der Chemie der Liebe in einem waghalsigen Versuch verschränkt – und kommt selbst dabei ums Leben. Zurück lässt er die Erkenntnis, dass nicht die Liebe uns blind werden lässt, sondern unser fehlende Glaube an sie.

    Mit genau diesem Glauben hadert der Philosoph Diderik, der uns durch das 20. Jahrhundert führt. Er nimmt seine Vorbilder Hegel, Schopenhauer und Nietzsche auf herrlich amüsante Weise allzu wörtlich; zieht umher als versponnener Idealist; landet im Gefängnis; verdient sein Geld als wiedergeborener Diogenes in der Tonne; schwängert wissbegierige Frauen; gründet einen philosophischen Vergnügungstempel, in dem neben klugen Gedanken vor allem Körperflüssigkeiten ausgetauscht werden und landet schließlich in der Berggasse in Wien auf Freuds berühmter Couch. Sein Fazit: In der verzweifelten Suche nach persönlichem Glück steckt purer Egoismus, aber keine wahre Liebe.

    Und da lauert auch schon die verführerische Macht des Geldes an der nächsten Straßenecke. Henrik Øberg Pingmann heißt der Mann, der im 20. Jahrhundert die Käuflichkeit der Liebe zu seinem Credo macht. Er arbeitet als sogenannter "makroökonomischer Therapeut" in Manhattan, hat ein Faible für Jungfrauen und kriegt alles, was er will. Bis er Pernille begegnet, die ihm die Echtzeit der Liebe entgegenzusetzen weiß:

    "An einem sonnigen Samstagvormittag nahm Henrik mit dem üblichen Sinn für Symbolik Pernille mit auf einen Flug entlang der Küste. Man steckte sie in Neoprenanzüge und Schwimmflossen, sie bekamen eine Tauchermaske auf die Stirn gesetzt und wurden von einem wettergegerbten Veranstalter aneinandergeschnallt. In drei Kilometer Höhe verließen sie das kleine Sportflugzeug, und während des sausenden Sturzes auf den glitzernden Wasserspiegel fand Henrik, wonach er gesucht hatte; er spürte, wie sich die Angst in schaudernden Jubel verwandelte. Es war ein Moment der Überwindung, er jauchzte und rollte mit dem Kopf, und er brüllte eine Frage über die endlosen Weiten des Meeres, er brüllte, ob sie mit ihm zusammenziehen wollte, willst du es, was? So richtig! Pernille beantwortete die Frage auf der Stelle, in dem sie an der Leine zog. Der Fall wurde gebremst, ein kunterbunter Schirm entfaltete sich über ihnen mit einem Knall, und das Einzige, was sie sagte, war: Gib mir etwas Zeit."

    Henrik kann dem schnöden Mammon nicht widerverstehen und flüchtet als potenzieller Familienvater wieder in sein New Yorker Büro. Doch er hat die Rechnung ohne den Wirt gemacht – blutleer starrt er auf die Wände seiner Single-Luxussuite und fragt sich: "Was zum Teufel fehlt bloß?"
    Dem Buch von Torben Guldberg fehlt nichts, auch wenn es uns eine Antwort schuldig bleibt. Die Lektüre ist ein pures Vergnügen: angereichert mit historischem und philosophischem Wissen entwirft Torben Guldberg einen schillernden Erzählkosmos, der die kulturelle Evolution der Liebe deutlich macht. Neu erfundene Märchen von der Liebe vom 16. Jahrhundert bis heute lassen einen verwundert die Augen reiben. 1000 Jahre alt ist der Erzähler, als er das Buch enden lässt mit der Aufforderung, dem heutigen Leben selbst – es ist wie es ist - das Geheimnis der Liebe abzulauschen.

    Torben Guldberg: "Thesen über die Existenz der Liebe".
    Roman. Aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg.
    464 Seiten, gebunden.
    S. Fischer Verlag (VÖ: 12.08.), 19,95 Euro

    Bei Random House Audio erscheint am 09.08. ein Hörbuch zum Roman – rund 420 Minuten, 6 Cd's, gesprochen von Stephan Benson, zum Preis von 24,99 Euro.