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Besser spät als nie

Mehr als vier Millionen Menschen gelten hierzulande als Funktionale Analphabeten. Das Bundesministerium für Bildung hat deshalb einen Förderungsschwerpunkt eingerichtet, um die Forschung und Entwicklung in der Alphabetisierung voranzutreiben.

Von Eva-Maria Götz |
    "Wenn man zum Beispiel mit mehreren Leuten essen geht und man kriegt eine Speisekarte vorgelegt und die anderen fangen schon an zu bestellen, dass man da einfach sagt: Ja, ich möchte gerne dasselbe, was der Hans-Peter hat, das hört sich gut an, oder was die Stefanie hat und dann ist man da durch."
    Timm Thilo Fellner hat in seinem Leben viele Strategien entwickelt, um zu verbergen, dass er in der Schule nicht gelernt hat, was dort doch grundlegend vermittelt werden sollte: das Lesen und Schreiben.

    "Es war Mitte der 70er-Jahre damals, der Begriff Legasthenie kam grade auf, mir wurde die Diagnose dann in der zweiten Klasse schon gestellt, dass ich Legastheniker bin. Die Lehrer konnten nicht so recht was damit anfangen, haben dann gesagt bekommen, der Bub kann nicht so lernen wie die anderen, jetzt macht mal. Ich glaube, die Lehrer waren ein Stück weit überfordert und haben dann aber gemerkt, dass ich nicht grade dumm bin und wollten mir nicht alle Chancen verbauen und haben mich dann ein Stück weit von Jahr zu Jahr mitgeschleppt."
    Fellner machte den Hauptschulabschluss und anschließend eine Lehre als KFZ-Mechaniker. Und auch dabei gelang es ihm, sein Handicap zu vertuschen: die Beschriftung der Hochregale, in denen das Werkzeug stand, lernte er auswendig. Die Abschlussarbeit diktierte er seiner damaligen Freundin. Doch irgendwann wurde ihm klar, dass er mit dem ständigen Versteckspiel immer mehr in eine Sackgasse geriet:

    "Im Prinzip war der Punkt, dass ich irgendwann mal gesagt habe, so geht das nicht weiter der, dass der Leidensdruck so immens wurde, dass ich einfach nicht mehr eine große Auswahlmöglichkeit hatte. Ich habe dann gesagt, ich möchte so nicht mehr weiterleben, ich möchte einfach an der Gesellschaft anders teilhaben können und ich muss da was an dem Problem ändern und bin dann halt in den ersten Kurs gegangen."
    Fellner hatte Glück: durch Kurse in der Volkshochschule, die Arbeit in Selbsthilfegruppen und intensives Lernen holte er das Versäumte nach und nicht nur das: Heute ist er erfolgreicher Buchautor und Botschafter für Alphabetisierung des "Bundesverbands Alphabetisierung und Grundbildung". Doch mehr als vier Millionen Menschen in der Bundesrepublik gelang dieser Schritt noch nicht. Ein Grund dafür: Oft lässt sich ihre Umwelt allzu leicht täuschen, wie Marion Döbert, Leiterin der Forschungs- Transferstelle am Unesco- Institut für Lebenslanges Lernen, meint:

    "Also erst mal ist es ganz wichtig, dass man eine Sensibilisierung erzeugt, dass also jeder, der in diesen Aktionsfeldern ist, ob das jetzt der Fallmanager beim Sozialamt ist, ob das der Lehrer in der Schule ist, ob das die Kindergärtnerin ist, ob das der Hausarzt ist, der merkt, dass ein Kind in der Sprachentwicklung hinterher ist und die Mutter vielleicht Probleme mit dem Schreiben und Lesen hat. Diese Sensibilisierung muss in alle Aktionsfelder rein, das heißt, wir brauchen eigentlich übergreifende Kampagnen, wo die allgemeine Öffentlichkeit informiert wird. Wir müssen aber auch die Fachöffentlichkeit informieren, das heißt, Kampagnen jetzt speziell im Bereich der Bundesagentur für Arbeit oder der Landes-ARGen, damit diejenige, wo die Funktionalen Analphabeten auflaufen, weiß, dass es diese Problematik gibt und ich weiß auch ganz genau, was ich mit diesem Menschen tun kann, nämlich dass ich ihn dahin berate, wo er ein Weiterbildungsangebot erhält."
    An dieser Stelle setzt auch die Arbeit des Forschungsprojektes "Alphabetisierung und Bildung" an, das an den Universitäten Mainz und Kaiserslautern verankert ist und mit zwölf Bildungsträgern in der Praxis zusammenarbeitet. Projektleiter Markus Höffer-Mehlmer:

    "Unser Projekt hat zwei Säulen. Auf der einen Seite wollen wir neue Angebote, auch Angebotsformen, auch Wege der Ansprache von Menschen mit Alphabetisierungsproblemen entwickeln. Auf der anderen Seite wollen wir Aus- und Fortbildung für Kursleiterinnen und Kursleiter in Alphabetisierungsmaßnahmen machen, aber auch für sogenannte Schlüsselpersonen, die in Betrieben etc. mit Menschen in Berührung kommen, die Alphabetisierungsprobleme haben."
    Der erste Schritt, über den auf der Tagung in Mainz mit den Vertretern der Erwachsenenbildungseinrichtungen, mit Lehrern, mit Mitarbeitern der ARGE und mit Betroffenen diskutiert wurde, ist der, das Thema aus der Tabu- Zone zu holen.

    "Es gibt sozusagen "Klimamaßnahmen", wenn man das so nennen wollte, wo es um das heute stark im Mittelpunkt stehende Thema "Tabu" geht, also die Frage, inwieweit ist es hilfreich, wenn das einmal enttabuisiert wird, dann aber auch entsprechende Möglichkeiten zu offerieren, Telefonnummern, Anlaufstellen, die leicht erreichbar sind, die also jetzt keine weitreichende Schriftkompetenz erfordern."
    Solide Netzwerke zu schaffen, die auch noch bestehen, wenn das Pilot-Forschungsprojekt im Jahr 2012 ausgelaufen sein wird, ist ein erklärtes Ziel. Dafür werden in Mainz und Kaiserslautern Daten und Erfahrungen der unterschiedlichen Akteure gesammelt und dokumentiert. Doch darüber hinaus, so war man sich einig, müssen auch die Angebote erweitert werden. So gibt es beispielsweise in Dänemark den "Wortbus", einen riesigen Truck, den Arbeitgeber in die Betriebe ordern können, um ihre Mitarbeiter vor Ort zu schulen- ohne Druck und Stigmatisierung. In den Niederlanden, so berichtete der Direktor der "Alfa-Projecten", Pieter de Graaf, kümmern sich zwei Stiftungen mit prominenten Schirmherren und- Damen um die Enttabuisierung des Themas- mit offensichtlich großem Erfolg: seit den 70er-Jahren konnte dort die Anzahl der Funktionalen Analphabeten signifikant gesenkt werden.

    Für mehr Leidenschaft in der Weiterbildungsarbeit und für ein ganzheitliches Lehrkonzept plädierte auch Marion Döbert. Denn die meisten Menschen, die nur unzureichend lesen und Schreiben können, haben auch andere Probleme.

    "Es kommen ja Komponenten dazu, dass die Kinder, die später einmal Funktionelle Analphabeten werden, aus Familien kommen, die oft Geldprobleme haben, wo eine erhöhte Arbeitslosigkeit ist, meistens sogar von beiden Elternteilen, wo gesundheitliche Beeinträchtigungen sind. Wenn Sie das jetzt verschiedenen Ministerien zuordnen würden, dann ist das sowohl ein soziales Problem als auch ein familiäres Problem, es ist auch ein Problem des Gesundheitssektors, es ist auch ein Problem, was mit Innerer Sicherheit zutun hat."
    Ein Dachverband, der dafür sorgt, dass die Forschungsergebnisse bundesweit umgesetzt und koordiniert werden, vergleichbar der französischen Nationalagentur für Alphabetisierungsfragen, wäre hilfreich, so eine Forderung auf der Mainzer Tagung. Das Ignorieren des Problems bewirkt, dass immer mehr Menschen von der gesellschaftlichen teilhabe ausgeschlossen werden.

    "Die Arbeitsanforderungen auf dem Arbeitsmarkt sind heute ganz andere als vor 15, 20 Jahren. Sie haben kaum noch einen Beruf, in dem sie nicht Dokumentationspflichten haben dadurch, dass dann Qualitäts- Zertifizierungssysteme eingeführt wurden. Zum Beispiel im Reinigungsbetrieb. Wir haben Reinigungsfrauen, die sagen, früher musste ich nur putzen, heute muss ich alles aufschreiben, was ich putze. Die sogenannten einfachen Tätigkeiten sind heute nicht mehr einfach, das heißt, die Anforderungen an Lesen und Schreiben sind enorm gewachsen."