Montag, 29. April 2024

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Besserung nicht in Sicht

George Bush kämpft gegen einen hoffnungslos verschuldeten Finanzhaushalt an. Sozialprogramme werden immer weiter zurückgefahren. Dabei hatte der Präsident eigentlich eine Menge vor: Zum Beispiel mit dem Bildungs-Programm "No Child Left Behind", auf deutsch: Kein Kind bleibt auf der Strecke. Damit sollten Kinder aus den unteren Einkommensschichten gefördert werden. Über Erfolg und Misserfolg berichtet Julia Kastein.

25.06.2005
    Letzter Schultag vor den Sommerferien in Washington – die Trommeltruppe der Eastern High School dreht ein paar lautstarke Runden vor dem schäbigen Schulgebäude. Ein Dutzend Lehrer, Eltern und Schüler hat sich an diesem Nachmittag vor dem 80 Jahre alten Klinkerbau mit den vergitterten Fenstern versammelt. Von Vorfreude auf die Ferien ist hier nichts zu spüren. Diese Washingtoner sind zornig. Auf ihren Plakaten steht: "Finanziert Schulen und nicht den Krieg und die Grossunternehmen.” Und: "Noch 68 Tage bis Schulbeginn – werden wir dann fließend Heißwasser und funktionierende Toiletten haben?”

    Kerry Sylvia tritt ans Rednerpult. Die blonde junge Frau arbeitet seit sechs Jahren als Lehrerin in der Cardozo Senior High School, einer von 167 öffentlichen Schulen in der Hauptstadt. Insgesamt 65.000 Kinder werden hier unterrichtet – unter unzumutbaren Bedingungen, wie die Demonstranten meinen.

    Erst vergangene Woche habe sie ihre Schüler bei 35 Grad Celsius unterrichten müssen, klag Kerry Syliva. Obwohl solche Temperaturen in Washington im Sommer die Regel sind, gibt es keine Klimaanlagen. In vielen Schulen funktionieren die Waschräume nicht, Fenster lassen sich nicht öffnen, der Putz bröckelt von den Wänden. Der miserable Zustand der Schulgebäude ist nur ein Problem, mit denen sich Lehrer und Schüler auseinandersetzen müssen. Noch gravierender sind die Konsequenzen von "No Child Left Behind” – zu deutsch soviel wie "Kein Kind darf auf der Strecke bleiben,” das Reformgesetz, mit dem Amerikas öffentliche Schulen auf Vordermann gebracht werden sollten. Doch vier Jahre nachdem No Child Left Behind mit großer Mehrheit von Republikanern und Demokraten verabschiedet wurde, ist die Enttäuschung groß.

    "Ich war anfangs ganz angetan von dem neuen Gesetz, weil ich wirklich dachte, dass es schlechten Schulen dabei helfen würde, besser zu werden und so Chancengleichheit für die Schuler zu erreichen, aber das ist nicht der Fall."

    Elizabeth Davis ist seit 32 Jahren Lehrerin. Ihre Schule im Südosten von Washington ist eine derjenigen, für die No Child Left Behind eigentlich gedacht war: Fast alle 370 Schüler sind Afro-Amerikaner, knapp 80 Prozent von ihnen kommen aus so armen Familien, dass sie an der Schule umsonst verköstigt werden – um wenigstens zwei Mahlzeiten am Tag zu garantieren. Die Sousa Middlle School ist ein gutes Beispiel für die gescheiterte Integration von Amerikas Schulens – die so genannte "education gap”, die Bildungskluft zwischen Arm und Reich, zwischen Schwarz und Weiß wird immer größer. No Child Left Behind sollte das ändern. Mit jährlichen Wissenstest für alle. Falls aber die Kinder einer Schule mehrere Jahre lang nicht das vorgeschriebene Niveau bei diesen Tests erreichen, drohten Sanktionen und im schlimmsten Fall die Schließung der Schule. Fast die Hälfte von Washingtons Schulen steht inzwischen auf der roten Liste – auch die Sousa Middle School, wo Elizabeth Davis unterrichtet. Der Schulleiter wurde bereits einmal ausgewechselt, außerdem können Eltern Nachhilfeunterricht einfordern oder ihre Kinder auf eine andere Schule schicken. Doch so werde die Schule kaum besser, meint Lehrerin Davis bitter:

    "Meiner Meinung nach wurden einfach nur die Anforderungen immer höher geschraubt – aber die Ressourcen, um diese Anforderungen auch zu erreichen, die haben wir nicht bekommen."

    Bildungspolitik ist in den USA eigentlich Ländersache – um die Schulen zur Teilnahme an No Child Left Behind zu bewegen, köderte Washington die örtlichen Verwaltungen mit Geld. Wer Dollar für Essensprogramme, zusätzliche Lehrkräfte und Fortbildungen will, muss mitmachen. Doch die bereitgestellten Bundesmittel seien längst nicht ausreichend gewesen, klagen Schulbehörden und Lehrergewerkschaften. Außerdem soll der Etat im kommenden Jahr schon wieder gekürzt werden. Elisabeth Davis sagt, sie habe von zusätzlichen Mitteln sowieso nichts gemerkt:

    "In meinem Klassenzimmer benutzen wir noch genau die gleichen alten Tafeln und Bücher wie vor No Child Left Behind."

    Die Tests selbst seien eine Zumutung für die Kinder an ihrer Schule, klagt Syliva Kerry – ein Fünftel der Kinder an der Cardozo High sind Ausländer, ein Viertel gilt als lernbehindert.

    "Alle Kinder müssen mitmachen – und das ist unfair, weil einige in ihren Heimatländern überhaupt nicht zur Schule gegangen sind. Die sind sowieso schon verstört genug – und nun zwingen wir sie zu diesen Tests, ohne irgendwelche Zugeständnisse zu machen. Sie sind aber doch gerade erst dabei, Englisch zu lernen."

    No Child Left Behind ändere nichts an den Grundproblemen, mit denen Lehrer in Amerikas Innenstädten zu kämpfen hätten:

    "Unsere Schüler kommen aus zerrütteten Familien, sie haben keine vernünftige Gesundheitsversorgung, einige wohnen in Obdachlosenheimen – das sind die Zustände, die die Regierung ändern sollte. Wir sollen diese Kinder unterrichten – aber sie kommen aus einem Umfeld, das Lernen sehr schwer macht."

    Sie sei mittlerweile skeptisch, ob die Bush-Regierung den öffentlichen Schulen wirklich helfen wolle. Weil so viele Einrichtungen die geforderten Maßstäbe nicht erreichten, rücke die Reform das gesamte öffentliche Schulsystem in ein schlechtes Licht. Gleichzeitig fördere die Bush-Regierung aktiv die Privatisierung des Schulwesens. Im Rahmen eines Pilotprojektes in Washington etwa können sozialschwache Familien ihre Kinder auf eine Privatschule schicken – das Geld für die Schulkosten wird aus dem öffentlichen Bildungsetat bezahlt. Sozialarbeiter Tom Wells ist Mitglied im School Board, dem gewählten Aufsichtsgremium für die Schulen in Washington:

    "Mit dieser Bundesregierung und diesem Präsidenten fragen wir uns wirklich, ob er nicht letztendlich die Abschaffung der öffentlichen Schulen in den Innenstädten und stattdessen die Privatisierung der Bildung anstrebt. Das ist schließlich eine 800 Milliarden Dollar schwere Industrie, die der private Sektor noch nicht in den Fingern hat."

    Doch längst nicht alle Betroffenen sind so skeptisch. Sadia White ist Direktorin der Harriet Tubman Elementary School in Washington. Über die Hälfte der knapp 500 Schüler sind Latinos, der Rest Schwarze und Asiaten.

    "Wir müssen endlich verstehen, dass wirklich jedes Kind zählt. Und dafür müssen wir mehr tun. Jedes Kind kann lernen, aber wir müssen jedem Kind individuell dabei helfen."

    Das Beste an No Child Left Behind seien die Daten, die durch die Tests generiert würden – so könne jede Schule genau sehen, wo ihre Schwächen, wo die Stärken seien. Diese Daten zwängen die Lehrkräfte zu mehr Rechenschaft.

    Wir wissen, was von uns erwartet wird – und als Profis müssen wir das nun umsetzen. Denken Sie mal, wie oft darf ein Arzt versagen? – Gar nicht. Und wir Lehrer? Wenn wir sagen, dass es genügt, wenn 30 Prozent den Test bestehen – dann sagen wir gleichzeitig, dass es okay ist, wenn 70 Prozent versagen.”

    Whites Schule gehört zu jenen, die Dank No Child Left Behind zusätzliches Personal einstellen konnte. In jeder Klasse gibt es nun eine zweite Lehrkraft, die sich um die vielen ausländischen und lernbehinderten Kinder kümmert. So konnte die Tubman Elementary School zwar ihre Testergebnisse verbessern – an den neuen hohen Standards ist die Grundschule bislang trotzdem jedes Jahr gescheitert. Schulleiterin White nimmt das zum Ansporn – für ihre Kollegin Elizabeth Davis ist es Beweis, dass die Schulreform gescheitert ist. Der Slogan No Child Left Behind sei doch ein Witz. In Wirklichkeit würden noch mehr Kinder auf der Strecke bleiben.