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Bestsellerfressen II. Es ist angerichtet

Man darf der deutschen Buchkritik im Großen und Ganzen ein hohes Niveau bescheinigen. Schriftstellerische Eleganz und exquisite literarische und wissenschaftliche Kenntnisse ergänzen einander aufs Trefflichste. Doch damit sich diese Kunstfertigkeit nur am würdigen Gegenstand beweist, scheint es eine Art Übereinkunft zu geben, dass als Buch nur zählt, was sich auf dem Höhenkamm abendländischer Geistproduktion bewegt. Das führt allerdings zu der merkwürdigen Situation, dass in den zahlreichen Besprechungen meist nur Produkte einer Minderheit für Minderheiten Beachtung finden. Während die Drucksachen, von denen die Branche wahrscheinlich lebt, kaum zur Kenntnis genommen werden, besonders eben die so genannten Bestseller. Irgendwann ist der Kölner Kabarettist Wolfgang Nitschke auf diese Marktlücke aufmerksam geworden. Seitdem darf man ihn getrost als Erfinder eines neuen, dem neu entdeckten Gegenstand angemessenen kritischen Tonfalls würdigen:

Walter van Rossum |
    "Liebe Leser! Die deutsche Gesellschaft für Sterbehilfe verschickt neuerdings nicht nur Zyankali und Videobänder von 7 Tage - 7 Köpfe'; nein, nein, seitdem es sich erwiesen hat, dass man sich auch zu Tode langweilen kann, hat sie auch einen Bestseller im Programm. Meine Damen und Herren, hochverkehrtes Publikum! Biddeschön und Vorsicht! Hier: das langweiligste Buch seit Erfindung der Höhlenmalerei: Helmut Schmidt - Auf der Suche nach einer öffentlichen Moral . Eine Schrift aus der Schriftenreihe: Tote erklären uns die Welt'."

    Bevor Wolfgang Nitschke auf den Altbundeskanzler stieß, entdeckte er die Memoiren des Altbundespräsidenten Richard von Weizsäcker. Bekanntlich präsidierten sie monatelang die Bestsellerlisten, doch erstaunlicherweise wurden sie kaum rezensiert, allenfalls musste man Grußadressen auf diplomatischen Niveau lesen. Nitschke aber entdeckte in diesen Memoiren eine Bibel deutscher Lebenslügen, ein Hauptwerk radebrechender Staatsmannprosa und ein Lehrbuch humanistischer Heuchelei. Das deutsche Feuilleton, das so gerne wilde Debattenthemen erfindet, war entweder zu vornehm oder zu feige, sich dieser Manifestation der allgemeinen Gesinnungslage anzunehmen. Und so geht es auch den vielen anderen Machwerken aus der Feder von z. B. Wolfgang Schäuble, Alice Schwarzer, Gräfin Dönhoff, Guido Knoop oder einer Dagmar Berghoff. Wahrscheinlich verlören die kritischen Gralshüter alteuropäischer Schriftkultur auf der Stelle den Glauben bei der Wahrnehmung der massentauglichen Vernunftproduktion unserer Tage. Da musste erst einer wie Wolfgang Nitschke kommen, der sich unerschrocken in die Niederungen der gedruckten Laberkultur abseilt. 1999 veröffentlichte er die erste Folge seines Bestsellerfressen und wäre beinahe selbst zum Bestseller geworden. Soeben erschien die Fortsetzung, und man muss dem Autor sogar Fortschritte in der Kunst fieser Verrisse bescheinigen, wenn er neue Schriftsteller des Grauens serviert:

    "Liebe Leser! Es kommt ja relativ selten vor, dass sich unsereins entschuldigen muss. Aber ich habe mal über die Autobiographie von Richard von Weizsäcker gesagt: 'Die unappetitlichste Selbstvergottung, die jemals zwischen zwei Buchdeckel gewürgt worden ist.' Ich nehme alles zurück! Nehmen Sie dies:

    Jürgen Fliege Der Menschenflüsterer .Pfarrer Jürgen Fliege hat seiner 220 Seiten langen Gotteslästerung den reizvollen Untertitel gegeben: 'Schutzlose Erinnerungen'. Mit anderen Worten: Er will auf Teufel komm raus für seinen Fliegendreck einen vor die Mappe kriegen! (...) Ich habe lange überlegt, wie man den Mann beleidigen kann. Dann habe ich mir gedacht: Ach, komm, zitieren reicht ja vielleicht auch:

    'Ich bin ein Gesundbeter, ein Exorzist, ein Schamane, ein Heimatforscher der Seele. Ich bin die Seenotrettung und ein bisschen Johannes der Täufer, der mit dem Kamelhaarmantel.'

    Allein schon dafür sollte ihn der Blitz beim täglichen Stuhlgang treffen! Allein: Das Elend hat kein Ende:

    'Ich rede nicht gerne darüber: Erst recht nicht vor lausenden und abertausenden von Fernsehzuschauern. Denn man darf mit seinen eigenen Wunden und Geschichten nicht auf den Markt gehen.' Meine Damen und Herren! Wandelte je ein plumperer Heuchelsack durchs Abendland?

    Seine Geschichten, die nicht auf den Markt dürfen oder sollen, gehen so: "Da klingelt eine Mutter, deren Tochter nach 'nein Unfall im Koma liegt, aufgeregt bei Pfarrer Fliege und bittet ihn an: 'Ich bitte Sie, gehen Sie zu meiner Tochter. Bitte!' und Fliege sinniert im gleichen Moment: 'Das sind ja biblische Zustände. Eine Tochter droht zu sterben, und die Eltern kommen zum jungen Rabbi, von dem sie so einiges Verrücktes gehört haben, und bitten die Tochter zu retten. Darauf läuft's doch hinaus.' Abba, bitte. 'Wenig später sitze ich in Jeans, T-Shirt und Sandalen in meinem Golf. Keine Lust, mich umzuziehen. Ich bin eben, wer ich bin. Hat er vor 2000 Jahren ja auch so gemacht.' Wie? Mit 'm Golf nach Golgatha? Ja, und dann sandalt er an den wenig amüsierten Ärzten vorbei in die Intensiv-Station, betatscht das komatöse Mädchen von oben bis unten und lallt dem Vögelchen die tauben Ohren voll. Auferweckung, Heilung und Dank-sei-Fliege sind hernach nur noch 'ne Sache von Sekunden.

    'Übermütig springe ich die Kliniktreppen hinunter und laufe über die Straße meinem treuen Esel zu.' Und mit 'Esel' meint er nicht sich selbst - obwohl er ja 'nen ziemlichen Schatten hat -, nee, mit 'Esel' meint er seinen Golf."

    Es scheint, Wolfgang Nitschke macht keine Gefangenen. Er haut gewaltig drauf. Andererseits kann man die Geschmacklosigkeiten und Dummheiten eines Jürgen Fliege schlecht vornehm analysieren, ohne Herrn Fliege zugleich aufzuwerten. Nitschke begibt sich mit Lust ins Handgemenge, allein um zu zeigen, dass man nicht studiert haben muss, um in Jürgen Fliege einen erbärmlichen Schriftsteller und hohen Priester der Verdummung zu entdecken. Nitschke zeigt bloß, wie gesund der gesunde Menschenverstand sein kann, wenn man nur davon Gebrauch machte. Es bedarf keiner elaborierten Argumentationsketten, um der obszönen Massenhaltung der Vernunft in widerwärtigen Buchkäfigen auf die Spur zu kommen. Allein, warum befreit sie denn keiner daraus? Wahrscheinlich sind wir alle schon viel zu sehr trainiert im Ertragen der Schlaumeiereien von Politikern und Leitartiklern. Nitschke definiert frische Schmerzgrenzen. Und nachdem wir viel gelacht haben, geraten wir auch noch ins Grübeln. Dass Jürgen Domian im Gespräch mit der schweren Hella von Sinnen pausenlos Peinlichkeiten produziert, ahnten wir, doch in welchem Maß dieser lebensberatende Scharlatan schier kriminellen Quatsch zu Protokoll gibt, das verstehen wir erst durch Nitschkes Art der Bestsellerverdauung. Ebenso macht er sozusagen im Klamauk klar, dass wir hinter Franz Alt Schlimmeres vermuten dürfen als den niveaulosen Amateurhumanisten, als der er sich in seinen Büchern auszeichnet. Und auch die Werke des Dalai Lama predigen was ganz anderes als pazifistische Meditationen. Irgendwie scheint das nie jemand so genau gewusst haben zu wollen.

    Nitschkes Bestsellerfressen bietet mehr als Lachstrafen für ein paar berühmte Doofe, nichts wäre ja auch langweiliger als Brutalhäme in Serie. Doch gerade wenn man das "Bestsellerfressen" am laufenden Buchmeter betreibt, erhält man einen ziemlich bleibenden Eindruck von der ganz normal schwachsinnigen Ideologieproduktion unserer Gesellschaft, wie sie sich etwa in der Gesinnungsprosa der beamteten Querdenkerin Rita Süßmuth Bahn bricht:

    "Liebe Leser! Wir haben es alle oft genug erlebt und erlitten, was passiert und was das mit uns macht, wenn uns' Rita eine Rede hält:

    Die Welt verschwimmt, Beton weicht auf, Berge murren zu Tal und knallharte Kanonenrohre kriegen Knoten wie die Löffel in den Suppen von 'Maggi-fix'. Kurz darauf merkt's dann auch der eigene Körper: Erst verlieren alle inneren Organe ihre Contenance, dann ver-schwinden die Muskeln, und Knochen werden zu Brei. Das Hirn löst sich auf in seine Substanzen und läuft fortan gedankenlos zusammen mit dem Rückenmark den letzten schweren Gang durch's Becken in die Schüssel. Ebola is' nix dagegen. (...) Meine Damen und Herren! Wenn die Pappdeckel der Schwarten von Politschamanen wie Schröder, Scharping, Schäuble, Schily und dergeichen sich vor lauter Lügen schamlos wie die Balken biegen, geht das - find' ich - voll normal in Ordnung, weil sie uns ja nur was weiß machen wollen.

    Wenn sie uns aber Moral und Sinn verkloppen, dann fühlen sich nicht nur alle inhaftierten Trickverbrecher und Gewaltbetrüger verhohnepiepelt, und verdumpfbackelt und verbumfiedelt, dann ist das auch - wie Helmut Kohl wohl sagen würde - einfach 'ganz und gar unerträglich'.

    Rita ist eine Jepsen-gleiche Ganztagsmahnerin: unsere übergrößte Unrechtsgeißlerin; eine 'den Finger-unermüdlich-in-die Wunden-Legerin' und die einzige 'Rund-um-die-Uhr-die-Sorgen-und-Nöte-der-Bürger-un'-Bürgerinnen-wirklich-Ernstnehmerin'. Quasi ein Weizsäcker mit Möpsen."

    In jedem seiner 27 kurzen Verrisse schafft Wolfgang Nitschke es, aus dem konkreten schiefen Detail die ganze dazugehörende schiefe Welt zu erschließen. Mit dem Lärm der Hanswurstiade tarnt er seine Kunst, aber wer sonst schon könnte die Kindergeschichten des ehemaligen Arbeitsministers Norbert Blüm fast nur durch bloßes Zitieren in irrwitzigen fünf Minuten als Schauerprosa eines schrecklichen Hirns begreiflich machen?