Mittwoch, 24. April 2024

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Bestürzend wirklich

Hier ist von einem ausgesprochen seltsamen Krimi zu berichten. Einem Krimi mit Leiche, soweit ist die Sache sicher. Aber wer war der Täter? Jedes Kapitel kommt zu einem anderen Ergebnis. Mal lässt die Autorin das Pendel der Schuld mehr zu David Dennis, einem mittellosen Weißen, ausschlagen. Verurteilt wegen des Mordes an der Tochter eines reichen Farmers wartet er bereits in einer Todeszelle auf seine Exekution. Mal deutet alles auf die Täterschaft Anthonys, Buddys und Harrys, dies sind drei Söhne der Fleisch-, Öl-, Milch- und Papier-Aristokratie Virginias.

19.11.2003
    Das ist allerdings nicht das einzig verwirrende an diesem Buch. Dieser Krimi ist ein Fall aus der Wirklichkeit. Ein Fall, wie er sich in dem US-Staat Virginia vor ein paar Jahren so ähnlich zugetragen hat. Glück für die Leser hier: Die kluge und feinfühlige Schriftstellerin Paule Constant war dabei und erzählt, was sie sah, erlebte und fühlte, und zwar aus ihrer, aus europäischer Sicht. Sie benutzt dafür ihre Hauptfigur, die Schriftstellerin Aurore Amer. Erfolgreich, charmant, französisch, soll sie für eine Zeit Hausschriftstellerin in Rosebud, einem Elitecollege für Mädchen in Virginia sein. Rosebud ist die Internatsschule, in der sich einst der Mord abspielte. Die Eltern, gleichsam die Hautevollée der Südstaatengesellschaft, sehen in der Ankunft der Französin eine willkommene Abwechslung. Sie hoffen auf vielleicht sogar einen kleinen Skandal, der die satte Langeweile vertreiben könnte.

    Und sie werden nicht enttäuscht. Bei den Recherchen zu ihrem neuen Roman besucht Mme Amer eines dieser amerikanischen Privatgefängnisse, die spezialisiert sind auf Hinrichtungen. Denn sie will von einer Frau schreiben, die sich hübsch macht, um einer Exekution beizuwohnen. Das waren auch die ersten Vorarbeiten Paule Constants zu �Sex und Geheimnis� ...

    5.00 Es genügte, aus dem Telefonbuch eine Nummer eines der großen Gefängnisse in Virginia herauszusuchen. Meines hieß Sussex One. Hinzufahren. Und sie haben mir ihr ganzens Programm gezeigt. 6.10 Und ich habe noch gesagt, ich brauche eigentlich keine Szenen aus dem Innenleben dieses Gefängnisses. Mein ganzer Roman dreht sich nur um den Blick dieser Frau. Aber man sagte mir, da sei ein Todeskandidat, der von mir gehört habe und mich sprechen wolle. Das schien mir das Mindeste, was ich für einen Verurteilten tun könne. Ich bin wirklich nicht als Voyeur gegangen, ich bin hingegangen, obwohl ich nicht wollte und fand mich wieder in einem Thriller, in einer unglaublichen Geschichte. Der Mann erklärte mir, dass er unschuldig sei. Dass der europäische Gerichtshof und sogar der Papst um seine Begnadigung gebeten haben. Aber er wurde schließlich hingerichtet, ein junger Mann von 30 Jahren. Und ich musste das Buch hier schreiben, um mich von diesem Erlebnis zu befreien.

    Es ist Paule Constants achter Roman und der zweite der in Amerika spielt. Auch ihr letztes Buch, Vertrauen gegen Vertrauen, eine Art akueller Zwischenbilanz der Frauenbewegung, besetzt mit arrivierten Damen der denkenden Zunft, spielt dort. Dieses mit Frankreichs wichtigstem Literaturpreis, dem Prix Goncourt, ausgezeichnete Buch hat ihr, sagt Paule Constant, zu etlichen Lehraufträgen in Amerika verholfen und zu der Erkenntnis....

    3.00 Für mich bietet Amerika das perfekte Romansetting. Einerseits diese erstaunliche Modernität, deretwegen ja auch wir Europäer gerne Amerikaner sein wollen und es halbwegs auch schon sind. Und andererseits lebt Amerika noch im 19. Jahrhundert. Mit seinem Puritanismus und seiner Religiosität. Amerika ist gespalten: an der Oberfläche die absolute Zukunftsbegeisterung, aber der moralische Unterbau hängt immer noch komplett in der Vergangenheit.

    Nämlich in einer von religiösen Ängsten und Anweisungen, von blutrünstigen Bilder und himmlischen Erlösungangsphantasien geprägten Zeit. Einer Zeit, die in Teilen Europas allerdings auch noch nicht so lange vorbei ist. Paule Constant erzählt...

    32.00 Ich bin Katholikin, zwar nicht mehr praktizierend, aber meine Familie war sehr gläubig. Am Tag der Kreuzigung des Heilands schlossen meine Großmütter die Fensterläden. Ab drei Uhr waren alle nur noch auf den Knien und beteten. Denn das soll ja die Todesstunde von Jesus gewesen sein. �Da riss der Himmel entzwei�, steht in der Bibel. Darauf wartete ich als Kind immer. Jahrzentelang hatte ich an diese Momente der Kindheit nicht mehr gedacht, bis ich über die Hinrichtung in Virginia schrieb. Auch das war für mich die Hinrichtung eines Unschuldigen, wie Jesus einer war.

    �Wenn man über die Todesstrafe reden will, tut man es besser unter einem Kruzifix � das spart Zeit.�, schreibt Paule Constant in ihrem aktuellen Roman �Sex und Geheimnis�.
    Der Roman enthält aber auch interessante Anmerkungen zur Vorliebe einiger Frauen für inhaftierte Männer. Zum Beispiel auch die fiktive Schriftstellerin Amer fühlt sich stark zu dem Todeskandidaten hingezogen. Warum beantwortet Paule Constant so ...

    31.00 Da ist eine Lust sich zu opfern. Und dann ist da noch eine große Angst vor der Sexualität. Im Grunde genommen haben diese Frauen die Möglichkeit, risikolos mit ihrer Sexualität zu spielen gegenüber einem Mann, der hinter Schloss und Riegel ist .. wie ein wildes Tier.

    Paule Constant hat mit �Sex und Geheimnis� einen Doku-Krimi geschrieben, dessen Stärke seine ethnologisch-poetischen und originellen Beobachtungen amerikanischer Elite-Clans sind, desweiteren die feine und durchblutete Zeichnung der Hauptfigur, Constants Alter Ego, Aurore Amer.
    Andererseits: Der Krimi vergibt seine Stärken dort, wo er den Leser fahren lässt, mit dem Hintergedanken, der würde schon aus der Fülle von Indizien, Abhängigkeiten und Verdachtsmomenten seine richtigen Schlüsse ziehen, wer denn nun Schuld am Tod des Mädchens aus Rosebud hat.
    Wäre diese �Führungsschwäche� der Autorin nicht, könnte man glatt sagen: Paul Constant hat den Roman zur aktuellen euro-amerikanischen Kulturkrise geschrieben.

    Paule Constant
    Sex und Geheimnis
    Frankfurter Verlagsanstalt, 222 S., EUR 19.90