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Besuch bei einer alten Dame

Im vergangenen Sommer hat der Eiffelturm mit 1,5 Millionen Besuchern in der Hochsaison einen neuen Rekord aufgestellt. Das Wahrzeichen lockt nicht nur Einheimische, sondern Touristen aus der ganzen Welt an. Auch die Deutschen machen der "alten Dame" gerne ihre Aufwartung

Von Suzanne Krause | 30.10.2011
    Auf dem weitläufigen Parvis zu Füssen des Eiffelturms haben sich schon am frühen Vormittag lange Besucherschlangen vor den Kassenhäuschen gebildet, in der Luft liegt babylonisches Sprachgewirr. Über den Köpfen der Touristen steigt kühn die eiserne Dame in den wolkenlosen Pariser Himmel auf: 122 Jahre hat sie nun auf dem Buckel und ist, dank regelmäßiger Renovierungsarbeiten, ohne einen Rostfleck. Francoise ist aus Südfrankreich angereist, um la Tour Eiffel aus der Nähe zu sehen.

    "Es stimmt, der Eiffelturm ist eine alte Dame. Aber genau deshalb wollen meine Familie und ich ihr auch unsere Aufwartung machen."
    Genau in der Mitte des Parvis, am Knotenpunkt der vier Achsen des Monuments, legt ein langaufgeschossener Mann den Kopf in den Nacken. Olivier Bleys ist 41 und Schriftsteller mit langjährigem Erfolg. Sein Roman "Le Phantome de la Tour Eiffel", der auch in Deutschland erschien, wurde 2002 als bestes historisches Werk prämiert. Bleys beschreibt -mit viel Liebe zum Detail- den Bau des Eiffelturms - in Krimimanier: es geht um scheinbaren Mord, um spirituelle Sitzungen, Intrigen gegen Gustave Eiffel und um ein Sittengemälde vom Paris der Belle Epoque.

    "Der Eiffelturm ist, für den Westen und einen Gutteil der restlichen Welt, das Emblem des Vertikalen. Dabei glaube ich, dass Gustave Eiffel sein Bauwerk eigentlich liegend konzipiert hat. Wenn Sie den Turm horizontal drehen und spiegelbildlich verdoppeln, erhalten Sie ein Bauwerk, das an die Eisenbahnbrücken erinnert, die Eiffel errichtete, bevor er seinen Turm baute. Im Knotenpunkt der vier Turmachsen wird dieser Aspekt augenscheinlich. Wenn Sie hingegen den Eiffelturm wie gewohnt betrachten, mit dem Blick auf den Trocadero oder das Marsfeld, ist dieses Symbol gewordene Bild des Eiffelturms einfach zu mächtig. Es erschlägt den Blick auf den Turm, wie er eigentlich erbaut wurde."

    Zwischen den Besucherströmen drehen fliegende Händler unablässig ihre Runden, bepackt mit Eiffelturm-Schlüsselanhängern, Miniaturtürmen. Ein Dauerbrenner, schon seit der Einweihung des Monuments. Damals allerdings sah Eiffels Meisterwerk etwas anders aus als heute, erzählt Philippe Simon: es war beispielsweise verziert mit eisernen Schnörkeln. Die sind auf den historischen Aufnahmen zu sehen, die der Architekt in Archiven aufstöberte, für die Sommerausstellung auf dem Eiffelturm:

    "Damals sahen die Kassenhäuschen auf dem Vorfeld aus wie Berghütten. Die Besucher sollten den Eindruck haben, einen Berg zu erklimmen. Die hölzernen Berghütten standen auf Felsbrocken, die man, eine große Neuheit, aus Beton gegossen hatte. Allerdings war der erste Beton noch sehr witterungsanfällig. Damals plante man, den Eiffelturm nach 20 Jahren abzureißen. Deshalb waren viele Bauten um und auf dem Eiffelturm keineswegs für die Ewigkeit gedacht."

    Resolut bittet die Aufzugswärterin die Touristen, ans Ende der Kabine durchzugehen. Fast lautlos schwebt der Lift mit den verglasten Wänden in Schrägfahrt aufwärts. Zum ersten Stock sind es 57 Meter und eine Minute Fahrt. Mit Panoramablick. Ah!, Oh!, klingt es von allen Seiten, während unten die Seine immer mehr zum schmalen Band wird und die Menschen auf dem Parvis auf Stecknadelkopf-Größe schnurren.

    Die erste Etage gilt als die Kultur-Etage. Vor allem dank des Pavillon Ferrié: im dortigen Eiffel-Kino läuft eine Diaschau zum Bau des Turms, im Raum davor flimmern in Glasvitrinen Ausschnitte aus Filmen, in denen La Tour Eiffel mitspielte: Streifen von Buster Keaton bis James Bond. Nebenan hängen Eiffelturm-Motive von Malern quer durch alle Stilrichtungen. Dem Pavillon gegenüber belegt derzeit "Photoquai" eine weiträumige Parzelle: Die großformatigen Aufnahmen stammen von Fotokünstlern aus der ganzen Welt. Eine Ausstellung, die sich über mehrere Orte an den Seine-Kais erstreckt. Stephane Dieu weist mit der Hand stolz auf die Fotowände: Der Historiker ist bei der Eiffelturm-Betreibergesellschaft zuständig für den Kulturbereich.

    "Die meisten Leute denken, der Eiffelturm sei nichts als ein Touristenrummelplatz. In Wirklichkeit aber versuchen wir, hier auch Künstlern Raum zu geben. Die Bilder bei Photoquai beispielsweise haben nichts mit dem Eiffelturm zu tun. Doch da wir hier Besucher aus der ganzen Welt empfangen, sind wir auch ein ausgezeichneter Ort, um künstlerisches Schaffen rund um den Globus zu präsentieren. Klar, die meisten Touristen lockt der wunderbare Blick über Paris hierher. Aber die Künstler Ende des 19. Jahrhunderts haben sich nicht getäuscht: Sie bezeichneten den Eiffelturm als wahrgewordene Utopie. Das zeigt doch, dass Gustave Eiffel seinen Bau schon gewissermaßen als Kunstwerk konzipierte."

    Im zweiten Stock stolpert der Besucher beim Verlassen des Aufzugs fast in die nächste Souvenirboutique. Von Tassen, Regenschirmen, Wandtellern strahlt der Eiffelturm. Olivier Bleys eilt eine Treppe hoch, zum letzten Aufzug. Der Schriftsteller setzt zum Gipfelsturm an. Knapp ein Dutzend Fahrgäste passen in die Kabine, bei der steilen Aufwärtsfahrt wird allen die Nasenspitze ein bisschen weiß: Bald liegt der Eiffelturm-Parvis 300 Meter unter ihnen. An jeder Eisenstrebe, die der Aufzug passiert, macht es "Klack".

    "Mir scheint, dass man sich erst ab dem zweiten Stock der Höhe bewusst wird. Weil der Horizont immer weiter wird, vor allem aber: weil der Eiffelturm immer schmaler wird. Auf dem ersten Stock hingegen empfindet niemand Angst, weil er einfach sehr stabil ist. Und das hinzukriegen, darin bestand die größte Schwierigkeit beim Bau. Der Rest war architektonisch längst nicht so anspruchsvoll. Um den ersten Stock perfekt horizontal zu errichten, wurde Sand unter die vier Standbeine gepumpt. Da ging es um Millimeter. Denn wäre der Aufbau nur einen Zentimeter nach links oder rechts abgedriftet, hätte das ganze Bauwerk umfallen können."

    Eine steile, enge Eisentreppe führt zum schmalen Rundgang über der 3. Plattform, gleich unter der Turmspitze. Der Pariser Verkehrslärm dringt hier nicht mehr hoch, die Seine ist nur noch ein Strich in einer steinernen Landschaft. Olivier Bleys ist bei einem Lieblingsthema angelangt: der Belle Epoque. Der Bau des Eiffelturms fiel in eine Epoche, die geprägt war von der breiten Begeisterung für Wissenschaft und Fortschritt. Für Rationales also. Gepaart mit dem Glauben an spirituelle Mächte, wie die Kommunikation mit den Toten. Dem Irrationalen.

    "In gewisser Hinsicht stellt der Eiffelturm, wenigstens für mich als Romanautor, den Verbindungsstrich dar zwischen diesen beiden Universen, dem des Rationalen und dem des Irrationalen. Universen, die heutzutage nicht mehr zusammenfinden. Zum einen ragt das Bauwerk sehr konkret, sehr wissenschaftlich, sehr rational in der Landschaft auf. Und zum anderen ist es zum Bestandteil der Kultur und damit der allgemeinen Vorstellungswelt geworden. Es ist heute ebenso im kollektiven Unterbewusstsein wie im kollektiven Bewusstsein verankert. Und damit ist der Eiffelturm einfach unersetzlich."