Donnerstag, 25. April 2024

Archiv

Besuch im Berner Oberland
Grindelwald - Bergdorf zwischen Eiger und Schreckhorn

Es sind die alpinistischen Dramen in der Eiger Nordwand, die Grindelwald weltweit bekannt machten. Schon lange davor allerdings zog der Ort Besucher an: Sie bewunderten die lieblich grünen Almen, gerahmt von kühlem Bergwald, und die mächtigen Schnee und Eis bedeckten Berner Alpen mit ihren Gletschern.

Von Andreas Burman | 30.12.2018
    Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
    Der Eiger mit dem langen Mittellegigrat und der berüchtiogten Nordwand unter dem Gipfel oberhalb von Grindelwald (Deutschlandradio / Andreas Burman)
    Juli 1936, Berner Oberland. Die beiden Bayern Toni Kurz und Andreas Hinterstoißer haben sich eine der letzten Pionierleistungen in den Alpen vorgenommen. Als erste wollen sie die Eiger-Nordwand durchsteigen. Grimmige 1.650 Höhenmeter Fels, Schnee, Eis bis knapp an die Viertausender-Grenze. Sie verlangen das Äußerste ab: Technisch, physisch und psychisch.
    Auf dem angrenzenden Bergsattel der Kleinen Scheidegg, dem Ausgangsort auf 2.060 Metern, haben sich internationale Beobachter versammelt. Von einer Hotel-Terrasse aus verfolgen sie mit Fernrohren, wie die beiden Bergsteiger mit höchstem Können und Wagemut aufsteigen.
    Doch dann ändert sich die Situation. Zwei ambitioniert nachfolgende österreichische Bergsteiger geraten in Not. Unmöglich, sie ihrem Schicksal zu überlassen. Kurz und Hinterstoisser entscheiden sich zur Umkehr. Ein Wettersturz verschlechtert die Lage dramatisch. Der Abstieg wird zum Todeskampf.
    Nach den drei anderen stirbt zuletzt Toni Kurz - völlig erschöpft: Am nächsten Morgen finden Bergretter ihn frei an einem Seil hängend, überzogen von einer dicken Eisschicht.
    Philipp Stölzl hat die Geschichte 2008 unter dem Titel "Nordwand" packend verfilmt. Das schlimmste der Dramen, die aus der Nordwand die "Mordwand" gemacht haben.
    Dramen in der Nordwand bis heute wichtig
    "Das Unwahrscheinliche oder das, was unglaublich ist, dass ja bis zum heutigen Tag geblieben ist diese Anziehungskraft des Eigers. Man spricht ja manchmal auch von einem Mythos. Den Chinesen ist das schnuppe, aber gerade aus Deutschland zum Beispiel und Österreich kommen immer wieder vielleicht ältere Generationen, so eben in meinem Alter oder so, die haben das noch so am Rande mitgekriegt, die Dramen in der Eiger Nordwand, und wollen das selber sehen. Das spielt noch eine wichtige Rolle."
    erläutert der Mitsechziger Marco Bomio, Leiter des Heimatmuseums Grindelwald, und führt mich in den Eiger-Audioraum, wo sich fünf kurze Szenen zur Geschichte des Bergs anhören lassen. Das Zimmer ist abgedunkelt, damit das Zuhören zum "Kino für die Ohren" wird:
    "Mehringer … War das nicht einer der jungen Deutschen, die in den 30er Jahren an der Eiger Nordwand umgekommen sind?" – "Genau. 1935, zusammen mit seinem Freund Max Sedlmayr." – "Sind die beiden abgestürzt?" – "Man weiß es nicht, vielleicht auch erfroren." – "Und jetzt also hat man Mehringers Schuh gefunden, nach 76 Jahren?" – "Mhm."
    Viele Grindelwalder betrachten das Wetterhorn als ihren Hausberg
    Viele Grindelwalder betrachten das Wetterhorn als ihren Hausberg (Deutschlandradio / Andreas Burman)
    Ein gutes Dreiviertel Jahrhundert später ist der etwa dreißigjährige Luxemburger Jean Müller mit der Zahnradbahn von Grindelwald auf die Kleine Scheidegg gefahren. Ihm genügt nicht ein gewisses Schaudergefühl beim bloßen Blick auf den schroffen Eiger. Gemeinsam mit Freunden will er früh am nächsten Morgen den Berg besteigen. Über den beliebten Mittellegi-Grat von Osten allerdings, nicht durch die Nordwand, und mit Bergführer, dennoch:
    "Man hat natürlich auch im Kopf alle Sachen, die am Eiger passiert sind, all die Geschichten, all die Filme, die viele Leute gesehen haben. Also eine gewisse Anspannung ist schon da, aber auch sehr viel Vorfreude, also wir haben ein gutes Team, guten Geist. Ist mehr Vorfreude, aber eine gewisse Aufregung ist immer schon dabei."
    Bevor es mit der Jungfraubahn noch einmal 1.100 Höhenmeter zum Tourenstart hinauf geht, genießt er mit der Gruppe einen Kaffee auf der sonnen-beschienen großen Terrasse des Bellevue des Alpes. Als dieses Hotel Mitte des 19. Jahrhunderts erbaut wurde, ahnte der Besitzer nicht, dass später von der rückseitigen Terrasse mit sehr gutem Nordwandblick die Dramen mit großen Fernrohren aufgeregt verfolgt würden. Das Haus fand seinen Platz auf dem 2.060 Meter hohen Pass aus einer lukrativen Erwägung: Es lag genau auf dem Weg, auf dem Reisende traditionell vom Lauterbrunnental aus nach Grindelwald wanderten. Übrigens 1779 auch Johann Wolfgang Goethe.
    Im Lauterbrunnental hatte ihn der beeindruckende Staubbachfall zu dem berühmten "Gesang der Geister über den Wassern" inspiriert. In Grindelwald erwartete ihn der damals gewaltige Anblick von Oberem und Unterem Grindelwald-Gletscher, deren mächtige Eiszungen zwischen steilen Bergflanken weit herausquollen. Ihre Wirkung auf den Dichter? Marco Bomio:
    "Hier hat er leider nichts geschrieben, außer einer seiner tausend Briefe an seine Charlotte von Stein. Und da beschreibt er, wie er beim Unteren Gletscher das Eis berühren gegangen ist und gleich neben dem Eis hat er Erdbeeren gepflückt. Leider schreibt er nicht, wo er übernachtet hat, aber mit größter Wahrscheinlichkeit auch im Pfarrhaus, weil’s keine Hotels gab."
    Die feinen Damen kamen mit der Sänfte
    Gut, dass der Pfarrer nichts von Goethes schnöder "Ignoranz" erfahren hat. Es würde ihn womöglich einiges an Barmherzigkeit gekostet haben, um ihn dennoch zu bewirten. Hätte Goethe bereits das Bellevue des Alpes erleben können, er hätte einigen Komfort genossen. Die Gäste reisten bereits anders an:
    "Meistens zu Fuß, auf dem Pferd oder sind hochgetragen worden auf der Sänfte, vorne und hinten ein Träger und in der Mitte ein Stuhl. Quasi mit zwei Stangen für die Träger. Und das war Standard. Für die feineren Damen."
    erzählt Hotelier Andreas von Almen. Sein legendärer Vorgänger Adolf Seiler hatte in dem Haus viktorianisches Flair geschaffen, was vermögende Engländer schätzten. Er sorgte auch für Innovationen wie das erste Telefon in Grindelwald. Er bediente es höchstpersönlich: "Hier Seiler Anton, wer dort? Fasset euch kurz!" gebot er seinen Anrufern. Für die bergbegeisterten Gäste stellte er auch eine Kanone auf, so von Almen:
    "Und mit dieser Kanone wurde dann geballert, sobald irgendein Gast den Gipfel der Jungfrau, des Mönch oder des Eigers erreicht hat. Wenn die Gäste dann zurückkamen, wurde die ganze Tour mit Champagner begossen."
    Den Champagner-Abschluss immerhin gibt es bis heute noch hin und wider. Der Tourismus boomte so richtig, als die elektrische Wengernalpbahn 1893 ihren Betrieb aufnahm. Sie war auch Grundlage des Wintertourismus ab 1925. In der Glanzzeit berichtete regelmäßig ein Korrespondent des Londoner Gesellschaftsmagazins "Tatler" aus dem Hause.
    Die Welt von gestern im Bellevue des Alpes, einem der letzten schweizer Grand Hotels des 19. Jahrhunderts
    Die Welt von gestern im Bellevue des Alpes, einem der letzten schweizer Grand Hotels des 19. Jahrhunderts (Deutschlandradio / Andreas Burman)
    "Man wollte es untereinander lustig haben und die Zeit genießen. Man wollte eben ein bisschen Curling spielen, vielleicht einmal das Lauberhorn besteigen pro Tag und mit den Skiern runterfahren, pünktlich zum High Tea in der Tee-Veranda wieder hier sein und dann in Black Tie und die Damen in Lang zum Dîner, das waren einfach die Zeiten vor dem Zweiten Weltkrieg."
    Der ausgebildete Architekt von Almen hat das Haus bei seiner Übernahme vor 20 Jahren gleich umfangreich zu restaurieren und renovieren begonnen. Wenn seine Gäste durch die alte Drehtür eintreten, erleben sie den Charme eines der wenigen noch existierenden schweizer Grandhotels des 19. Jahrhunderts: Die englische Lounge, der kleine französische Festsaal, in dem gerade ein Gast am Klavier sitzt, die wunderbare originale Bar aus den 1920er Jahren, auf dessen Piano während des Nordwand-Drehs im Haus auch Schauspieler Ulrich Tukur spielte, die angenehm knarrenden Holzstufen des Treppenhauses, nicht zuletzt die nostalgischen Zimmer mit ausgesuchten Stofftapeten. Grandeur von gestern zum Anfassen und Genießen.
    Komfort schon früh auch in der Höhe
    Bietet sich von der Kleinen Scheidegg der Nahblick auf die Nordwand, so eröffnet die gegenüberliegende Talseite Grindelwalds im First-Gebiet mit dem schönen Bachalpsee auf etwa 2.200 Metern einen herrlichen Gesamtblick auf die Berner Alpen. Den genießen unter vielen Besuchern aus aller Welt auch zwei pakistanische Studenten:
    "Es ist absolut magisch, wirklich toll, jeden Penny wert. So etwas habe ich noch nirgendwo sonst gesehen." –
    "Das Gefühl ist unbeschreiblich, es ist überwältigend, jeden einzelnen Penny wert, einfach überwältigend." –
    "Ich muss eines hinzufügen: Am besten hier sind die Einrichtungen. Sie sind großartig, man muss sich um nichts Gedanken machen. Wir waren am See und da gab es tatsächlich eine Toilette – mitten im Nirgendwo! Und du kannst hier, auf über 2.000 Metern, auch essen gehen…" –
    "Ich habe gerade meine Familie zu Hause per Video angerufen und das erste, was sie fragten, war: Wie ist das von da oben bloß möglich? Das sind Sachen, die man mal erlebt haben muss. Ich rate jedem, einmal hierher zu kommen!"
    Manchmal braucht es den Blick von außen, um Dinge wieder richtig zu schätzen. Dass sich die Grindelwalder schon früh auch in der Höhe um Annehmlichkeiten für ihre Gäste bemühten, das bezeugt das Berghaus auf dem Faulhorn, eine halbe Wanderstunde oberhalb des Bachalpsees. Das Kerngebäude stammt aus dem Jahr 1832 und könnte als Vorläufer der Berghütten betrachtet werden. Der "Baedeker" bemerkte noch 20 Jahre nach Eröffnung, das Haus erreiche "nicht die Bequemlichkeit des Rigi-Hotels" im Tale. Ein weiterer Reiseführer warnte gar:
    "Allen Damen, die nicht wild entschlossen sind, auf dem Faulhorn zu nächtigen, sei dringend angeraten, die Nacht dort nicht zu verbringen. Ich sah Gäste übernachten, die wirkten wie Schiffs-Passagiere auf stürmischer See."
    Von der Erfahrung des französischen Schriftstellers Alexandre Dumas berichtet Eugen E. Hüsler in seinem Buch über 100 Highlights in den Alpen. Nach stundenlangem Aufstieg bei widrigem Wetter erreichte der Autor der drei Musketiere erschöpft und durchgefroren das, wie er schrieb, "höchste Haus Europas". Um nicht zu erkranken, bat er den Wirt um Holz für ein wärmendes Feuer. Der Wirt tat sogleich wie gewünscht und brachte Dumas später sogar zum Kochen: bei Berechnung von stattlichen 30 Franken.
    Solchen Unannehmlichkeiten zum Trotz wurde bald der Speisesaal weithin bekannt als Ort für gute Unterhaltungen und fröhliche Abende. Das große Zimmer im Erdgeschoss ist bis heute original erhalten mit Anrichten, altem Ofen, Eck-Couch, Utensilien wie einem schweren Fernrohr zum Ausziehen und dem langen Tisch in der Mitte, an dem die Gäste zweimal täglich zur "Table d’hôte", der Gästetafel also, zusammenkamen. Besonders Wirt Fritz Bohren, genannt "Pintenfritz", wurde gerühmt für seine umsichtige Sorge um das Wohlergehen der Gäste - gelegentlich auch mal um das eigene, wie der heutige Wirt Christian Garbani augenzwinkernd erzählt:
    "Manchmal, bei den Gästeabrechnungen, hat er unten noch 5 Franken GSG dazugeschrieben. Viele Leute haben wahrscheinlich gedacht, es sei eine Steuer oder so was, und haben bezahlt. Und zwischendurch hat jemand gefragt: Fünf Franken GSG, ja was das soll? Da hat er gesagt: Ja, geit’s, so geit’s – geht es, dann geht es."
    Der Pintenfritz wusste, wie er zum Trinkgeld kam.
    Nachhaltig seit rund 500 Jahren
    Über dem historischen Speisesaal lässt sich bis heute in sechs Doppelzimmern – mit Fensterblick auf Eiger, Mönch und Jungfrau – in der originalen Biedermeier-Ausstattung nächtigen: Vom knarrenden Riemenboden über die Kastenbetten bis zur Waschschüssel mit Wasserkrug. Gratis dazu beeindruckende Sonnenuntergänge, gerade im Herbst, wenn ein Nebelmeer über den Tälern wallt.
    Der Blick auf Grindelwald von der Höhe zeigt, dass der Ort nicht wie so manche andere rundum zugebaut ist, sondern den Charakter einer Streusiedlung behalten hat. Abgesehen vom Ortskern entlang der Dorfstraße gibt es zwischen den Häusern im alpenländischen Stil viel Grün. Wiesen mit Obstbäumen und Weiden liegen nah um den Ort. Dass es bis heute nicht anders gekommen ist, das geht vor allem auf ein Dokument zurück, das eigentlich die Forderungen nach Ökologie und Nachhaltigkeit unserer Zeit schon vor 500 Jahren beachtet hat. Es ist der sogenannte Taleinungsbrief von 1538 zur Nutzung der Alpweiden, erklärt Marco Bomio:
    "Das ist also eigentlich ein alpwirtschaftliches Dokument. Und in diesem Taleinungsbrief heißt es: Auf dem Alpgebiet darf nicht gebaut werden einfach so. Darum haben wir hier auf der Sonnenseite keine Überbauungen oder Hotel-Komplexe oberhalb dieser 1.500er Linie ungefähr, wo die Alpen beginnen, also die Alpweiden. Das haben wir alles nicht."
    "Hier ist alles noch echt. Das ist unsere Stärke." Hanspeter Baumann, Chef von Eigermilch.
    "Hier ist alles noch echt. Das ist unsere Stärke." Hanspeter Baumann, Chef von Eigermilch (Deutschlandradio / Andreas Burman)
    In den Taleinungsbrief wurde auch das sogenannte Kuh-Recht von 1404 übernommen, das verhindern sollte, die Alpen mit Kühen zu überweiden. Bis heute wird für jede Alp die verträgliche Zahl an Tieren festgelegt und dann unter den Bauernhöfen aufgeteilt. Der Taleinungsbrief regelt grundsätzliche Rechte und Pflichten, sagt Bomio:
    "Ich kann zum Beispiel anfragen für Brennholz, und dann krieg‘ ich gratis Brennholz. Ich muss dann aber auch zum Beispiel ein Stück Zaun jedes Frühjahr wiedererstellen, wenn der vom Winter, vom Schnee zerstört wurde oder so. Oft macht das aber der Bauer, der das Land pachtet. Wir haben es immer selber gemacht, solange die Kinder klein waren, weil das war ein Event. Da ging man am Sonntag hoch, machte diesen Zaun, hat vielleicht noch ein Feuer gemacht und so."
    Heute gibt es noch rund 70 Milchbauern im Dorf mit durchschnittlich 14 Kühen. Sie produzieren nach den Vorgaben des schweizer Bergprodukt-Labels weitgehend mit eigenem Hofdünger und Futter.
    "Klein, übersichtlich, nachverfolgbar, das ist für die Produktion sehr wichtig. Der Käser weiß, von wem die Milch kommt, er ist immer im Gespräch mit dem Produzenten, wenn es gewisse Schwierigkeiten gibt. Das klappt sehr gut hier", erläutert Hanspeter Baumann, Chef von Eigermilch. Diese Gesellschaft haben die Bauern vor zehn Jahren gegründet, um ihre Produkte von der Alp bis zur Ladentheke selbst und authentisch zu vermarkten. Und sie erhält eine alte Tradition:
    "Die Landwirte sind zu 95 Prozent noch in einem Zweitberuf tätig, weil die Betrieb klein sind, und dieser befindet sich in der Regel in der Tourismus-Industrie, also am Sessellift, an der Gondelbahn, beim Skilift im Winter, als Skilehrer oder als Zimmermann auf der anderen Seite. Uns so ist die Verbindung Landwirtschaft, Tourismus sehr eng. Und das sieht man, dass eben bewirtschaftet wird. Man muss nichts künstlich machen oder Tiere herein fliegen, damit das noch ein Gebimmel auf der Alp ist. Das ist hier alles noch echt und das ist die Stärke von Grindelwald."
    Eiger-Express: Gewinn oder Niederlage?
    Um die Landschaft ist es auch in einem mehrjährigen Streit um den Eiger-Express gegangen. Diese Gondel-Umlaufbahn soll spektakulär entlang der Eiger-Nordwand hinauf zur Umsteige-Station der Jungfraubahn schweben. Bis zuletzt hat die Stiftung Landschaftsschutz Schweiz versucht, diesen Bau im Gebiet des UNESCO-Weltnaturerbes Schweizer Alpen Jungfrau-Aletsch zu verhindern. Vergeblich. Eine der größten Niederlagen der letzten dreißig Jahre, bedauert Geschäftsführer Raimund Rodewald:
    "Man zerstört eigentlich, was man touristisch verkaufen will. Es ist wirklich ein weltweites Monument, diese Eiger-Nordwand, und ich kann es heute noch nicht verstehen, wie man eigentlich touristisch auf diese Idee kommen konnte, eine Bahn vor diese Wand zu bauen, zu stellen. Vielleicht hätte man die Holländer, die diese Berge gemalt haben in der Schweiz, oder auch die Engländer, die den Alpinismus gebracht haben, befragen müssen, was sie jetzt zu diesen neuen Erschließungen gedacht hätten. Und ich glaube, sie würden sich im Grabe umdrehen."
    Hotelier von Almen hat ebenfalls gegen den Eiger-Express gekämpft. Von der Kleinen Scheidegg blickt er deprimiert auf den Berg. Ein Alptraum werde Wirklichkeit, sagt er:
    "Es werden diese Fundamente gebaut, die dann eben diese gewaltigen Masten tragen werden, sechzig Meter hohe Masten. Von hier aus werden die eben leider wirklich vor die Eiger Nordwand aufgespannt werden, und das ist eigentlich dramatisch. Die Eiger Nordwand ist die berühmteste Nordwand weltweit. Und so etwas dahin zu bauen, ist mir noch heute unverständlich."
    Insbesondere das Ok der Eidgenössischen Natur- und Heimatschutz-Kommission hat ihn ebenso wie Rodewald sehr enttäuscht. Anders die Sprecherin der Jungfraubahnen AG, Patrizia Bickel:
    "Wir haben ja da auch Studien machen lassen, unabhängige. Wir hatten die Eidgenössische Natur- und Heimatschutz-Kommission, die auch bestätigt hat, dass es eben eine, höchstens eine leichte Beeinträchtigung bedeutet. Die Bahn, die geht unterhalb des Eigers durch, und für uns ist aber auch wichtig, dass unsere Gäste von dieser eindrücklichen Wand auch profitieren können. Jetzt stellen sie sich vor, sie können ziemlich unweit der Wand durchfahren und sind selbst vielleicht nicht Kletterer und erleben dort eben wirklich das, was die Magie dieser Wand ausmacht."
    Der Weg zur Schreckhornhütte bietet großartige Ausblicke wie hier auf die Fischerhörner
    Der Weg zur Schreckhornhütte bietet großartige Ausblicke wie hier auf die Fischerhörner (Deutschlandradio / Andreas Burman)
    Der Eiger-Express wäre vielleicht ein bloßer Wunsch geblieben, wäre er nicht mit dem modernen Neubau der Umlaufbahn in das Gebiet Männlichen/Kleine Scheidegg verknüpft. Die soll das rückläufige Wintergeschäft wieder ankurbeln. Da Grindelwald das Geld dafür fehlte, war man froh, dass die Jungfraubahnen AG das übernehmen wollte. Aber das börsennotierte Unternehmen stellte klar: Ohne den Eiger-Express wären die 414 Millionen Euro für das sogenannte V-Bahn-Projekt wirtschaftlich unrentabel. Das gelte auch für den Ort, so Unternehmens-Sprecherin Bickel:
    "Wir haben in Grindelwald gewisse Hotels, die leer stehen, oder auch Hotels, die gefragt wären. Und momentan haben einfach Investoren abgewartet, ob diese V-Bahn wirklich gebaut werden kann, weil für sie das ein springendes Argument ist, ob sie in Grindelwald investieren wollen."
    Für manche Grindelwalder beruht der bis Ende 2020 geplante Eiger-Express auf einer Erpressung.
    Letzter Hort des großen Alpinismus
    Von solchen Veränderungen bleibt ein anderer Berg gänzlich verschont. Er liegt etwas versteckt, zeigt aber vom bereits erwähnten First-Gebiet aus eine wunderschöne pyramidenförmige Gestalt: Das Schreckhorn. Naturschützer Rodewald spricht von einem letzten Hort des großen Alpinismus, der aufgrund seiner Lage das Glück habe, vor Verbauung geschützt zu sein.
    Im Ort ist der Berg auf vielen Fotos zu sehen, vor allem in Bergsport-Geschäften. Der etwa viereinhalbstündige Weg zur Schreckhornhütte zählt zu den schönsten der Alpen. Beeindruckende Ausblicke auf die hochalpine Bergwelt mit wuchtigen, kühnen Felswänden, vergletscherten Gipfeln und Flanken, immer wieder wie eine riesige Naturarena anzuschauen, machen den Hüttenzustieg zu einem großen Wandererlebnis. Hinter einer Talbiegung dann der erste Blick auf das Schreckhorn, das sich wie ein abgerundeter Schneidezahn aufreckt. Im Tal darunter der wild zerrissene und gezackte Eisbruch des Grindelwald-Gletschers.
    In der letzten Stunde geht es durch einige wilde Bachläufe in steilem Gelände über Metalleitern, Stahlklammern, Trittstifte und an Ketten entlang aufwärts. In der Hütte, auf 2.530 Metern, begrüßt mich Richard "Richi" Riedi gutgelaunt mit breitem Lächeln.
    "Die Hütte hier, die ist erstens einmal vom Aussehen her noch richtig ursprünglich. Es ist eine ziemlich heftige Leistung hier hoch zu kommen, für viele ist es das höchste der Gefühle. Und für die Bergsteiger, die etwas, also, auf sich geben, die müssen natürlich diese Hütte und diesen Berg gemacht haben. Das gehört in den Palmarès eines Bergsteigers. Das kann man schon so sagen, ja."
    Der Rundumblick ist überwältigend
    Seine Schwester Ludivina sorgt für das leibliche Wohl der Gäste. Gerne kocht sie – sehr schmackhaft – griechisch, denn außerhalb der Hüttensaison von Juli bis September wohnt sie in Griechenland.
    "Man isst immer hier doppelt. Die hohe Luft, die Energie, die unsere Bergsteiger brauchen, da wird immer sehr viel gekocht. Das ist meine Leidenschaft und ich mache das sehr gerne. Aber es ist natürlich auch so: Man muss in vielen verschiedenen Gebieten bewandert sein. Das ist nicht nur so ein Job. Wir sind vom Psychologen über Samariter und Krankenpfleger eigentlich alles."
    Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
    Auf dem Südwestgrat bieten sich durchgängig eindrucksvolle Tiefblicke, wenn man beim anspruchsvollen Aufstieg mal innehält (Deutschlandradio / Andreas Burman)
    Der Leiter des Heimatmuseums, Marco Bomio, hat mich bereits erwartet. In seinem eigentlichen Beruf, als Bergführer, will er mit den anspruchsvollen Berg besteigen.
    Am späten Abend stellt ein Gewitter das Vorhaben infrage. Doch wir haben Glück, es zieht ab. Am frühen Morgen, Viertel nach zwei beginnen wir die kombinierte Hochtour:
    "Die Besteigung des Schreckhorns kann man eigentlich in drei Teile unterteilen. Der erste Teil von der Hütte herunter auf den Gletscher und dann durch Geröll hoch bis auf den sogenannten Gaag, etwa auf 3.200 Meter. Dort muss man die Steigeisen anziehen, dann geht’s über den Gletscher, vielleicht 45 Minuten an den Einstieg, wo dann die Kletterei zum Gipfel beginnt. Und eben beim Einstieg hat’s einen Bergschrund, den gilt es zu überwinden. Und das ist in den letzten Jahren, vor allem in der zweiten Saisonhälfte, immer schwieriger geworden bis unmöglich."
    Vollkommen sicher, umsichtig und geduldig führt mich Marco auch durch die 650 Höhenmeter im teils anspruchsvollen Fels. Um zehn Uhr stehen wir auf dem Gipfel, dem nördlichsten Vierer der Alpen, 4.078 Meter hoch.
    Der Rundumblick ist überwältigend, belohnt reichlich für die anstrengenden knapp 1.700 Höhenmeter Aufstieg. Wie schön ist es – und wie wichtig, dass Grindelwald, abgesehen von den Auswirkungen des Klimawandels, das Naturerleben Schreckhorn in seiner Ursprünglichkeit bewahrt hat. Die beiden pakistanischen Studenten haben schon recht gehabt: Es gibt Dinge, die muss man einmal erlebt haben.