Archiv


Besuch vom Mittagsdämon. Philosophie der Langeweile

Menschen leben gewöhnlich ihr Leben, als wäre dies das Selbstverständlichste der Welt. Das gilt auch für moderne Menschen. Nur wenige von ihnen wissen oder ahnen, dass dem nicht so ist, dass sie vielmehr das Produkt eines Projektes sind. Vor über 200 Jahren wurde das Projekt in Angriff genommen und trug von vornherein diesen Namen: "Moderne". Philosophen, die so genannten "Aufklärer", haben es sich ausgedacht, und sie dachten es sich als eine Zeit, in der mithilfe von Wissenschaft und Technik die negativen Seiten des Lebens, Hunger, Armut, Krankheit, Schicksal, endgültig bewältigt werden sollten. Einiges davon, nicht alles, ist wahr geworden. Dass aber für die gewachsenen Annehmlichkeiten auch ein Preis zu zahlen ist, bemerkten einige recht bald und gaben ihm einen Namen: L'ennui in der Tradition Blaise Pascals, "Langeweile" bei Georg Büchner, der 1836 das ganze moderne Projekt als Versuch bezeichnete, "sich die entsetzlichste Langeweile zu vertreiben".

Wilhelm Schmid |
    In schöner Regelmäßigkeit beschäftigt die Langeweile die Geister; die Literatur der Moderne ist davon geprägt. Nun widmet sich dem Phänomen auch das Buch eines Philosophen. Die Stärke des Buches von Friedhelm Decher sind die Überlegungen zum Wesen der Langeweile, sowohl die eigenen des Autors selbst als auch diejenigen, die er aus der Geschichte des Nachdenkens über das Phänomen zusammenträgt. Ein richtiges kleines Handbuch der Langeweile hat Decher auf diese Weise geschrieben, um letztlich zu zeigen, dass in der Langeweile die Nacktheit des Daseins zum Vorschein kommt, die bloße Tatsächlichkeit des Lebens, die als leer und öde erfahren wird. Wie lässt sich dieser Zustand heilen? Ist es sicher, dass es sich überhaupt um eine Krankheit handelt? Vielleicht besteht die Krankheit eher in jener Haltung, die sämtlicher Sorgen ledig sein will und die in dem sattsam bekannten, leichtsinnigen Spruch kulminiert: "Sorge dich nicht – lebe!" Was dann noch kommt, ist Langeweile, und eben nicht das Leben.

    Heute wissen wir aus Erfahrung, wie universell die Langeweile sein kann. Sie kann jeden einholen, jederzeit, beim Warten an der Bushaltestelle, beim Alleinsein zuhause, in der Schule, mitten im Konzert, am Arbeitsplatz, beim Freizeitvergnügen; manche streckt sie sogar nieder, wenn sie miteinander im Bett liegen. Die Ausmaße, die die Event-Kultur angenommen hat, geben einen guten Eindruck davon, wie gefürchtet die Langeweile sein muss. Vorzugsweise holt sie die Menschen ein am Sonntag, daher soll der nun abgeschafft werden, denn in der Moderne löst man Probleme gerne durch "Abschaffung". Fatalerweise wird die Langeweile umso gravierender, je intensiver die Erlebnisse sind, die sie töten sollen: Rache des Lebens, das sich weigert, ausschliesslich zu dem angenehmen, lustvollen, kompakt intensiven Block zu werden, den moderne Menschen gerne als "das Leben" hätten.

    Vielleicht ist die Langeweile keine Erfindung der Moderne, aber in ihr grassiert sie. Die Sache und das Wort gab es wohl schon vorher, aber in der Moderne wird die Langeweile zum Begriff. Es ist schade, dass der Autor der "Philosophie der Langeweile" auf genauere historische Untersuchungen verzichtet und zu dem schnellen Schluss kommt, es handle sich um ein "geschichtsübergreifendes Phänomen", das alle Menschen zu jeder Zeit gleichermaßen betreffe. Was den europäischen Kulturkreis angeht, so war die Langeweile in früheren Zeiten eher ein "Privileg" der Oberschicht, während sie in der Moderne auf demokratische Weise zum Problem aller wird. Der "Mittagsdämon", als der die lähmende Langeweile in den Schriften des Mönchtums einst bezeichnet worden ist, sucht die Menschen längst auch morgens und abends heim und wird zum Problem der Existenz schlechthin. So wird der Mensch schliesslich zum "Tier, das sich langweilt", wie Werner Sombart 1956 schrieb.

    Vor zehn Jahren gab es schon einmal einen philosophischen Versuch über das Phänomen, nämlich das Buch über die "Metaphysik der Langeweile" von Benno Hübner, 1991 in Wien erschienen, ein verrücktes Buch, sehr materialreich, aber leider nicht sehr gut lesbar. Das vorliegende Buch ist überschaubar und vertreibt für gut zwei, drei Stunden die Zeit. Es schildert und deutet die Langeweile, die wir immer für einförmig hielten, während wir nun bemerken, dass sie ganz verschiedene Formen annehmen kann: gelegentlich auftretende oder das ganze Leben umfassende, gewollte oder ungewollte, produktive oder destruktive. Langeweile entpuppt sich als ein so mächtiger Beweggrund fürs Handeln wie Liebe oder Ehrgeiz. So bedrohlich kann die Langeweile sein, dass das bloße Handeln um des Handelns willen schon zum Akt des Lebens wird. Wenigstens werden im Buch nach der Diagnose auch noch Therapien diskutiert, sowohl diejenigen, deren Erfolglosigkeit jeder an sich selbst testen kann, wie auch andere, die zumindest erfolgversprechend klingen. Am sinnvollsten erscheint aber noch immer, die Langeweile aushalten zu lernen; im besten Fall sind die leeren Stunden dann die kreativsten. Auf etwas anderes zu hoffen, bleibt uns ohnehin kaum übrig.