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Betrachtungen eines Unpolitischen

"War Thomas Mann ein politischer Schriftsteller?"- mit dieser Frage beginnt der Potsdamer Historiker Manfred Görtemaker seine Monographie "Thomas Mann und die Politik". Natürlich war er es, antwortet Görtemaker, denn die Zeitläufte erlaubten es ihm nicht, "Politik zu ignorieren". Auch die "Betrachtungen eines Unpolitischen", die noch kurz vor Ende des Ersten Weltkrieges sowie die bereits 1915 zu Papier gebrachten "Gedanken zum Kriege" sind aufschlussreiche Beispiele.

Von Stephan Reinhardt | 09.11.2005
    Thomas Mann feierte darin den Ausbruch des Ersten Weltkrieges wie die große Mehrheit in Deutschland als "Kulturkampf" zwischen der westlich-französischen "Zivilisation" mit ihren Leitbegriffen Demokratie, Menschenrechte, Kosmopolitismus, Parlament, Republikanismus - und der deutschen "Kultur", der nämlich des "innerlichsten Volkes", des "Volks der Metaphysik... der Musik", der Innerlichkeit.

    Krieg gegen den Erbfeind Frankreich, gegen "diese Welt des Friedens", bedeutete - so schrieb Thomas Mann in den "Gedanken zum Kriege" - "Reinigung, Befreiung". "Kriegsgeschwätz", kommentierte das Arthur Schnitzler damals treffend. Und in seinem Großessay "Betrachtungen eines Unpolitischen" erklärte Thomas Mann: Er sei tief davon überzeugt, "dass das deutsche Volk die politische Demokratie niemals wird lieben können", weil dem Kulturland Deutschland das westliche Weltbild mit seiner "Vernunft" und "Zivilisation" fremd und der "vielverschrieene 'Obrigkeitsstaat' die dem deutschen Volke angemessene ... Staatsform" sei. Thomas Mann bediente sich nationalistischer völkischer Phrasen - ganz im Denkstil der Zeit und ihrer Stammtische.

    Vier Jahre später dann - 1922 - in Berlin in seiner Rede "Von deutscher Republik" das klare, offene Bekenntnis zu Republik und Demokratie. Wie genau dieser Paradigmenwechsel - den Thomas Manns Bruder Heinrich schon kurz nach der Jahrhundertwende vollzogen hatte - zustande kam, kann Görtemaker nicht deutlich machen. So verbleibt seine Analyse - obwohl der Historiker den Anspruch einer "Neubewertung" erhebt - im bekannten, floskelhaften Allgemeinen: nur weil er sich politisch nicht isolieren wollte, habe sich Thomas Mann auf die Seite von Republik und Demokratie gestellt.

    Er wurde "Vernunftrepublikaner", weil Vernunft eben das geboten hat. Im Grund aber habe Thomas Mann, zieht Görtemaker auf Seite 236 das Fazit, nichts mit der Demokratie anzufangen gewusst: "Sein elitäres künstlerisches Bewusstsein und mehr noch sein Geniegedanke... machten eine innere Hinwendung zur Demokratie unmöglich. Das allgemeine Wahlrecht, parlamentarische Spielregeln, Freiheit und Gleichheit blieben ihm ein Leben lang fremd."

    Das Gegenteil ist richtig. Thomas Manns umfangreiche Essayistik zeigt aufregende Lernprozesse: Wie er sich nämlich im Laufe der Zwanziger Jahre mehr und mehr von Leitbegriffen politischer Romantik und konservativer Revolution (wenn auch nicht von allen) löst und wie er sie als deutschen Sonder- und Irrweg diagnostiziert. Wie er als Ergebnis der deutschen Gegenrevolution zur westlichen Aufklärung klug benennt: die verhängnisvolle völkische Deutschtümelei, die Politik verachtete und als charakterlos denunzierte, was in Wirklichkeit Kunst des Möglichen und - schöpferischer - Kompromiss sein konnte. Solch demokratisches, zivilisatorisches Handwerk - so Thomas Mann - wolle erlernt und geübt sein. Politik und Gesellschaft - das ist Thomas Manns Argumentation seit den späten Zwanziger Jahren - gehören zum Humanum ebenso dazu wie Kunst und Natur.


    Görtemaker dagegen attestiert ihm im politischen Urteil "Realitätsferne", permanente "Sprunghaftigkeit" und Kälte, und er versimpelt sogar Thomas Manns entschiedenen Widerstand gegen NS-Ideologie- und Politik. Er schreibt: Thomas Manns "Kampf gegen den Nationalsozialismus" sei "kein Kampf um Freiheit und Demokratie, sondern ein Widerstand aus elitärer Verachtung gegenüber einer braunen Revolution, die nicht nur dem Ungeist, sondern auch der Unkultur zur Macht verholfen hatte".

    Deutlich wird vielmehr, selbst in Görtemakers ausführlicher Darstellung der Exilzeit, wie genau Thomas Mann die rassistisch-völkische, nationale NS-Ideologie analysiert, Hitlers auf Krieg zulaufende Politik vorausgesagt und dann ab 1936 konsequent angeprangert hat. Görtemaker vertut sich auch, wenn er Thomas Mann vorwirft: Er "war gewiss kein Demokrat, er teilte nicht die Ideale der amerikanischen Gesellschaft, mit denen er im Grunde nichts anzufangen wusste". In Wirklichkeit befürwortete Thomas Mann im amerikanischen Exil mit Leidenschaft die Werte der Demokratie; vehement verteidigte er das Freiheits- und Chancen-Gleichheitsversprechen der Bill of rights sowie Roosevelts soziale Politik des Ausgleichs.

    Wie ungenau sich Görtemaker auf Thomas Manns keineswegs naives Verständnis von Politik einlässt, wird auch daran deutlich, dass er ihm pauschal den Vorwurf macht: Er habe "keine Linie gehabt" im Gebrauch von politischen Begriffen wie "Antiamerikanismus und Roosevelt-Verehrung", "Antikapitalismus und westliches Werteverständnis", "Demokratiebefürwortung und Demokratieskeptizismus". Natürlich hatte er "Linie": Wenn Thomas Mann zum Beispiel gegen - ungerechte - Armut in den USA oder Demokratie gefährdende Verflechtungen zwischen Wirtschaft und Politik oder dann zu Anfang der 50-er Jahre gegen die illiberale Hexenjagd auf angebliche Kommunisten opponierte, was war daran Antiamerikanismus?

    Leider macht Görtemaker auch nicht die große politische Linie transparent, mit der sich Thomas Mann vor allem nach 1945 für die große politische Vision von heute einsetzte: für supranationale Konfliktregulierungsinstanzen wie Europa und UNO - weg sowohl vom Nationalstaat als auch vom Hegemon. Auch insofern ist Thomas Manns Umgang mit Politik bei allen zeitbedingten Irrtümern und Unschärfen ein Lehr- und Lernbeispiel.

    Manfred Görtemaker: Thomas Mann und die Politik. S. FISCHER VERLAG, Frankfurt am Main 2005. 284 S, Euro 19,90.