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Betrachtungen zur höfischen Liebe

Heute stellen wir Ihnen ein Programm um den bekanntesten Sänger des Mittelalters vor. Das Ensemble Leones unter der Leitung von Marc Lewon hat seine jüngste Produktion dem Minnesänger Neidhart gewidmet, oftmals irreführenderweise "Neidhart von Reuental" genannt. "A Minnesinger and his 'Vale of Tears'" - "Ein Minnesänger und sein Tal der Tränen" ist die bei Naxos erschienene Einspielung betitelt, die, wie schon in der Popmusik-Branche immer mehr üblich, jetzt zunächst erst als Download erhältlich ist und dann im Januar 2012 auch als CD veröffentlicht wird.

Von Christiane Lehnigk |
    " MUSIK: Der han (nach Neidhart) Arr. M.Lewon
    instr.
    Baptiste Romain, Dudelsack
    Mitglied vom Ensemble Leones "

    Neidhart ist ein Phänomen gewesen im späten Mittelalter. Er wirkte im bayerisch-österreichischen Raum und war einer der beliebtesten Minnesänger und deutschsprachigen lyrischen Dichter. So ungefähr 150 Lieder hinterließ er, der zwischen 1210 und 1230 wirkte, und er war der Erste, von dem sich auch Melodien erhalten haben. Dabei verstand er sich eigentlich eher als eine Art "Anti-Minnesänger", parodierte er doch die Hohe Minne auf eine subtile aber auch schlüpfrige und derbe Weise und "verkehrte" die Art des höfischen Liebesgesangs. Zunächst einmal war es nicht mehr der Ritter, der, immer praktisch erfolglos, endlos um die angebetete, unerreichbare höfische Dame ansang, sondern es war die Frau, die aktiv wurde und den Mann verführte. Und auch der Schauplatz wurde verändert, jetzt suchte der Ritter sein Glück bei den "Dörpern", bei den Frauen des Dorfes und musste sich nun der dörflichen statt der adligen Konkurrenz erwehren, was zu vielen burlesken Szenen führte. Dies war eine mittelbare Kritik an der Ständegesellschaft, aber Neidhart bezog auch die Kirche mit ein und warnte in seinen "Kreuzliedern" vor der Teilnahme an den Kreuzzügen.

    Eine Neuerung bei seinen Texten war zudem eine Innerlichkeit, die weitere stilistische Möglichkeiten eröffnete. Er gliederte seine Texte in "Sommer"- und "Winterlieder", bei denen die Naturbeschreibungen, mit denen fast jedes Stück beginnt, den seelischen Gemütszustand des lyrischen Ich und die inhaltliche Thematik angibt. So sind die Winterlieder eher melancholisch und größer angelegt und orientieren sich mehr am klassischen Minnesang, auch wird hier der Niedergang des höfischen Lebens beklagt. Die Frühlings- und Sommerlieder sind kürzer und leichtfüßiger und haben oft Tanzrhythmen. Die Sprache ist dabei eine Mischung aus Mittelhochdeutsch und Mittelniederdeutsch.

    In diesem Titel "Summer unde winder", beginnt Neidhart zunächst nach höfischer Manier um dann aber immer mehr in die dörfliche Thematik über zu gehen:

    "Niemand ist so gefeit / gegen die Unbeständigkeit der Liebesleiden, / dass die Pracht der Blumen vermochte, / seine Trauer abzuwenden: er sehnt sich dennoch ständig."

    Und später heißt es über den Konkurrenten, der die Angebetete dann schließlich heiraten darf:

    "Seine eitle Schmeichelei, / die er in ihrem Schoß veranstaltet, bereitet mir noch graue Strähnen. / Oh weh, dass er der Guten seine Scherze nicht erspart / wenn er gegen ihren Willen handelt, / ihm zum Ruhm und ihr zum Schaden."

    " MUSIK: Neidhart / Arr. Marc Lewon
    - Summer unde winder (Ausschnitt Schluss)
    - Clausula/ Arr. Marc Lewon (instr.) (Ausschnitt)
    Ensemble Leones
    Leitung: Marc Lewon "

    Das Projekt-Ensemble Leones hat Marc Lewon 2001 gegründet, doch mit dem Neidhart-Programm und der Instrumentalmusik von Josquin Desprez sind nun erstmals musikalische Zeugnisse der akribischen Forschungsarbeit veröffentlicht worden, die in der vielfältigen Welt der Mittelalterszene ganz neue Akzente setzen. Diese Aufnahme ist die Ersteinspielung des Frankfurter Neidhart-Fragmentes, einer frühen handschriftlichen Quelle von 1300, die sechs mehr oder weniger vollständige Lieder mit fünf Melodien Neidharts enthält und hier erstmals aufbereitet zum Klingen gebracht wird. Angereichert werden sie durch ein "klassisches" Minnesang-Lied des "Tugendhaften Schreibers", einer der Teilnehmer des legendären Sängerkrieges auf der Wartburg und ein kurzes Stück des Zeitgenossen und vielleicht auch Rivalen, Walther von der Vogelweide.

    Marc Lewon, der zu den ausgewiesenen Mittelalter-Spezialisten der jüngeren Generation gehört, distanziert sich mit dieser Aufnahme auch von den volkstümlichen, oft größer besetzten, mit Perkussion verstärkten "Bands", wie sie in der Szene, zum Beispiel bei den Spielleuten oder auf Mittelaltermärkten anzutreffen sind. Natürlich muss letztlich immer alles Spekulation bleiben, wenn es darum geht, wie solche Musik früher wirklich geklungen haben mag. Doch Neidharts Werke waren, so Lewon, "genau wie der klassische Minnesang, ein Teil der adligen Hofkultur und hatten nichts mit der Musik von Bauern gemein. Sie bestehen vielmehr gerade aus der Ironisierung des Hohen Sangs" ... sind also eher von Ironie als von Klamauk geprägt. Die Welt, die in Neidharts Liedern beschrieben wird, ist, so Lewon, "eine Scheinwelt, eine Bühne, und die bäuerlich-dörflichen Elemente nur Zitat, das er gezielt einsetzte, um bestimmte Wirkungen zu erzeugen." Wichtig waren für die Musiker bei ihrer puristischen Interpretation in erster Linie die intensive Auseinandersetzung mit der Textdeklamation und die subtile instrumentale Begleitung, ein Konzept, das aufgegangen ist und manchen Titeln eine geradezu magische Wirkung verleiht.

    Gesungen werden die Lieder von Marc Lewon selbst, der sich auch auf der Laute und der Fidel, Vielle begleitet und von der Sopranistin Els Janssens-Vanmunster. Als Instrumentalist ist hier noch Baptiste Romain mit dabei, der auch die Vielle und einen Dudelsack spielt, den Sie im ersten Titel der Sendung schon hören konnten.

    Diese Veröffentlichung ist einmal mehr ein Zeugnis für die kreative Verbindung von Wissenschaft und praktischer Musik, die so gar nicht akademisch klingen muss. Natürlich muss man als nicht vorgebildeter Hörer zunächst einmal den Zugang finden, doch die wunderschönen Melodien Neidharts sprechen für sich und manche haben fast Hit-Charakter, wie das abschließende "Alles daz den summer", eine groß angelegte pathetische Minneklage, die sich in didaktischen Reflexionen und philosophischen Betrachtungen zur höfischen Liebe ergeht:

    "Alles, was den Sommer bisher voll Freude war, / das wird nun trübselig mit der winterlangen, beschwerlichen Zeit. / ... / Das ist eine allseitige Klage, / die mir die Freude verdirbt. / Die hört bis ans Ende meiner Tage / leider niemals auf."

    Und später heißt es über "seine Dame":

    "Gnadenlose Herrin, was in aller Welt wollt ihr von mir? / Lasst euch tausend Jünglinge fürderhin an meiner Statt dienen. / Ich will einem Herren dienen, dem ich zu eigen bin. / Ich will nicht länger Euer Sänger sein. / Ich bereue, dass ich so viele übermütige Tänze euretwegen tanzte. / Das ist ein Schaden für meine Seele und mein Heil."

    " MUSIK: Neidhart/ Arr. Marc Lewon
    Alles daz den summer
    <11> (Ausschnitt Schluss)
    Ensemble Leones
    Leitung: Marc Lewon "

    Wir stellten Ihnen heute erstmals eingespielte Musik des Minnesängers Neidhart vor mit dem Ensemble Leones unter der Leitung von Marc Lewon. Diese Produktion erschien bei Naxos zunächst als Download und ist dann im nächsten Januar auch als CD erhältlich.

    Diskografie

    Neidhart: A Minnesinger and his "Vale of Tears".
    Songs and Interludes
    Ensemble Leones
    Leitung: Marc Lewon
    (CD erscheint Januar 2012)

    Online Release: Mai 2011

    Naxos:
    Catalogue No: 8.572449
    Barcode: 747313244973
    Liedtexte (PDF)