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Beutekunst auf Schweizer Art

Die Firma Noga aus der Schweiz wartet seit über einem Jahrzehnt auf eine Rückzahlung vom russischen Staat im Milliardenbereich. Da diese bislang ausblieb, hat die Firma am Wochenende Kunstwerke aus dem russischen Puschkin-Museum beschlagnahmen lassen, die in der Schweiz ausgestellt wurden. Die diplomatische Krise ließ nicht lange auf sich warten.

Von Burkhard Müller-Ulrich | 17.11.2005
    Wer 5000 Euro Schulden bei der Bank hat, der hat bekanntlich ein Problem. Handelt es sich aber um 5 Millionen Euro Schulden, dann hat eher die Bank das Problem.

    Dieser schale Scherz lässt sich auf die folgende Geschichte allerdings kaum anwenden, weil deren Dimensionen so ganz andere sind. Bloß dass derjenige, der seine Schulden nicht bezahlt, am Ende triumphiert, das kann man auch bei ganz großen Beträgen sehen. Wir sprechen von Summen um die Milliardengrenze - Euro, Dollar, Schweizerfranken, ganz egal. Tatsache ist bloß, dass Nessim Gaon heute weiß, was für ein Riesenfehler es war, mit dem russischen Staat jemals Geschäfte gemacht zu haben.

    Nessim Gaon ist einer jener schwerreichen Finanzmagnaten, von denen man gewöhnlich nicht einmal den Namen in der Presse liest. Gaon, ein im Sudan geborener Sepharde, ist 84 Jahre alt und lebt seit 48 Jahren in Genf, wo er zuerst im internationalen Handel und dann im Immobiliengeschäft Fortüne machte. Bis zu seinem Fast-Bankrott vor ein paar Jahren gehörte ihm das Genfer Hilton Hotel, außerdem das Casino in Cannes und noch so manches andere Prachtpalais.

    Doch dass seine Geldmittel in den letzten Jahren ziemlich knapp wurden und er sogar mitsamt Familie aus seiner luxuriösen Wohnung im Hilton förmlich hinausgeworfen wurde, daran sind die Russen schuld.

    1991, die alte Sowjetunion hatte gerade aufgehört zu existieren, war das neue Russland für westliche Großkapitalisten ein ebenso vielversprechender wie beängstigender Handelspartner. Eine gewisse Risikobereitschaft gehörte schon dazu, Lieferungen zu erbringen und Gegenlieferungen zu erwarten, da Devisen zur Bezahlung nicht vorhanden waren. Im vorliegenden Falle sollte Erdöl im Tausch gegen Lebens- und Düngemittel fließen. Doch das Erdöl floß nicht. Seit 1993 befinden sich die Firma Noga (ein Anagramm von Gaon) und die russische Regierung im offenen Konflikt.

    Nun ist es eher ungewöhnlich, dass ein Privatmann mit einem fremden Staat um Geldbeträge solchen Ausmaßes ringt. Für solche zivilrechtlichen Angelegenheiten gibt es keine internationalen Instanzen wie die UNO oder den Gerichtshof in Den Haag. Doch die Stockholmer Handelskammer wird allgemein als Schiedsstelle bemüht und anerkannt, und sie gab Gaon am 15. Mai 1997 Recht. Im Vorgriff auf eine Gesamtregelung der Milliardenaffäre wurde ihm sogar eine Sofortzahlung von etwas mehr als 60 Millionen Euro zugesprochen, aber natürlich hat Russland auch diese Zahlung nie geleistet.

    Seither unternahmen Gaons Anwälte eine Reihe von recht skurrilen Anstrengungen auf internationalem Parkett. Sie reisten von Land zu Land und versuchten, von den jeweils zuständigen nationalen Gerichten ein "Exequatur" zu bekommen, das heißt einen Beschluss, dem zufolge der Stockholmer Spruch zu vollziehen sei.

    So wurden in Frankreich kurzzeitig die Konten der russischen Botschaft blockiert und das russische Segelschulschiff Sedov, das im Hafen von Brest lag, beschlagnahmt. Das war im Jahr 2000. Im Jahr darauf versuchte Gaon, auf dem Militärflughafen von Le Bourget zwei russische Düsenjäger während einer Luftwaffenschau beschlagnahmen zu lassen. Doch während die Gerichtsvollzieher die Treppe zum Tower emporkeuchten, hoben die Kampfjets bereits ab.

    So ähnlich slapstickmäßig hat man sich auch das Gerangel um die im schweizerischen Martigny gezeigten Bilder des Moskauer Puschkin-Museums vorzustellen. Am Wochenende ging die Ausstellung zu Ende; da erschienen plötzlich Schweizer Zollbeamte und nahmen den Lastwagenfahrern die Zündschlüssel ab. Dadurch gingen auch die Klimaanlagen aus - Schreckensmomente für die Meisterwerke von Renoir, Gauguin, Matisse, Degas, Van Gogh und Picasso. Alarmgeschrei und finstere Drohungen aus Moskau. Doch die Behörden des Kantons Wallis brauchen ihre Zeit, um etwelche Einwendungen gründlich zu prüfen.

    Da griff heute am späten Nachmittag die Schweizer Bundesregierung ein und machte von einem selten benutzten Verfassungsparagraphen Gebrauch: Wahrung der Landesinteressen. Die gekidnappten Bilder seien unverzüglich freizugeben, denn Kunstwerke gelten nach internationalem Recht als unverletzliches öffentliches Eigentum. Dabei ist diese UN-Konvention zum Schutz von Kulturgut in der Schweiz noch gar nicht rechtskräftig.

    Die Staatsräson steht eben auch bei den Eidgenossen höher als eine lumpige Milliarde von Monsieur Gaon.