Archiv


Beuys auf Papier

Joseph Beuys, der Propagandist der Selbstbestimmung und Erweiterer des Skulpturbegriffs, entwickelte seine Gedanken anhand von Zeichnungen. Sie sind die Energiespeicher, aus denen Beuys Zeit seines Lebens schöpfte. Die Kunsthalle Karlsruhe zeigt eine kritische Auswahl von 140 Arbeiten auf Papier.

Von Carmela Thiele |
    Wer die Beuys-Ausstellung in Karlsruhe betritt, dem stellt sich als erstes eine grüne Tafel in den Weg, eines dieser von Pfeilen und Begriffen wimmelnden Diagramme, die der Künstler bei Diskussionen und Vorträgen entwickelte. "Selbstverwaltung" steht ganz oben geschrieben, links "Freiheit", "Wissenschaft" und "Kunst", rechts "Ökonomie" und "Produktionsmittel". Beide Pole sollen in Einklang gebracht werden, denn Kreativität sei "Volksvermögen".

    Unmissverständlich wird in der Ausstellung klar: Beuys' Werk ist ohne sein auf Veränderung der Gesellschaft zielendes System nicht zu verstehen, schon gar nicht seine Zeichnungen. Deshalb zeigen die Kuratorin Kirsten Claudia Voigt und Klaus Schrenk, der Direktor der Karlsruher Kunsthalle, auch vermeintlich randständige Dinge wie Notizen aus dem Nachlass. Klaus Schrenk:

    "Die Schrift, die für ihn immer so bedeutsam ist, formuliert natürlich einen Strich, den auch in der Zeichnung wiederfindet. Und man findet Querverbindungen zwischen den Notationen und der Zeichnung, die natürlich auch ein künstlerischer Ausdruck sind, wie wir auch an der großen Tafel sehen, bei dem er sein System innerhalb einer Diskussion entwickelt hat."
    Lebensgroß schreitet Beuys auf dem Lichtdruck "Die Revolution sind wir" scheinbar auf den Betrachter zu. Nur mit einer Badehose bekleidet zeichnet er auf den Fotos von Charles Wilp in den Sand. Dieses Bild ist als Teil einer Serie 1974 in Kenia entstanden. Einmal posiert der Künstler frontal mit seitlich ausgestreckten Armen vor dem Meereshorizont. Eine Hommage an den Vitruv-Mann von Leonardo? Eine Anspielung auf Jesus Christus am Kreuz? Vermutlich beides. Gewappnet mit diesen universellen Beschwörungsformeln betritt der Besucher die sieben Kabinette, in denen die Beuys-Zeichnungen im gedämmten Licht hängen: Frauenfiguren, Tiere, Linienknäuel, das Universum als Energiestrom auf Papier. Klaus Schrenk:

    "Man merkt in der Ausstellung, wie bedeutsam es ist, einmal die Originale zu sehen, wie unterschiedlich oder wie fragil der Strich von Beuys ist, wie Dinge zusammengefügt werden, wie Zeichnungen verfestigt werden, wenn Braunkreuze auftauchen oder wenn andere Materialien hinzutreten."

    Braunkreuz ist eine dunkelbraune, an getrocknetes Blut erinnernde Farbe. Beuys verlieh seinen zarten Bleistiftzeichnungen durch die Verwendung dieser opaken Substanz Materialität. Die Blätter begegnen dem Betrachter als fremde, schemenhafte Erinnerung an vorzeitliche Lebenszusammenhänge. Seine archaischen Visionen sollten Gegenbilder provozieren. Klaus Schrenk zu Beuys Strategie der Transformation:

    "Die Umformung des Menschlichen in Bewegungsströme, in Aggregatzustände, die eine geistige Auseinandersetzung beinhalten, die für Beuys wichtig war, dass eben Haltungen verfestigt sein können, die man wieder verflüssigen muss, in einen neuen Zustand hineinbewegen muss, um auch den Herausforderungen der eigenen Zeit gewachsen zu sein."

    Die Karlsruher Ausstellung beschwört nicht nur die Idee der Transformation, auch wird der wissenschaftlichen Aufarbeitung Genüge getan. Es bleibt nicht bei berühmten Blättern wie "Elch mit Sonne", der "Hasenfrau" oder frühen Zeichnungen, die an Beuys' Akademiezeit bei dem Tierplastiker Ewald Mataré erinnern. Zu sehen sind auch die so genannten Partituren, Zeichnungen, die Aktionen oder Plastiken vorbereiten und Werke, die sein politisches Engagement widerspiegeln. Die Braunkreuzzeichnung "Der Reaktor blutiger Adlerkopf" erinnert an den Atomkraftgegner Beuys. Und 1982 nahm der Künstler mit Bap sogar einen Protestsong gegen Aufrüstung in Ost und West auf.

    "Sonne statt Ronald Reagan", welcher Künstler bezieht heute in dieser Weise Position? Was kann das Werk von Beuys in der Zeit des Eventshopping bedeuten? Eines ist klar: Das Museum ist paradoxerweise zum Hüter der Beuysschen Energiefelder geworden, die zu Lebzeiten des Künstlers bis in die Gesellschaft vorgedrungen waren. Der Propagandist der Selbstbestimmung und Erweiterer des Skulpturbegriffs kann kein Sauerkraut mehr auf Notenständern verteilen oder Fett in eine Ecke schmieren. Vielleicht erreicht sein Werk über die Zeichnungen eine neue Generation von Künstlern, die Schallmauern zu durchbrechen haben, von denen Beuys noch nichts ahnen konnte. Er ruft ihnen und dem Publikum aus dem Off leise zu, was auf einem der Zettel in einer der Karlsruher Vitrinen zu lesen ist: "Wo Wahrnehmung begriffen wird, ist Wirklichkeit."

    Service:
    Die Ausstellung "'ich bin interessiert an Transformation, Veränderung, Revolution' - Joseph Beuys: Zeichnungen" ist bis 7. Januer 2007 in der Kunsthalle Karlsruhe zu sehen. Die Eintrittskarte beinhaltet einen Leitfaden zur Ausstellung. Der Katalog mit Beiträgen von Kirsten Claudia Voigt, Andreas Schalhorn und Uwe M. Schneede kostet 23 Euro. Informationen zum Begleitprogramm unter www.kunsthalle-karlsruhe-online.de.