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Bevölkerungswachstum in Israel
Wettbewerb der Fruchtbarkeit

In Israel werden so viele Kinder geboren wie in keinem anderen westlich orientierten Land. Das hat auch religiöse Gründe: Jüdischen und muslimischen Israelis geht es um Verjüngung und Vermehrung. Manche sprechen von einem demografischen Krieg.

Von Diana Hörger | 12.06.2018
    Eine Krankenschwester misst den Schädelumfang eines Neugeborenen.
    Fakten schaffen durch Kinderreichtum? (AFP / LEO RAMIREZ)
    Sonntagvormittag in der Nähe von Bethlehem: Eve Harrow spricht in ihrem wöchentlichen Podcast "Rejuvenation with Eve" über das, was sie und die Siedler bewegt: Verjüngung. Sie lebt in Efrat – das liegt hinter der grünen Linie von 1967 - eine Siedlung auf der West-Bank.
    Die etwa 8.000 Siedler in Efrat nennen das Gebiet beharrlich Samaria und Judäa. Es sei das gelobte Land und sie hätten das Recht, hier zu leben, meint Eve: "Ich hätte einen einfacheren Ort zum Leben wählen können, wenn es nur um mich ginge. Wo es ruhig ist: Neuseeland zum Beispiel. Schöne Strände und so weiter. Aber es geht hier um mehr. Speziell im Blick auf meine Familiengeschichte und den Holocaust", so Harrow.
    "Es geht um die Zukunft. Und dabei geht es um Kinder und darum deutlich zu machen, wie wichtig das Jüdisch sein ist. Und das machen wir hier."
    So wie Eve, sehen das noch etwa 400.000 andere Siedler im Westjordanland. Vor fast 30 Jahren ist sie deshalb aus den USA nach Israel ausgewandert, hat, wie man sagt, Alijah gemacht.
    Sie hat sieben Kinder zur Welt gebracht. Mittlerweile hat die 56-Jährige schon sieben Enkelkinder. Was Eve nicht sagt, aber immer mitschwingt: Sie und ihre Kinder schaffen hier auf der West-Bank Fakten.
    Neve Tzedek in Tel Aviv, etwa 80 Kilometer weiter: Im südlichen alten Stadtteil kurz vor Jaffo, versucht ein Grundschullehrer, etwa 30 Kinder über das alte Bahngelände Hatachana zu leiten.
    Einfluss sichern durch Bevölkerungswachstum
    Israel ist jung und Kinder sind überall. Auch in der westlichen Metropole am Meer. Von den fast neun Millionen Menschen, die in Israel leben, sind ein Drittel jünger als 18. Im Schnitt bringt jede Frau hier drei Kinder zur Welt. Als Industrieland hat Israel damit einen Sonderstatus: Es hat die höchste Geburtenrate in der westlich orientierten Welt.
    Der Staat der Juden ist ein Staat voller Minderheiten. Christen und Muslime teilen sich das Land mit orthodoxen oder säkularen Juden, mit solchen europäischer und russischer Herkunft, mit Juden aus Marokko oder Äthiopien, und mit arabischen Wurzeln.
    Innerhalb der israelischen Bevölkerung verlaufen viele Fronten zwischen unterschiedlichen Gruppen - nicht nur religiösen. Welche Gruppe verschafft sich den größten Einfluss? Einige sprechen hier auch von einem demographischen Krieg.
    Nazareth – im Norden von Israel - kurz nach 18 Uhr. Die christlichen Glocken der Verkündigungsbasilika läuten lautstark mit dem Muezzin um die Wette, der zum Gebet ruft. Ein Großteil der arabischen Israelis lebt in der Stadt westlich des Sees Genezareth. Sie haben einen israelischen Pass und palästinensische Wurzeln. Ihr Anteil an der israelischen Bevölkerung liegt bei 20 Prozent. Auch hier bekommen die Frauen im Schnitt drei Kinder. Noch vor 20 Jahren waren es fünf.
    Ein Grund für den Rückgang: Immer mehr Frauen wollen arbeiten gehen, sagt Ghaida Rinawie-Zoabie von der Organisation Injaz, die sich von Nazareth aus um den Einfluss der arabischen Minderheit in Israel kümmert.
    Polygamie und Reproduktionsmedizin
    Die gebildeten und engagierten muslimischen Israelis seien kein bedeutender Faktor mehr für das Wachsen der Bevölkerung in Israel, meint sie. Der sei vielmehr im Süden zu suchen - im Negev: "Die große Mehrheit der jüdischen Bevölkerung ignoriert einfach die Tatsache, dass eine Stunde von ihrer Haustüre entfernt eine andere schwierige Realität herrscht. In den Beduinen-Familien im Negev ist ein Mann oft mit vielen Frauen verheiratet."
    Außerdem: "Eine Realität im Jahr 2017 ist auch, dass noch immer 40 Dörfer keinen Elektrizitäts- und Wasser-Anschluss haben. Die haben keine Grundversorgung, wie sie jede Kommune sie sonst in Israel hat."
    Aufgrund der Polygamie im Wüstengebiet Negev hat jede Familie 30 bis 60 Kinder, so die Schätzungen. Polygamie ist zwar nicht erlaubt in Israel, doch der Staat schaut bisher meist nicht hin.
    Im vergangenen Herbst hat die Knesset verkündet, stärker gegen die Polygamie vorgehen zu wollen. Das hatte die Regierung schon vor zehn Jahren erstmals angekündigt.
    Doch aus der Beduinen-Gesellschaft heißt es kritisch: Es gehe der Regierung nicht um die Lage der Frauen, sondern darum, den Kindersegen in den muslimischen Familien zu unterbinden. Aus Angst, die arabischstämmige Bevölkerung könne die Überhand gewinnen. Ein unzulässiger Eingriff in ihre Kultur und ihren muslimischen Glauben, so die Beduinen.
    Ähnlich isoliert, aber deutlich bekannter und mächtiger ist die Gemeinschaft der streng orthodoxen Juden in Israel. Der Stadtteil Mea She’arim in Jerusalem gilt als die Hochburg ultraorthodoxer Juden in Israel. Wer hier lebt, unterscheidet sich schon rein optisch vom säkularen Teil der jüdischen Bevölkerung.
    Pflicht zum Kinderkriegen
    Die Männer in schwarzen Anzügen, mit Hut, Schläfenlocken, weißen Gebetsfäden, die bis übers Knie an ihren Hosen entlang baumeln. Die Frauen tragen weite Röcke und Perücken aus Echthaar. Fast jede schiebt einen Kinderwagen vor sich her.
    Ultraorthodoxe Juden im Viertel Mea She'arim in Jerusalem schauen während des Purimfestes am 13. März 2017 zu, als eine Soldatenpuppe im Zuge eines Protestes extremisitscher Ultraorthodoxer gegen den Wehrdienst von einem Gebäude hängt.
    Ultraorthodoxe Juden im Viertel Mea She'arim in Jerusalem (imago / ZUMA Press)
    Dreiviertel der Familien hier leben unterhalb der Armutsgrenze. Im Schnitt bekommt eine Frau in den ultraorthodoxen Familien sieben Kinder. Zur Arbeit im klassischen Sinn gehen nur wenige.
    Die Männer studieren die Thora, den Talmud und bekommen dafür einen geringen Lohn vom Staat. Auch Tzippy Jaroms Mann konzentriert sich auf das Lernen der jüdischen heiligen Schriften. Sie haben drei Kinder.
    Doch Tzippy möchte gerne mehr bekommen, sagt sie lächelnd: "Ich hab immer gesagt, ich will zehn Kinder haben. Leider hatte ich Probleme nach der letzten Geburt. Trotzdem hoffe ich, dass ich noch mindestens drei Kinder zur Welt bringe."
    Nur wenige Charedi-Frauen würden sich außerhalb ihrer gottesfürchtigen Gemeinschaft so offen äußern. Der Kindersegen sei auch nötig, um den Fortbestand ihres Glaubens zu sichern, sagt sie. "Es ist eine Mitzwa – eine Pflicht. Und das einzige, was ich Ihnen zum Thema Demographie sage, ist: der Holocaust! Wann immer ein Kind in meine Familie geboren wird, sage ich: Das ist unsere Rache für Hitler. Hey Hitler, hörst du mich? Das ist unsere Revanche. Wir haben die Lücke noch nicht wieder aufgefüllt!"
    Auch deshalb sind viele orthodoxe Juden den modernen Fortpflanzungsverfahren gegenüber ausgesprochen aufgeschlossen. In Israel dürfen Kinder auch aus dem Sperma von bereits Verstorbenen gezeugt werden, wenn ein biologisches Testament vorliegt und ein Gericht dem zustimmt.
    Israel war auch eines der ersten fünf Länder weltweit, das die Methode der In-Vitro-Fertilisation zugelassen hat. Dabei werden die Eizellen einer Frau entnommen, befruchtet und wieder eingesetzt.
    Jede Israelin hat bis zum 45. Lebensjahr das Recht, durch das Verfahren kostenlos zwei Kinder zu bekommen. Egal ob man Single ist oder verheiratet.
    Nirgendwo sonst wird das In-Vitro-Verfahren so häufig angewandt wie in Israel, bestätigt Sarah Tancmann, die die "Brian Foundation" gegründet hat. Eine Einrichtung, die sich für die Gesundheit israelischer Frauen einsetzt: "Die aktuellsten Daten sagen, dass 4,3 Prozent der Kinder, die in Israel geboren werden, von in-vitro kommen. Das ist sicher doppelt so viel wie in anderen Ländern. Da liegen die Zahlen etwa bei zwei Prozent."
    "Shared Parenthood"
    Eine Kneipe im Zentrum von Jerusalem. Trotz Sabbat ist hier in der Jabotinsky Bar einiges los. Daniel Aroni sitzt an einem Holztisch und bestellt sich ein israelisches Craftbeer.
    Der große, gutgelaunte Unternehmer lebt seit einigen Jahren in einer Fernbeziehung mit einem Kanadier und hatte vor etwa acht Jahren sein "Coming out". In mehrerlei Hinsicht. Seine Familie ist orthodox und er isst jetzt auch Schweinefleisch. Ganz offiziell, lacht er.
    Aber obwohl seine Familie seinen Lebenswandel und seine Sexualität nicht versteht, das Schlimmste sei für seine Eltern die Vorstellung gewesen, keine Enkel von ihm zu bekommen.
    Das habe auch ihn beeinflusst: "Vielleicht will ein Teil von mir die Kinder auch, um meine Mutter glücklich zu machen. So dass sie ihre Enkel vor den Leuten herzeigen kann. Vielleicht kommt das Gefühl auch davon, ja. Dass sich nicht mehr alles um dich dreht, sondern man jemand anderen hat, um den man sich kümmern muss."
    Eine seiner besten Freundinnen sei Single, erzählt er. Gemeinsam mit ihr und seinem Freund denken die drei schon länger über "shared parenthood" nach, also: geteilte Elternschaft.
    Aufgaben der Siedler
    Ein Modell für viele homosexuelle Paare in Israel. 2009 genehmigte der Staat Israel erstmals zwei Männern einen Mutterschaftsurlaub. Sie hatten über eine Eizellen-Spende und eine indische Leihmutter einen Sohn bekommen.
    In Israel werden Kinder gegen alle Widerstände zur Welt gebracht. Gegen biologische, gesellschaftliche und politische.
    In Efrat, auf der Westbank, liegt der Durchschnitt bei fünf Kindern pro Familie, meint Siedlerin Eve Harrow. Dass sie hier so konfliktreich bauen und leben, das sei im Sinne des jüdischen Glaubens.
    Sie sprüht vor Energie und Überzeugung, wenn sie in ihrer Radiosendung über die Aufgabe der Siedler in Israel spricht. Kinder seien nun mal eben die Zukunft.
    Wenn sie hingegen nach Europa schaue, an die vielen Familien ohne Kinder denke, dann werde ihr mulmig zumute: "Ich weiß nicht, ob es ein Fehler ist, aber wenn du Kinder hast, dann investierst du in die Zukunft, in die Zeit, wenn du gestorben bist. Das ist vielleicht unterbewusst, aber wenn du Kinder hast, ändert das deinen Blick auf die Welt, wie du sie hinterlässt. Und wenn ich sehe, wie viele Staatsoberhäupter in Europa keine Kinder haben und nicht so sehr an die Zukunft denken wie Menschen mit Kindern, dann denke ich: Das ist sehr bedeutsam."