Donnerstag, 28. März 2024

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Religion und Demografie
"Lasst uns wegkommen von Angst und Mythen"

Mit einer Islamisierung Europas oder Deutschlands sei aus religionsdemografischer Sicht nicht zu rechnen, sagte der Religionswissenschaftler Michael Blume im Dlf. Bei Muslimen seien eine "massive Säkularisierung" und ein "massiver Geburtenrückgang" zu beobachten.

Michael Blume im Gespräch mit Andreas Main | 26.01.2018
    Der Religionswissenschaftler Michael Blume steht am 05.10.2015 vor einem Gebäude in Lalish, dem Heiligtum der religiösen Minderheit der Jesiden, im Nordirak.
    Religionswissenschaftler Michael Blume, hier eine Aufnahme aus dem Nordirak 2015 (dpa/Stefanie Järkel)
    Andreas Main: Zahlen, Statistiken sind immer mit Vorsicht zu genießen - erst recht in Religionsfragen. Das wollen wir vertiefen mit dem Religionswissenschaftler Michael Blume. In seinem jüngsten Buch mit dem Titel "Islam in der Krise" ist ein Kapitel zu finden mit der Überschrift: Geburten-Dschihad oder Geburtenknick. Guten Morgen, Herr Blume.
    Michael Blume: Guten Morgen, Herr Main.
    Main: Michael Blume, um den Stier bei den Hörnern zu packen: Werden Europa und Deutschland islamisiert - und zwar auf demographischem Weg?
    Blume: Klare Antwort: Nein, das werden sie nicht. Es sind zwei Entwicklungen, die dagegen laufen. Die eine ist eine massive Säkularisierung. Nur noch eine Minderheit der Muslime in Europa betet überhaupt noch regelmäßig, geschweige denn fünfmal täglich. Und das zweite ist - auch damit verbunden, mit der Säkularisierung: ein massiver Geburtenrückgang unter Muslimen. Das betrifft Muslime in Europa. Aber auch zum Beispiel in der Türkei und im Iran sind die Geburtenraten bereits unter zwei gefallen. Also ganz ähnlich wie in konservativen Ländern wie in Griechenland, Japan oder Polen erleben wir das jetzt auch in der islamischen Welt, nämlich dass die alten Familienstrukturen nicht mehr tragen und die Geburtenraten massiv abstürzen.
    "Massiver Geburtenrückgang im Iran und der Türkei"
    Main: Geburtenrückgang in der islamischen Welt. Das scheint nicht mit unserer Alltagserfahrung zusammenzupassen.
    Blume: Ja, es ist tatsächlich so, dass religiöse Menschen im Durchschnitt mehr Kinder haben. Das gilt quer durch alle Religionen. Also zum Beispiel fromme Christen oder fromme Juden haben im Durschnitt deutlich größere Familien als säkulare. Die größten, die kinderreichsten Gemeinschaften sind zum Beispiel die Amish in den USA, das sind Christen, oder die ultraorthodoxen Haredim vor allem in Israel. Und natürlich ist es so: Wir nehmen dann diese Kinderreichen wahr; und wenn dann zum Beispiel Leute sehen, da ist eine Muslimin mit Kopftuch und die hat drei Kinder, dann wird das verallgemeinert.
    Wir nehmen nicht wahr: die Muslimin, die schon gar kein Kopftuch mehr trägt, sich vielleicht nicht mehr als Muslimin versteht und gar keine Kinder mehr hat und das hat tatsächlich massiv zugenommen. Auch in der Familie meiner Frau, zum Beispiel, kann ich das deutlich sehen. Die Großelterngeneration hatte da noch die acht Kinder, die Eltern dann noch drei bis vier und jetzt sind es bis null bis zwei. Ein massiver Geburtenrückgang. Die kann auch jeder googeln, "Geburtenrückgang Iran" oder "Geburtenrückgang Türkei" - das sind keine Geheiminformationen.
    Eine muslimische Frau mit Kopftuch steht vor dem Brandenburger Tor in Berlin
    Traditionelle Musliminnen haben mehr Kinder als säkulare (picture-alliance / dpa / Wolfgang Kumm)
    Main: Bekommen traditionelle Muslime mehr Kinder, weil sie traditionelle Familienstrukturen bewahrt haben, während säkulare Humanisten oder liberale Christen all dies längst über Bord geworfen haben?
    Blume: Es ist tatsächlich so, dass sich Familienstrukturen dann durchsetzen, wenn sie kinderreich sind. Das wird dann weitergegeben, über die Generation hinweg. Aber die Gesellschaft verändert sich. Also beispielsweise können sie mit einer Alleinverdiener-Ehe, wo nur der Mann verdient und die Frau zuhause bleibt, in einer Großstadt nicht einmal mehr die Miete bezahlen. Das bedeutet, Familienstrukturen müssen sich auch immer wieder ändern. Wenn sie das nicht tun, entsteht die sogenannte Traditionalismusfalle. Das heißt, dann brechen die Geburtenraten ein. Das ist der Grund, warum auch in Europa sehr traditionelle Gesellschaften wie Polen, Italien oder Griechenland deutlich weniger Kinder haben als zum Beispiel Frankreich oder Schweden. Denn die haben ihre Familienpolitik und ihre Familien modernisiert.
    "Traditionalismus schadet Familien"
    Genau die gleiche Situation haben Sie bei Religionsgemeinschaften. Das heißt, wir haben die Großeltern, die haben noch ganz traditionell gelebt, in der Türkei zum Beispiel. Die haben dann noch ganz viele Kinder gehabt. Einige der Kinder ziehen in die großen Städte, kommen damit schon nicht mehr zurecht, kriegen das nicht mehr hin. Und die Jüngeren sagen: Wenn ich keine Kinderbetreuung mehr habe, wenn ich mich entscheiden muss zwischen Beruf und Familie, wenn ich gar keine Möglichkeit mehr habe das zu vereinbaren, dann verzichte ich eben. Diese gleichen Entscheidungen werden in Teheran, Ankara, Zürich und Stuttgart getroffen und wirken sich auch aus. Das heißt: Traditionalismus allein hält die Geburtenraten nicht hoch, das kann sogar schaden.
    Main: Demografie und Religion - das ist ja ein heißes Eisen. Welche historischen Beispiele gibt es dafür, dass Religionsgemeinschaften das Zeugen von Kindern genutzt haben, um ihre Lehre zu verbreiten?
    Blume: Es ist grundsätzlich so, dass das tatsächlich schon in der gesamten Religionsgeschichte eine riesige Rolle spielt. Das erste Gebot der Bibel, das Gott den Menschen gibt, gleich nach der Erschaffung ist: Seid fruchtbar und mehret euch! Damit beginnt das ganze gleich mal und es gibt eine große Debatte - auch im Judentum - darüber, wie man das erhalten kann. Reichen zwei Kinder, muss es ein Junge und ein Mädchen sein und so weiter? Das wird alles intensiv diskutiert. Und gerade die jüdischen Gemeinschaften waren ja über lange Zeit verfolgt, das heißt, sie konnten nur überleben, wenn sie immer ausreichend viele Kinder hatten. Das heißt, dieser Zusammenhang zwischen Religion und Demographie, der ist komplex, der entwickelt sich immer wieder historisch und den muss man sich genau anschauen.
    Es ist nicht so platt, dass man einfach sagt: Die Religionen haben mehr Kinder, sondern man würde heute sagen: Religionsgemeinschaften haben das Potenzial, um Kinderreichtum zu fördern. Und dieses Potenzial schöpfen sie unterschiedlich gut aus. Reiner Traditionalismus bringt da gar nichts. Amish und ultraorthodoxe Juden halten ihre Lebenswelten stabil, aber wer in der modernen Welt lebt, der kommt mit den Antworten aus dem 18. Jahrhundert nicht mehr weit.
    "Nichtreligiöse Gesellschaften schrumpfen"
    Main: Wenn der Zusammenhang von Religiosität und Religionsgemeinschaften einerseits und Kinderzahl andererseits verleugnet oder ignoriert wird, was verpassen wir da an Chancen?
    Blume: Also das ganz große Problem - und das haben wir ja erlebt - ist, wenn darüber nicht gesprochen wird. Wenn die Wissenschaften, die das Wissen ja haben, darüber nicht öffentlich sprechen, dann setzen sich irgendwelche Mythen fort, dann glauben die Leute: Die Muslime oder die Juden oder früher die Katholiken, die haben alle viele Kinder. Denn die dürfen ja nicht verhüten. Dann entstehen sozusagen so Allgemeinmythen, die sich dann oft sehr, sehr negativ auswirken. Das heißt, hier besteht ein Aufklärungsinteresse. Man muss zeigen, wie komplex, aber auch interessant die Zusammenhänge sind. Und dann wäre durchaus die Chance für eine Gesellschaft zu diskutieren, wie viele Kinder wollen wir eigentlich.
    Persönlich habe ich zum Beispiel die Auffassung: Ich will auch keine Bevölkerungsexplosion. Ich will aber auch keine Implosion. Ich finde beides schlimm. Ich denke, eine stabile Bevökerungsentwicklung wäre eine gute Sache, aber da gibt's Leute, die sind anderer Meinung. Der Papst sagt, umso mehr Kinder, umso besser, das hat er zuletzt aber auch eingeschränkt. Es gibt aber auch Leute, die sagen, es wäre gut, wenn die Menschheit gewaltig schrumpfen würde. Und diese Diskussion zu führen, einmal auf der Ebene der Werte und einmal auch auf der Ebene vom tatsächlichen Verstehen, wie Demographie funktioniert. Das wäre eine tolle Sache, würde aber auch den Populisten ganz gewaltig Angstpotenzial abgraben.
    Schaffen sich säkulare Familien zwangsläufig selbst ab?
    Schaffen sich säkulare Familien zwangsläufig selbst ab? (imago stock&people)
    Main: Ich zitiere einen Satz von Ihnen, der womöglich einige verstört: "Religiöse Glaubenstraditionen können demographisch scheitern; nichtreligiöse Populationen verebbten bislang jedoch immer." Ohne Berufung auf höhere Wesen oder Mächte also keine Kinder?
    Blume: Tatsächlich kennen wir seit der griechischen und indischen Antike keine einzige nichtreligiöse Population, die auch nur zwei Kinder im Durchschnitt pro Frau gehalten hätte. Wir haben immer wieder den Befund, wenn sich die Religion auflöst, lösen sich auch Gemeinschaften auf und schrumpfen die Familien. Inzwischen ist es eine klare Ansage: Wir sind alle in der Wissenschaft daran interessiert, wer eine einzige nicht-religiöse Population nennen könnte, die auch nur ein Jahrhundert lang mehr als zwei Kinder hätte aufrecht erhalten können, wir wären sehr, sehr interessiert. Bislang sieht es so aus, dass damit Gemeinschaft oder Familienstrukturen sich auflösen.
    Das ist auch spannend, es ist die sogenannte Anthropodizee-Frage, nämlich die Frage: Wenn das Leben überhaupt gar keinen Sinn hat und ohnehin enden wird, dann spricht ja tatsächlich auch viel dafür zu sagen, man muss es sich nicht unbedingt noch kinderreich verlängern. Also diese philosophische Debatte, die wird gerade auch unter Nicht-Religiösen ganz intensiv geführt.
    "Thilo Sarrazin hat rausgestrichen, was nicht ins Bild passt"
    Main: Thilo Sarrazin - dieses Stichwort haben wir bislang geschickt umschifft. Der umstrittene Erfolgsautor, der sich vor gut sieben Jahren mit seinem Erstling "Deutschland schafft sich ab" in die Bestseller-Listen geschrieben hat, der hat sich auf Ihre religionsdemographischen Überlegungen bezogen. In welchen Punkten liegt Sarrazin richtig?
    Blume: Es ist tatsächlich ganz spannend - und ich hab das in "Islam in der Krise" auch ausgeführt, weil ich wirklich zeigen kann, wie er mit Daten spielt und sie auch manipuliert, damit sie passen, weil er hat meine verwendet - und das kann jeder auch nachschauen - und er hat zum Beispiel Religionsgemeinschaften aus der Tabelle rausgestrichen, die nicht in sein Bild gepasst haben. Er hat auch Aussagen ignoriert.
    Er liegt damit richtig, dass derzeit noch die Geburtenrate von Muslimen höher ist als die Geburtenrate der meisten christlichen Gruppen. Er verschweigt aber, dass sie massiv sinkt, genauso wie das bei christlichen Gruppen der Fall war. Er hat recht damit, wenn er sagt, dass Religionsgemeinschaften in der Tendenz kinderreicher sind, er verschweigt aber, obwohl das in dem Text, den er zitiert, drinnen steht, dass das aber auch daran liegt, dass sie Familien unterstützen mit Kinderbetreuung und so weiter. Das tun Moscheegemeinschaften bislang nur sehr, sehr selten, das entwickelt sich da erst.
    Das heißt - das kann ich aus eigenem Erleben sagen -, er hat sich aus der Wissenschaft die Dinge herausgezogen, die er verwenden kann und den Rest unter den Tisch fallen lassen. Ich habe immer gedacht, wahnsinnig viele Menschen sprechen mich da drauf an, habe aber doch die Erfahrung gemacht, dass offensichtlich nur wenige sein Buch wirklich durchgelesen haben.
    "Bildung reicht"
    Main: Um es jetzt mal abschließend zusammenzufassen und wirklich zu verstehen: Wenn wir beide jetzt versuchen wollten, die Geburtenrate in einem muslimisch dominierten Staat zu senken, reines Gedankenspiel, was müssten wir tun?
    Blume: Das gleiche, was wir bei allen anderen auch machen würden, nämlich Bildung zu fördern, den Menschen die Möglichkeit geben, frei über ihr Leben zu entscheiden, vor allem auch den Frauen und dann würden sich die Geburtenraten angleichen, die gleiche Entwicklung - das tun sie ja zum Teil auch bereits - , wie wir sie in Europa haben. Da braucht man also keine Manipulationen oder Verschwörungen, da reicht Bildung.
    Main: Michael Blume, wir haben jetzt viele Zahlen und Einschätzungen gehört. Vielleicht sogar ein wenig verwirrend. Ich versuche jetzt mal einen Merksatz zu formulieren. Mir scheint zentral an ihrer These, dass Sie sagen: Biologistische Verkürzungen führen nicht weiter. Hier bekommen Muslime viele Kinder, dort wenig. Und dasselbe gilt für Christen, Juden und andere. Ist das korrekt so?
    Blume: Richtig. Religiosität hat biologische Grundlagen, aber Religion ist immer kulturell, genauso wie die Sprache. Das heißt, wer wirklich verstehen möchte, wie die Dinge zusammenhängen, der sollte nicht reduzieren, sondern der sollte mit Respekt und Neugier auf die Kulturen schauen und dann wird er auch merken, dass die Kulturen dieser Welt sehr viel gemeinsam haben.
    Main: Ihr Merksatz am Ende dieses Gesprächs.
    Blume: Mein Merksatz am Ende dieses Gesprächs ist: Lasst uns darüber sprechen, ob wir mehr Kinder haben wollen und was Religionen dazu beitragen können. Lasst uns wegkommen von Angst und Mythen.
    Main: Der Religionswissenschaftler Michael Blume mit Überlegungen zur Religionsdemographie, einem Forschungsfeld, an das sich nur wenige rantrauen. Danke Ihnen, Herr Blume.
    Blume: Vielen Dank, Herr Main.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.