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Bewährungsprobe für die internationale Schutzverantwortung

Die humanitär motivierte Schutzverantwortung der Vereinten Nationen verändert auch die moralischen Standards, an denen sich militärische Gewaltanwendung messen lassen muss. Gerd Hankel geht der Frage nach, was dies für das Recht bedeutet - und fordert eine grundlegende Revision des humanitären Völkerrechts.

Von Alexandra Kemmerer |
    Mit seiner Resolution 1973 autorisierte der UN-Sicherheitsrat am Abend des 17. März 2011 die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen, "alle nötigen Maßnahmen zu ergreifen, um Zivilisten und von Zivilisten bewohnte Gebiete in Libyen zu schützen, denen ein Angriff droht." Damit wurde die Schutzverantwortung der internationalen Gemeinschaft bekräftigt, Menschen vor Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu bewahren. Wer also gedacht hatte, dass nach den Erfahrungen im Irak und in Afghanistan die Idee humanitär motivierter militärischer Einsätze nun erst einmal zu den Akten gelegt werden könne – der hatte sich getäuscht. Auch das Konzept einer menschenrechtlich begründeten "Responsibility to Protect", das auf dem UN-Reformgipfel von 2005 fast alle Staaten der Welt anerkannten, war zurück auf der Tagesordnung. Diese humanitär motivierte Schutzverantwortung verändert auch die moralischen Standards, an denen sich militärische Gewaltanwendung messen lassen muss. Was bedeutet das für das Recht?

    Dieser Frage geht der Völkerrechtler und Sprachwissenschaftler Gerd Hankel in einer bemerkenswerten kleinen Denkschrift nach. Im Ausgangspunkt ist das Buch eine völkerrechtliche Reflexion auf den von dem deutschen Oberst Georg Klein angeordneten Luftangriff bei Kundus im September 2009. Bei diesem Angriff wurden nach NATO-Einschätzung bis zu 142 Menschen getötet, darunter viele Zivilisten. Mit Kundus und seinem juristischen Nachspiel vor deutschen Gerichten wurde das Ganze Dilemma der Beteiligung an einer "transformativen", Regime-ändernden Besatzung deutlich. Denn es ist eine Situation, in der auch eine
    "Stabilisierungsmission" unversehens in einen Kriegszustand führt, der sich durch beharrliche Vermeidung des "K-Worts" nicht wegschweigen lässt. Ein solcher Kriegszustand aber ist doch ein anderer als ein klassischer bewaffneter Konflikt im Clausewitz'schen Sinne - weil dabei humanitäre Ziele verfolgt werden.

    Hankel erinnert an den hohen Anspruch einer internationalen Schutzverantwortung, der "responsibility to protect", die nun in Libyen ihre erste Bewährungsprobe erfährt. Dieses Konzept bündelt die mit dem Kosovo-Krieg entbrannte Diskussion um Legalität und Legitimität humanitärer Interventionen und schließt auch eine "responsibility to peace" ein, mit der lange schwelende Kriege nicht vereinbar sind. Um eine Eskalation des Konflikts zu vermeiden, hält Gerd Hankel die Schaffung spezieller rechtlicher Regelungen für nötig, die den Besonderheiten des militärischen Einsatzes zu humanitären Zwecken Rechnung tragen. Er fordert damit eine grundlegende Revision des humanitären Völkerrechts und zeigt dessen gegenwärtige Mängel auf:

    Nicht nur sind die Zulässigkeitsvoraussetzungen für die Tötung von unbeteiligten Zivilisten zu weit gefasst, auch die Regelungen zum Widerstand gegen den Angreifer und Besatzer sowie die Vorschriften über die militärische Besatzung passen nicht mehr. In ihrer jetzigen Fassung tragen sie vielmehr zur Konflikteskalation und Festigung von Feindbildern bei, aus denen Tötungsbereitschaft entsteht. Damit laufen sie einer Entwicklung zuwider, deren wesentliches Kennzeichen die zunehmende Moralisierung des Kriegsrechts und das Entstehen einer humanitären Ethik ist.

    Als "responsibility to peace" hat die "responsibility to protect" damit vor allem Konsequenzen für den Schutz der Zivilbevölkerung. Wo Menschenrechte zur Legitimation einer militärischen Intervention ins Feld geführt werden, sieht Hankel keinen Raum mehr für die klassischen Proportionalitätserwägungen des Kriegsvölkerrechts, die den Tod oder die erhebliche Verletzung Unbeteiligter einkalkulieren.

    Mit den zulässigen Mitteln und Methoden wird dieser Krieg geführt wie jeder andere, einschließlich der gezielten Tötung von als solchen zweifelsfrei identifizierten feindlichen Kämpfern. Besteht jedoch die sehr hohe Wahrscheinlichkeit einer Gefährdung der Zivilbevölkerung, bemisst sich die Zulässigkeit der fraglichen Kriegshandlung allein nach dem Humanitätsgebot, was im Regelfall zur Folge haben wird, dass sie nicht durchgeführt werden kann.

    Doch die immer engere Verflechtung von Moral, Recht und Politik im Feld des außenpolitischen Handelns, die wachsende Bedeutung des international anerkannten Kanons grundlegender Menschenrechte und der laut dem Karlsruher Verfassungsrichter Andreas Paulus darauf gründenden "Gemeinschaftswerte" im Völkerrecht erfordert nicht nur Veränderungen des humanitären Rechts, das im Kriegszustand Anwendung findet. Nötig ist auch ein Verständnis internationaler Schutzverantwortung, das das Recht zur Intervention in die Hände der Staatengemeinschaft legt und nicht einzelnen Staaten überlässt. Im "heute existierenden globalen Wahrnehmungsraum" ist ein politischer Handlungsdruck größer geworden, der auch militärische Optionen einschließt. Für hegemoniale Alleingänge ist da kein Platz.

    Gestützt auf eine inzwischen beinahe zehnjährige Erfahrung in und mit Afghanistan, ist anzunehmen, dass eine humanitäre Intervention scheitert, wenn sie von den machtpolitischen Interessen eines oder einiger weniger Staaten abhängt oder beeinflusst wird. Soll sie Aussicht auf Erfolg haben, muss sie von Anfang an auf der breiteren Basis eines Mandats des UN-Sicherheitsrats erfolgen. So erhält sie, über den unmittelbaren Anlass der Intervention hinaus, eine höhere Glaubwürdigkeit und damit auch Akzeptanz bei der betroffenen Bevölkerung. Darüber hinaus ist die UNO und ist speziell der UN-Sicherheitsrat aufgrund seiner Zusammensetzung eher davor gefeit, vermeintlich universalistische Ideale ausschließlich einer Provenienz zu verfolgen und sie den Blick auf Menschenrechte bestimmen zu lassen.

    Diese Lektion haben inzwischen auch die Vereinigten Staaten gelernt. Als Harold Koh, der Rechtsberater des State Department, in diesem Frühjahr auf der Jahrestagung der American Society of International Law erstmals aus Sicht der Regierung Obama die völkerrechtliche Begründung der Intervention in Libyen darlegte, wurde er nicht müde, die multilaterale Einbindung und Ausrichtung des Unternehmens zu betonen. Die Diskussion um mögliche völkerrechtliche Konsequenzen eines solchen entschiedenen Multilateralismus steht indessen noch am Anfang. Über Reformen und die weitere Entwicklung des Völkerrechts ist zu reden. Gerd Hankels meinungsstarke Intervention liefert dazu wichtige Denkanstöße.


    Gerd Hankel: "Das Tötungsverbot im Krieg. Ein Interventionsversuch"
    Hamburger Edition,
    120 Seiten, 12 Euro
    ISBN: 978-3-868-54224-0