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Bewegendes Familiendrama

"The Piano Lesson" spielt 1936 im Hill's District, dem schwarzen Arbeiterviertel Pittsburghs. Die von Wilson darin thematisierte Frage nach Identität und kulturellem Selbstwertgefühl nach einer Katastrophe ist von ungebrochener Aktualität, wie die Inszenierung am Broadway zeigt.

Von Andreas Robertz |
    Es war die Nacht vom 29. Oktober 2012, als Feuerwehrleute und Polizisten untätig mit ansehen mussten, wie ihre eigene, durch Hurrikane Sandie überflutete Wohngegend Breezy Point auf der Rockaway-Halbinsel in Queens abbrannte. Später hörte man die Geschichte, dass Breezy Point das einzige weiße Wohnviertel in dieser hauptsächlich von armen Afroamerikanern bewohnten Gegend ist und dass die weißen Bewohner ihren schwarzen Nachbarn seit mehreren Jahren den Zugang zum Strand verboten. Schwarze Prediger sprachen deshalb vom "gerechten Zorn Gottes".

    In August Wilsons "The Piano Lesson" kann man viele Motive dieser Geschichte wiederfinden: den Prediger, den Kampf gegen die weiße Bevormundung, ein uraltes Gefühl von Rache und den Zorn einer höheren Macht, in diesem Falle der unzähliger Vorfahren, die durch den Völkermord der Sklaverei gegangen sind. Das Stück spielt 1936 in den Nachwehen der Weltwirtschaftskrise im "Hill's District", dem schwarzen Arbeiterviertel in Pittsburgh, in dem fast alle August Wilson-Stücke spielen. Schon das Bühnenbild erzählt von einer großen Katastrophe. Der bis ins kleinste Detail nachempfundene Innenraum des Wohnhauses der Charles-Familie ist eingebettet in schwarze verbrannte Ruinen.

    Verrußte Schornsteinstümpfe und Dachlatten ragen in den Bühnenhimmel, und das Haus ruht auf den zersplitterten Bohlen einer verkohlten Unterkonstruktion, als wäre Bühnenbilder Michael Carnahan in Breezy Point gewesen, um sich inspirieren zu lassen.

    Das Haus wird immer wieder vom Geist des Sklavenhalters Sutter heimgesucht, der die Vorfahren der Charles-Familie gekauft und im Laufe der Geschichte zwei ihrer Mitglieder gegen ein Piano wieder verkauft hatte. Später ging es dann in den Besitz der Charles Familie über. Der verarmte Landpächter und Ex-Häftling Boy Willie Charles kommt zurück nach Pittsburgh, um das Piano, das sein Vater ihm vermacht hat, zu verkaufen und mit dem Erlös das Land zu kaufen, auf dem einst seine Vorfahren als Sklaven geschuftet haben. Doch seine Schwester Berniece, der das Klavier ebenfalls gehört, weigert sich, denn für sie ist das Instrument, auf dem in reicher Schnitzarbeit die Geschichte ihrer ganzen Familie dargestellt ist, weitaus mehr als ein Gegenstand, den man profitabel verkaufen kann.

    "Und das hier ist Großmutter Berniece – sie sah genauso aus. Und das hier ist mein Vater. Er hat alles aus seiner Erinnerung geschnitzt und das war erst der Anfang. Hier ist ein Bild seiner Mutter Esther."

    Als Boy Willy versucht, das Piano gegen ihren Willen aus dem Haus zu schaffen, erwachen die Geister in dem alten Instrument und kämpfen gegen den Geist des Sklavenbesitzers. In einer grandiosen Schlussszene, die Regisseur Ruben Santiago-Hudson wie ein uraltes Ritual inszeniert, versuchen alle Mitglieder der Familie - Boy Willy mit seinen Fäusten und Reverend Avery mit der Bibel - den bösen Geist zu vertreiben, doch vergebens. Erst als Berniece das Piano spielt, werden die Ahnen und der unruhige Geist Sutters erlöst. Tief berührt überlässt Boy Willy das Instrument seiner Schwester.

    "The Piano Lesson" ist ein großes Stück mit vielen Figuren, Gesängen, bluesigen Balladen und erzählten Geschichten. Es handelt vom reichen Erbe einer neuen Generation von Menschen, die ihre Vergangenheit vergessen und neu anfangen wollen. Doch was passiert mit den Geistern der Vergangenheit? August Wilson stellt die universelle Frage nach Identität und kulturellem Selbstwertgefühl nach einer geschichtlichen Katastrophe in engem Zusammenhang mit der eigenen Geschichtsverarbeitung. Dabei stehen sich die Kräfte des Pragmatismus und des sich Besinnens so unversöhnlich gegenüber wie Berniece ihrem Bruder.

    Und das Stück handelt von Besitz und Freiheit, einem Zusammenhang. der sich tief in die afroamerikanische Seele hineingegraben hat. Die, die einmal selbst Besitz anderer Menschen waren, werden erst wirklich frei sein, wenn sie selber besitzen. Doch Berniece spricht davon, dass erst die Befreiung der gequälten Seelen zu einer inneren Freiheit führt, die keinen äußeren Besitz mehr braucht. "The Piano Lesson" ist ein wichtigen Stück für alle, deren Vergangenheit zu schwierig ist, um ausgehalten zu werden, und deren Erinnerungen doch mit dem Leiden Vieler am Leben erhalten wurde. Das Stück erweist sich auch in dieser fulminanten Inszenierung als ein wahres Meisterwerk - und August Wilson als einer der ganz großen Autoren des amerikanischen Theaters. Die "New York Times" nannte die Inszenierung ein "außergewöhnliches Festmahl" und empfiehlt den Abend allen, die vergessen haben, wie "unglaublich tröstend, erschütternd und emotional befriedigend großes Theater sein kann".