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Bewegte Erfahrungen

Was leisten die Gefühle in der ästhetischen Erfahrung? Welchen Anteil und welche Bedeutung haben in diesem Rahmen Affekte? Fragen auf einer Tagung über Ästhetik und Emotionalität im Museum für Gegenwart, Berlin.

Von Bettina Mittelstraß |
    Im Hamburger Bahnhof, dem Museum für Gegenwart in Berlin - und vergangene Woche auch Ort einer wissenschaftlichen Tagung - liegt auf dem Boden im Eingangsbereich ein großes Viereck aus lauter goldenen Bonbons. Ein Kunstwerk?

    " Was ist nun damit? Wie kann man damit umgehen? Wie kann man das verstehen? Also ist das nur ein Willkommensgruß des Museums vielleicht, ein origineller? Oder ist es ein Kunstwerk? Und wenn es ein Kunstwerk ist, wie kann ich mich dazu verhalten? Darf ich mir da eins nehmen? Muss ich mir da eins nehmen? Darf ich das dann mit nach Hause nehmen? Wo soll ich dann das Papierchen hintun? Nehme ich mir ein Stück Kunstwerk mit nach Hause? "

    In der irritierenden Begegnung mit dem Bonbonfeld im Museum macht man eine ästhetische Erfahrung. Das heißt, man nimmt etwas wahr, das man genießen kann, auf sich wirken lassen kann. Die Voraussetzung dafür ist, dass man sich distanzieren kann. Es muss einen Rahmen geben - wie in dem Fall das Museum - der es erlaubt, zum Genießer, zum Betrachter oder Zuschauer zu werden. Brigitte Obermayer, Slawistin und Organisatorin der Jahrestagung des Sonderforschungsbereichs.

    " Was passiert in der Begegnung mit einem Kunstwerk? Es gibt unterschiedliche Theorien, Positionen, wie man sich vorstellen kann, um zu erklären, was da passiert. Sehr stark sind in den letzten Jahrzehnten Positionen, die darauf bestehen zu sagen, es passiert sehr viel, was mit Nachdenken, mit Reflexion verbunden hat. Also ich erfahre etwas, dass heißt ja auch ich lerne etwas, beginne über etwas nachzudenken, was ich dann im Weiteren... aus dem Museum, aus dem Theater, aus dem Konzertsaal mitnehmen kann. "

    Aber natürlich gibt es auch bewegende Momente in der Begegnung mit einem Kunstwerk, und auf diese Aspekte konzentrierten sich die Teilnehmer der Jahrestagung unter dem Titel "Bewegte Erfahrungen". Was leisten die Gefühle in der ästhetischen Erfahrung? Welchen Anteil und welche Bedeutung haben in diesem Rahmen Affekte? Eine erste Rückschau zeigt, dass darüber schon in die Antike sehr genau nachgedacht worden ist. In der Kunst der Rede, der Rhetorik, spielte das "Pathos" als die bewegende Leidenschaft in der Präsentation, für die Argumentation eine zentrale Rolle. Das kalkulierte Spiel mit Affekten diente der Vorbereitung des Publikums auf die intellektuelle Einsicht. Das galt auch für die antike Tragödie, in der auf der Bühne die größtmögliche Katharsis aufgeführt wurde, um am Ende den Zuschauer zur Einsicht zu führen. Der Dramatiker Eurypides etwa entwirft in dem Stück Alkestis einen Mann, Atmet, der von den Göttern aufgefordert wird, jemanden zu finden, der an seiner Stelle stirbt. Schließlich erklärt sich seine eigene Frau dazu bereit:

    " Und als dann seine Frau tatsächlich für ihn in den Tod gegangen ist, da stellt er fest, dass er so nicht mehr weiterleben will. Und schon im Vorfeld hatte die Dienerin zu ihm gesagt: ja, das geht solange gut - prin an pathe - bevor er am eigenen Leib erfährt, was das eigentlich bedeutet. Und dann, als die Frau wirklich tot ist, sagt Atmet: a timanthano, ... jetzt hab ich das begriffen! Das heißt nur dadurch, dass er am eigenen Leib erfahren hat, was es bedeutet, ist er zu Erkenntnis gekommen. "

    Antje Wessels, klassische Philologin und Mitarbeiterin am Sonderforschungsbereich. In großen, manchmal schwer nachvollziehenbaren Sprüngen durch die Zeiten und die Disziplinen wurden auf der Tagung weitere Beispiele für das variierende Verhältnis von emotionalem Eindruck und intellektueller Einsicht in der Kunsterfahrung vorgestellt. So erfuhr man, dass Musikerfahrung im Mittelalter nicht auf Reflexion zielte sondern gleichbedeutend mit sinnlicher Gotteserfahrung war. Das literaturwissenschaftliche Beispiel verwies dann auf das 18. Jahrhundert, die Zeit des Sturm und Drang, in der zum allgemeinen Credo erhoben wurde, was Eurypides schon andeutete: Erkenntnis vollzieht sich durch die Leidenserfahrung. Aber -

    " - nicht als etwas, was sich anschließt an die ästhetische Erfahrung - danach gehen wir dann aus dem Theater und denken darüber nach, wie das so war - sondern der reflexive Akt im Prinzip in der Leidenserfahrung, im Pathos, in den Affekten, der da schon drin enthalten ist. "

    Dieses Ineinanderfallen von heftigem Erleben und Erkenntnis in der Kunsterfahrung wird möglich, weil es in der Literatur des Sturm und Drang nicht mehr um das zu verstehende Argument ging, die Lehre aus den Dingen - wie noch in der antiken Tragödie - sondern um die Selbsterkenntnis. Brigitte Obermayer:

    " Also die Frage, was erfahren werden kann, hängt auch ... sehr stark mit der Konzeption des Subjekts zusammen, also des erfahrenden Subjekts. Und die ändert sich natürlich im Laufe der Zeit, und die wird, wenn ich jetzt den Sprung ins 20. Jahrhundert machen darf, ... noch mal höchst aktuell. Wenn man sich alleine vor Augen führt, was da technisch und auch vor allem historisch passiert - zwei Beispiele: also der erste Weltkrieg als ein ganz wichtiges Erfahrungsarsenal sozusagen und, wenn man nach Russland guckt zum Beispiel 1917 die Revolution und schon die revolutionären Bewegungen davor. "

    Kriegs- und Zivilisationserfahrungen treten für große Teile der Gesellschaft des 20. Jahrhunderts an die Stelle der Natur- und Transzendenzerfahrungen der Vergangenheit, was vor allem als Verlusterfahrung beklagt wurde.

    " es gibt diesen schönen Satz aus der russischen Avantgarde: wir haben den Bezug zu den Dingen der Welt verloren und wir müssen ihn wiederherstellen. Und wer sollte den wiederherstellen können? Das soll die Kunst sein. Und dass da die Kunst jetzt a) ganz groß gefordert ist und aufgefordert ist, sich was auszudenken sozusagen, diesen Bezug auf eine neue Art jetzt wiederherzustellen - nicht umsonst setzen dann auch avantgardistische Bewegungen ein, nicht umsonst gibt's dann auf einmal ein schwarzes Quadrat oder ein rotes Quadrat, also gibt's gegenstandslose Kunst zu Beispiel - dass die Kunst sich dann natürlich was einfallen lassen kann und einfallen ließ, ist die eine Sache. Die andere Sache, die aber jetzt hier uns interessiert, ist: was kann die Kunst überhaupt leisten? Und b), welche Konsequenzen hat das für die ästhetische Erfahrung. Das Grundproblem, das hier entsteht, ist das Problem von Nähe und Distanz. "

    Denn was sich die Kunst einfallen ließ - die Reduktion auf die bloße Form, die Abstraktion - bedeute in der Folge immer mehr die Zurücknahme der Emotionen und die größtmögliche Distanzierung ästhetischer Gegenstände zu einem Inhalt. Überzeugend veranschaulichte die Kunsthistorikerin Carolin Meister am Beispiel von Francis Bacons Studien aufgerissener Münder das völlige Desinteresse des Malers an dem, was hinter den Mündern steht: nämlich ein Schrei. Antje Wessels:

    " Um ein Beispiel aus der jüngeren Zeit zu nehmen: Karl Heinz Stockhausen hat ja diesen brutalen Angriff auf das Word Trade Center als das größte Kunstwerk aller Zeiten bezeichnet. Die Idee dahinter war wohl die enorme Bildhaftigkeit dieses Ereignisses, die jedes Kunstwerk übersteigt, damit zu beschreiben. Aber das ist natürlich eine ganz brutale Form der Distanz, die dahinter steckt. "

    Für diese brutale Distanzierung wurde Stockhausen denn auch schwer angegriffen. Dieser Vorgang zeigt noch einmal deutlich die Grenze auf, für den sich der Sonderforschungsbereich interessiert. Eine um ihr Mit-Leiden, um die emotionalen Anteile und den angemessenen Rahmen gekürzte ästhetische Erfahrung - kann das, darf das noch Kunsterfahrung sein? Und trotzdem: die Irritation, die so eine Betrachtung stiftet, die Verstörung, die Regung, die sie hervorruft - ist das nicht doch wieder das, was von Kunst erwartet wird?