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"Bezahlter Verräter" oder selbstkritischer Zeuge der Anklage?

Friedrich Wilhelm Gaus war ein bislang kaum bekannter Jurist, der von 1922 bis 1945 Leiter der Rechtsabteilung des Auswärtigen Amtes war. Ein Karriere-Diplomat, seinen Vorgesetzen, von Stresemann über Ribbentrop bis Hitler stets zu Diensten. Doch nach dem Ende des zweiten Weltkrieges, die Kehrtwende: Bei den Nürnberger Prozessen tritt Gaus als Zeuge der Anklage auf, und er sagt gegen seine früheren Arbeitgeber aus. Vom "Kronjuristen zum Kronzeugen" heißt dann auch das Buch von Gerhard Stuby. Joachim Scholtysek über eine lohnenswerte Lektüre.

    Die Geschichte des Diplomaten Gaus ist schnell erzählt. Er wurde als Sohn eines wohlhabenden Großbauern in der Nähe von Hildesheim geboren, in einer Zeit, in der Bismarck noch Reichskanzler war. Nach einem juristischen Studium unter anderem in Heidelberg und Genf nutzte er seine Referendariatszeit für die Doktorarbeit. Im Jahr 1907
    trat er in den diplomatischen Dienst ein. Seine erste Auslandsverwendung hatte er 1910 als Vizekonsul in Genua; 1913 erhielt er den Titel eines Legationsrats.

    Die Zäsur des Ersten Weltkriegs läutete nicht nur das Ende des alten Europa ein, sondern bestimmte auch das politische Schicksal von Gaus. Nach der Niederlage von 1918 ging es vor allem darum, den sogenannten "Schandfrieden" und das angebliche "Diktat von Versailles" zu revidieren.

    Gaus stand den republikanischen Außenministern als Berater zur Seite. Auch wenn er nicht in der ersten Reihe stand, war er eine Art "graue Eminenz", dessen Handschrift in den Verträgen von Rapallo und Locarno ebenso zu erkennen war wie beim Abschluss des Briand-Kellogg-Pakt - Abmachungen, die letztlich auf eine friedliche Revision der Nachkriegsordnung zielten. Stuby dazu:

    In diesem Punkt war Gaus mit Stresemann und Schubert, seinem Staatssekretär, einig. Im Formulieren der Vorschläge und Aushandeln der Kompromisse mit den Vertretern der Alliierten entwickelte er seine berühmte Meisterschaft. Locarno (...) wurde zum Höhepunkt seiner Karriere.
    Gaus hatte aber keine Skrupel, nach 1933 auch Hitler zu dienen. Das Auswärtige Amt fungierte dabei eine Zeit lang als Feigenblatt: Auch im Ausland hoffte man noch lange Zeit darauf, dass die traditionelle deutsche Diplomatie in der Lage sein werde, den revolutionären Expansions- und Vernichtungsplänen Hitlers einen Riegel vorzuschieben.

    Dies erwies sich als verhängnisvolle Fehleinschätzung. Gaus hatte offensichtlich keine Probleme, auch für den aggressiven Kurs Hitlers als juristisch-diplomatischer Berater zur Seite zu stehen. Den Höhepunkt dieser Kollaboration stellte seine Mitarbeit am berüchtigten Hitler-Stalin-Pakt dar. Für wenig glaubwürdig schätzt Stuby die Angaben von Gaus ein, er habe erst recht spät, nämlich nach 1944, etwas von der Judenvernichtung bemerkt. Plausibel erscheinen ihm hingegen die Ausführungen, er habe aus Angst vor der möglichen Verfolgung seiner Frau, die nach NS-Terminologie "jüdischer Mischling" war, stillgehalten. Stuby bemerkt hierzu:

    Gaus kannte das Protokoll und die Beschlüsse der Wannseekonferenz. Dass er von den Berichten über das Wüten der Einsatzgruppen - es waren insgesamt neun - gar nichts mitbekommen haben sollte, ist ausgeschlossen.
    Im August 1945 wurde Gaus von den britischen Militärbehörden verhaftet. Im Nürnberger Prozess stand er zunächst als Entlastungszeuge für die Angeklagten zur Verfügung, erwies sich aber als ausgesprochen sperrig und vermied jede apologetische Stellungnahme.

    Das brachte die Alliierten und den amerikanischen Chefankläger Robert Kempner offensichtlich auf die Idee, ihn für den sogenannten "Wilhelmstraßenprozess" als sachverständigen Zeugen zu verwenden. Hier wurde unter anderem den Spitzenbeamten des Auswärtigen Amts der Prozess gemacht, und die Aussagen von Gaus warfen kein gutes Licht auf die Willfährigkeit von Männern wie Außenminister Ribbentrop, aber auch den ehemaligen Staatssekretär Ernst von Weizsäcker, der sich eher dem Oppositionszirkel zurechnete. Ribbentrop war über die Rolle von Gaus erbost und vermutete, dieser sage deshalb aus, weil er Angst habe, andernfalls wegen seiner eigenen Rolle beim Hitler-Stalin-Pakt an die Sowjets ausgeliefert zu werden:

    Dass Gaus jetzt so eine erbärmliche Haltung einnimmt (...) und sich ganz in den Dienst der Anklage stellt, ist unter allen traurigen Erfahrungen die traurigste.
    Der Verfasser kann durch vielfache Belege zeigen, dass die Rolle von Gaus keineswegs so einseitig gezeichnet werden darf. Sicherlich, auch über ihm schwebte das Damoklesschwert einer Auslieferung an Stalin. Aber die wirklichen Beweggründe für seine Aussagebereitschaft waren eher in dem zu sehen, was er selbst einmal selbstkritisch die Abrechnung mit der "Trägheit des Herzens" genannt hat. Seine Motive hat er vielleicht am besten in einem Zeitungsartikel aus dem Jahr 1947 zusammengefasst:

    Jeder Deutsche (...) wird heute, wenn er auch nur eine Spur von Gewissen besitzt, die Notwendigkeit in sich empfinden, sich über die tiefsten Ursachen der Katastrophe klarzuwerden und aus seiner Erkenntnis mutig die Folgerungen zu ziehen. (...) Ich glaube, dass die rücksichtslose Bekanntgabe und Bezeugung dessen, was wir alten Staatsbeamten in dieser Beziehung aus der Schreckenswelt wissen, selbst wenn eine solche Bekanntgabe und Bezeugung unserer eigenen Person zunächst ernste äußere Erschwerungen und Nachteile bringen sollte, letzten Endes doch für den einzelnen die segensreiche Wirkung haben wird, ihm das Gefühl innerer Entlastung und Beruhigung zu verschaffen. Ich gestehe für meine Person offen, dass es mir eine innere Qual ist, daran zu denken, wie wir, gerade wenn wir dem ganzen Naziunwesen innerlich fremd und ablehnend gegenüberstanden, doch zwölf Jahre lang Ergebenheit und Folgsamkeit zur Schau getragen haben.
    Eine solche Offenheit hat Gaus, der bald aus der Haft entlassen wurde, den Vorwurf der Illoyalität eingebracht. Die vielgelesene Zeitschrift Quick nannte ihn im Jahr 1952 einen "bezahlten Verräter". Gaus galt in weiten Kreisen als "Nestbeschmutzer", ein Ruf, den er bis zu seinem Tod nicht mehr loswurde. Richard von Weizsäcker, der seinen Vater Ernst in Nürnberg als Rechtsbeistand diente, hat selbst noch 1997 in seinen Memoiren geschrieben:

    Ich glaube nicht, dass Gaus später gerichtliche Meineide geleistet hat. Aber er wurde durch Kempner dazu gebracht, die ihm angedrohte Rolle des Angeklagten gegen die eines Mitarbeiters der Anklage einzutauschen.
    Es ist das große Verdienst der Studie von Gerhard Stuby, mit solchen Mythen ein für alle Mal aufzuräumen und der komplexen Persönlichkeit von Gaus gerecht zu werden - eines Menschen, der sich in einem windungsreichen Prozess seiner eigenen Verstrickung in die Verbrechen der nationalsozialistischen Ideologie bewusst wurde und nicht den leichten Weg der Ableugnung gegangen ist.

    Manche Zweifel an der Selbstdarstellung von Gaus bleiben weiterhin bestehen, wie Stuby mit guten Gründen betont:

    Wie weit sein Amtswissen ging, wird sich nie ganz klären lassen. Auch wenn man die psychischen Verdrängungsmechanismen berücksichtigt, seine Angaben über sein konkretes Wissen zu diesen Punkten sind in Nürnberg sicherlich geschönt.
    Gaus hat sich im übrigen allen geschichtspolitischen Debatten und den Kontroversen um seine Person entzogen. Er zog sich aus dem öffentlichen Leben zurück und widmete sich in Göttingen ganz dem Studium der Werke von Immanuel Kant. Dort ist er zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gestorben.

    Vom Kronjuristen zum Kronzeugen - Friedrich Wilhelm Gaus: ein Leben im Auswärtigen Amt, das Buch ist im VSA-Verlag erschienen, es kostet 39 Euro 80, ist 538 Seiten dick und vorgestellt hat es uns Joachim Scholtysek.