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Bibliothek mit Wohngelegenheit

Das Europäische Übersetzer-Kollegium im niederrheinischen Straelen feiert sein 30-jähriges Bestehen: Seit dem 10. Januar 1978 haben hier Übersetzer aus 63 Ländern jeweils für ein paar Tage, Wochen oder Monate in einem der 30 Apartments als Gäste gelebt - und vor allem gearbeitet. Diese Möglichkeit des geistigen Austauschs zwischen Übersetzern verschiedener Sprachen sei weltweit einmalig, findet Literaturredakteur Denis Scheck.

Moderation: Burkhard Müller-Ullrich | 10.01.2008
    Burkhard Müller-Ullrich: 263.000 Stunden, das ist grob gerechnet die bisherige Gesamtöffnungszeit des Europäischen Übersetzer-Kollegiums in Straelen. Straelen liegt am Niederrhein, direkt an der holländischen Grenze, Straelen mit "ae" geschrieben. Und wenn wir 263.000 Stunden in Jahre übersetzen, dann kommt ein rundes Jubiläum heraus. Denn heute vor exakt 30 Jahren wurde diese einzigartige Institution eröffnet. Seit dem 10. Januar 1978 haben hier Übersetzer aus 63 Ländern jeweils für ein paar Tage, Wochen oder sogar Monate in einem der 30 Apartments als Gäste gelebt, in einem Mittelding zwischen sozialer Werkstatt und intellektuellem Traum. Und das Ganze, Denis Scheck, geht eigentlich auf ein antikes Modell zurück?

    Denis Scheck: Ja, das war die Idee von Elmar Tophoven, antik, sagen wir, mittelalterlich. Es war die Idee der Übersetzerschule von Toledo. Herr Müller-Ullrich, ich muss zugeben, dass ich eigentlich Jubiläen von staatlichen Institutionen, die sich der Kulturförderung und Pflege und so weiter angenommen haben, eher mit Skepsis gegenüberstehe, weil ich in der Meinung bin, dass vieles in diesem Staat zu lange existiert, zu unüberprüft ob seiner Notwendigkeit. Das Übersetzer-Kollegium in Straelen ist für mich die große Ausnahme. Warum? Weil hier ohne jeden bürokratischen Wasserkopf mit einem verhältnismäßig sehr geringem Etat und dann auch noch der föderalen, kulturellen Lebenswirklichkeit unseres Landes angemessen, irgendwo in der tiefsten Provinz, eben in diesem wunderschönen Blumenparadies Straelen, etwas entstanden ist, was weltweit einmalig ist, obwohl es sich ja europäisch im Namen nennt, nämlich eine Fortsetzung dieser Schule von Toledo, die da mal im Mittelalter entstanden war, die den Kontakt zwischen Orient und Okzident ermöglichte. Und Straelen ist eine Möglichkeit des geistigen Austauschs, nämlich wirklich den Transfer von Literatur hautnah zu erleben und zu ermöglichen. Warum? Weil es sich um eine Bibliothek mit Wohngelegenheit handelt.

    Müller-Ullrich: Wie sieht das denn ganz praktisch aus? Sie sprechen von Wohngelegenheiten. Aber es geht natürlich ums Übersetzen. Es ist ein Inhaltstransfer. Es geht nicht irgendwie um gewerkschaftliche Forderungen, ist kein Übersetzerverband. In letzter Zeit hat man von Übersetzern ja relativ viel im Zusammenhang mit schlechten Honoraren gehört. Aber das alles ist nicht das, worum es in Straelen geht, sondern da wird wirklich übersetzt und zwar gemeinsam?

    Scheck: Na ja, nicht nur Lokführer wollen von ihrer Arbeit leben. Straelen ist kein Ort, um sich großartig gewerkschaftlich zu organisieren. Nein, das war überhaupt nicht der Plan. Sondern es geht darum, dass man als Übersetzer mit einem Auftrag von einem Verlag ausgestattet dahin kommt, um die Bibliothek zu benutzen und sich mit anderen Übersetzern aus aller Welt, im Idealfall auch mit einem Vertreter der Ausgangssprache, aus der man in seine Muttersprache, in der Regel Deutsch, übersetzt, trifft, zusammensitzen kann, Strategien diskutieren kann, wie man denn den Umgang mit Realien, mit Witzen, mit Markennamen und so weiuter in literarischen Texten zurande kommt.

    Müller-Ullrich: Hilft das denn wirklich? Denn Übersetzen ist doch eine sehr einsame Tätigkeit, und jeder sitzt an seinem eigenen Text.

    Scheck: Eben. Und da ist Straelen der Ausweg. Denn das tun die Übersetzer ja elf Monate oder elfeinhalb Monate im Jahr. In Straelen kommen sie mal zueinander und machen ihre Arbeit diskursiv, diskursfähig. Und das haben die letzten 30 Jahre dort wirklich ergeben, dass nichts die Arbeit so sehr bereichern kann wie der Austausch. Denn das Problem, das man hat, wenn man einen englischen Krimi ins Deutsche übersetzt, ist eben gar nicht so unverwandt des Problems, das jemand hat, der Friedrich Dürrenmatt ins Türkische übersetzt. Und wissen Sie, wir leben in einer solchen Kultur, die auf Event, aufs Kurzfristige, aufs Feuerwerk setzt, dass es wohltuend ist, eine Institution wie Straelen bei der Arbeit zu erleben, die eben nicht auf das Kurzfristige setzt. Weil wenn Sie dann mal im Abstand von 30 Jahren durch die Regale gehen mit den in Straelen übersetzten Büchern, da kriegen Sie ein ehrfürchtiges Schaudern, wenn Sie zum Beispiel die Übersetzung des "Mannes ohne Eigenschaften" ins Niederländische in die Hand nehmen und sich überlegen, wie viel Hirnschmalz da eingeflossen ist.

    Müller-Ullrich: Muss man sehr prominent sein, oder wie kommt man überhaupt nach Straelen?

    Scheck: Straelen ist eine zutiefst demokratische Institution. Das macht es mir so sympathisch. Es ist ja als Grassroot-Initiative entstanden, eben durch Elmar Tophoven und den zweiten Namen, den man historisch da unbedingt nennen muss, ist der Klaus Birkenhauer, der nach Nabokov-Übersetzer, der Sprachspieler, die sich zusammengetan hatten, um das aus der Taufe zu heben. Dann bedeutet es vor allem, dass man eben lediglich als Voraussetzung einen Verlagsvertrag haben sollte, einen Auftrag von einem Verlag, ein Werk in eine Sprache zu übersetzen. Aber es wird entschieden ohne Ansehung der literarische Dignität des Werkes. Das heißt, ob Sie Perry Rhodan übersetzen oder ob Sie Heinrich Böll übersetzen oder ob Sie Hölderlin übersetzen oder die entsprechenden ausländischen Autoren, ob Sie Shakespeare übersetzen oder Paolo Coelho, das ist in Straelen gleichgültig. Hauptsache, Sie übersetzen. Und das finde ich einen sehr guten Ansatz.

    Müller-Ullrich: Von der Einsamkeit des Übersetzers und von der Notwendigkeit des Austauschs. Das Europäische Übersetzer-Kollegium in Straelen wird heute 30. Gefeiert wird aber erst etwas später mit einem großen Festakt in Anwesenheit des Bundespräsidenten. Vielen Dank, Denis Scheck!