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"Biep-Biep" - eine ideologische Mondreise

Alles ist da, was das Milieu proletarischer Junghelden aus den 50-er Jahren braucht. Sainte Claire, ein Industriestädtchen irgendwo in Lothringen. Flüchtlinge. Gastarbeiter. Oberstadt. Unterstadt. Hinterhöfe. Bahndämme. Bandenkrieg. Sonntäglicher Kirchgang. Kommunistische Parteiversammlung. Hausaufgaben am Küchentisch. Vater auf 14-Stunden-Maloche. Mutters herzlich-gnadenloses Regime. Comics unter der Bettdecke. Träume von einem Heldenleben. Träume von der ersten Liebe.

Siggi Seuß | 18.10.2003
    "Die Sputnikjahre" - ein vierteiliger Comic des französischen Illustrators und Autors Hervé Baruléa, genannt Baru -, "Die Sputnikjahre" sind fast schon ein Anachronismus in Zeiten, in denen in der Comicwelt realitätsnah gezeichnete und erzählte Geschichten wie Nadeln im Heuhaufen zu suchen sind, unter all den Fantasies, Mysteries, Histories und Comedies. Dass man heute noch davon träumen kann, mit Tim und Struppi zum Mond zu fliegen, ohne von japanischen Mangacomics verfolgt zu werden, das ist das Verdienst von Geschichtenerzählern wie Baru. Sein nun erschienener dritter Sputnikjahre-Band "Biep-Biep" befasst sich mit himmelstürmenden Gedanken und ernüchternden Tatsachen im Leben des elfjährigen Igor und seiner Freunde.

    Es ist das fünfte Bild auf Seite 35 in "Biep-Biep", das jungen und alten Comicabenteurern aus der Seele spricht. Da liegt der Held Igor in seinem Bett und liest im Lichtkegel der Taschenlampe gebannt eine Geschichte von "Tim und Struppi" (die damals gerade erschienen war) - eine der besten: "Die Reise zum Mond".

    Igors Abenteuer ereignen sich im Herbst 1957. Die Sowjets haben mit dem ersten Satelliten im All gerade wieder mal einen ruhmreichen Etappensieg im Klassenkampf erzielt. Der soll unter den zahlreichen Kommunisten in Igors Städtchen gefeiert werden und deshalb hält Genosse Lombardi, ein Parteifunktionär, gerade eine glühende Rede auf dem Marktplatz Sainte Claires.

    Biep, Biep, Biep - Das ist der Gesang des Sputniks, des sowjetischen Sputniks, der da oben seine Kreise zieht über unseren Köpfen. DA! DA IST ER, GENAU IN DIESEM MOMENT, GENAU ÜBER UNS! GRÜSST IHN GENOSSEN! Und vor allem ihr Kinder solltet grüßen, denn er ist da, unter euch derjenige, den der Sputnik morgen als ersten Proletarier mitnehmen wird. DAMIT ER AUF DEM MOND SPAZIEREN GEHT! - ES LEBE DER SPUTNIK, GENOSSEN! ES LEBE SOWJETRUSSLAND!

    Igor, der Träumer, und die jungen Möchtegernhelden aus der Siedlung "oben am Hang" - wer kann es ihnen verdenken? - jeder will natürlich dieser erste Proletarier auf dem Mond sein. Dank Professor Bienleins Raketenbauplan aus dem Tim-und-Struppi-Comic kein Problem. Könnte man meinen. - Ein flugfähiges Modell wird gebastelt, einen halben Meter hoch, rotweiß-kariert wie Professor Bienleins Rakete und mit einem Sputnik an der Spitze. Nur hat der örtliche Leiter der Jungen-Pionier-Gruppe - zu der Igor gehört, obwohl der sonntägliche Kirchgang obligatorisch ist -, nur hat der Pionierleiter mit der karierten Rakete ein ideologisches Problem. Schließlich wird Genosse Levchenko, Mitglied des Obersten Sowjets, beim Sputnikfest auf dem Flugfeld erwartet.

    Tim ist ein Reaktionär, ein Knecht des Kapitals, ein Feind des Volkes ...! Also seht zu, dass daraus eine kommunistische Rakete wird!

    Die Rakete wird also rot gestrichen. Trotzdem verursacht ihr Start ein Tohuwabohu unter den versammelten Genossen. Aus der Traum vom Fliegen für die Jungs aus der Siedlung oben am Hang. Der triste Alltag hat sie wieder.

    Baru (Jahrgang 1947) trifft die älteren Leser ins Zentrum der ewig schmerzenden Abenteurerseele. Verdammt, warum haben wir die Rakete damals nicht gebaut? Doch das allein ist kein hinreichender Grund, die Geschichte, die sich schließlich schon 1957 ereignet, den Junghelden von 2003 zu empfehlen. Baru beruft sich in der Illustration des Milieus auf Hergés "Ligne Claire", mit enormem Gespür für Atmosphäre und Authentizität. Seine Figuren jedoch sind Karikaturen auf die biederen Charaktere des Belgiers, zeichnerisch und erzählerisch. Trotzdem stecken sie weit mehr in der Wirklichkeit ihrer Zeit als es der pfiffige Reporter Tim jemals war. Die Perspektiven, die die Bilder eröffnen, sind spannend und abwechslungsreich und die Motive führen direkt in die Abenteuernischen zwischen Bahndamm und Hinterhof, Kellerverschlag und Fabrikmauer. Also dorthin, wo vielerorts auch heute noch Visionen gebastelt werden, mit anderen Mitteln zwar, aber gleichermaßen kurzlebig wie Igors Mondraketentraum.

    Baru Die Sputnikjahre. Band 3: Biep-Biep
    Aus dem Französischen von Martin Budde. Carlsen Comic, Hamburg 2003, 56 S., ¤ 14,-, ab 12