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Bilanz eines Zaren

Ein Verdacht auf Verrat steht im Mittelpunkt. Hat Zar Boris Godunow den Thron-Anwärter, für den er tätig war, getötet, um selber die Macht ergreifen zu können? Auf jeden Fall gilt der historische Zar Boris Godunow aus dem 16. Jahrhundert für Mussorgskis 19. Jahrhundert als blutrünstiger Herrscher. Aber die Geschichte stimmt wohl nicht ganz. In der Dresdner Neuinszenierung der Oper soll dem historischen Boris Gerechtigkeit widerfahren. Dort spielt man die Oper erstmals in der Urfassung von 1869.

Von Georg-Friedrich Kühn | 18.12.2008
    Das entschiedene Plus dieser Aufführung ist die musikalische Seite. René Pape in der Titelpartie singt einen Zaren Boris mit in allen Stimmregistern gerundetem Klang, voluminös und zart, nuanciert im Ausdruck zwischen Selbstzweifeln und Willen zur Macht, väterlich-fürsorglich und einer möglichen Schuld sich bewusst. Besser kann man diese Rolle sonst derzeit nicht hören und sehen.

    John Tomlinson als Mönch Pimen ist ein Gegenspieler mit voluminös-sonorer Stimme, der mit bürokratischer Härte Geschichte schreibt nach Gutdünken und eigenem Machtinteresse. Daneben erlebt man in kleineren Rollen eine resolute Hanna Schwarz als Amme der Zarenkinder, den Counter Martin Wölfel als verunsicherten Fjodor, der vom sterbenden Vater Boris am Ende zwar die Krone übernimmt, aber sie nicht halten kann.

    Sebastian Weigle am Pult der Staatskapelle gewinnt der als eher spröde geltenden originalen Erstfassung von Modest Mussorgskis "Boris Godunow" so viele Farben ab, dass man staunt.
    Dagegen verblasst die Szene. Regisseur Christian Pahde und sein Ausstatter Alexander Lintl wollen mit ihrer Inszenierung neuere geschichtliche Erkenntnisse über den Regenten Boris Godunow umsetzen, die Mussorgski nicht kannte: Dass Boris nämlich den eigentlichen Thronprätendenten, den Zarewitsch Dimitrij, nicht ermordet habe, wie man ihm später in die Schuhe schob, sondern dass es ein Unfall war, bei dem der Zarewitsch, vom Volk gehetzt, zu Tode kam. Und alle wussten es.

    In einem längst schon wieder klischeehaften Moskau unserer Tage sieht man anfangs das Volk stochern auf einer Plastik-Müllhalde nach Verwertbarem. Schuiskij treibt den Zarewitsch dorthin, damit er sein Volk kennen lerne. Und dies hetzt den Unerkannten zu Tode. Eine kleine Gedenkstätte mit Totenlichtern wird ihm errichtet. Boris trägt den toten Jungen ratlos weg.

    Zum neuen Zaren erkoren, will er der gute Herrscher sein, Wohltaten verteilen unters Volk - und wird doch fremd gesteuert von einer mafiosen Halbwelt-Clique mit leichten Mädchen als Begleiterinnen. In schwarzer Putin-Freizeit-Lederjacke spielt der Zar mit seinen sportbegeisterten Kindern. Von seinem Sohn Fjodor, der lieber Männchen malt als Karten zu studieren, lässt er sich das russische Reich erklären, das es zu bewahren gilt.
    Der Kreml ist abstrahiert zu einem blutbeschmierten goldenen Kubus. Um die eigene Achse gedreht wird daraus eine mit Fahndungsfotos übersäte Kaschemme an der Grenze nach Litauen. Mönch Pimen residiert in seinem Kloster vor einer Parament-artigen Schreibwand mit doppeltem Boden. Dahinter leuchten andere Bedeutungen auf, als vorn notiert. Immer wieder schreitet der Schreiber zum Schredder, um nicht genehme Blätter der Chronik zu vernichten.

    Der getötete rechtmäßige Zarewitsch Dimitrij wird am Ende auf ein Prokrustes-Bett geschnürt und wie ein Gekreuzigter als eine Art Menetekel dem Zaren Boris vorgehalten, der ob der Geister-Erscheinungen schließlich stirbt.

    Beträchtlich ist der Aufwand. Alle Chor-Ressourcen sind aufgeboten, aber wenig strukturiert. Eine eigentliche Personenführung findet kaum statt. So bleibt doch letztlich papieren, was Pahde und Lintl zeigen wollten: die Fälschung von Geschichte durch Geschichtsschreibung und daraus resultierende Massen-Manipulation.

    Das Publikum reagierte am Ende denn auch mit heftigen Buhs fürs Inszenierungs-Team. Gefeiert wurden die Sänger. Und insbesondere René Pape. Zum ersten Mal war der gebürtige Dresdner Welt-Star an der Semperoper in einer Neuinszenierung zu erleben. Und wie er vorab versprach, würde er dorthin gern auch in Zukunft wieder zurückkommen.