So richtig aufgewacht bin ich erst bei der ersten Fraktionssitzung, die wir damals in Bonn noch hatten und zwar gemeinsam mit den Abgeordneten, die damals ausschieden. Das war für mich so der Augenblick, jetzt bist du Mitglied des Deutschen Bundestages und jetzt musst du hier eine ganz andere Arbeit leisten als du vorher geleistet hast und du bist wesentlich mehr Menschen Rechenschaft über Deine Arbeit schuldig als du es vorher gewesen bist.
Die Kölnerin Ursula Heinen sitzt seit vier Jahren für die CDU im Bundestag. Mit ihren 37 Jahren gehört die Diplom-Volkswirtin unter den 669 Abgeordneten zu den jüngeren, wenn auch keineswegs zu den jüngsten. Sie arbeitet im Zentrum der Republik und wird beflügelt von dem Gefühl, Politik zentral mitgestalten zu können. Ihre Parlamentsarbeit sieht sie - auch in der Rückschau - durchweg positiv:
Also, was mir gut gefällt, ist, wenn sie ein Thema haben oder, wenn ihnen etwas sehr missfällt, dann haben sie alle Chancen, das zu ändern. Sie haben auch als Oppositionsabgeordnete diese Möglichkeit. Das heißt, sie können einen Antrag stellen, sie werben in ihrer Fraktion für ihre Ideen und kämpfen dann für ihre Ideen und haben dann wirklich die Chance, was zu machen. Und ich hätte auch niemals gedacht, dass das so gut funktioniert.
Wie die allermeisten Abgeordneten trat Ursula Heinen schon sehr früh ihrer Partei bei, 22 Jahre alt war die Christdemokratin damals. Schon während ihres Studiums sammelte die Frau mit den langen glatten Haaren und der festen Stimme erste parlamentarische Erfahrungen - im Kölner Studentenparlament. Von ihrem Glauben an die Veränderbarkeit der Welt scheint sie nichts eingebüßt zu haben, nicht einmal während der allgemein als hart und frustrierend geschilderten Oppositionsarbeit der ersten Bundestagsjahre. Ursula Heinen hat die "Droge Politik" bislang durchaus genossen:
Da rutschen sie automatisch rein. Sie machen ja im Grunde von morgens bis abends nichts anderes als Politik. Sie machen letztlich nichts anderes den lieben langen Tag als Politik.
Ihr großes Arbeitsfeld, das sie mit vielen jungen Abgeordneten teilte, lautete "Generationengerechtigkeit". Am liebsten hätte sie eine Kommission, die die Auswirkung von neuen Gesetzen auf nachfolgende Generationen prüft. Lange Zeit war mit diesem Thema im Bundestag - überwiegend eine Ansammlung älterer Herren - kein Staat zu machen. Doch die Zeiten ändern sich. In der nächsten Legislaturperiode erwartet sie für das Thema "Jung und Alt" neue Kombattanten. Altgediente Parlamentarier sind ausgeschieden. Dafür wird allein in ihrer Fraktion die Zahl der Abgeordneten unter 35 Jahren von jetzt 14 auf über 20 steigen, freut sich die Abgeordnete Heinen. Sie selbst wird dank ihres guten Listenplatzes im nächsten Bundestag sicher auch wieder dabei sein. Um ihre persönliche Zukunft steht es also nicht schlecht, wohl aber, so die Kölner Abgeordnete, um das gegenwärtige Ansehen der Politiker in der Bevölkerung:
Grottenschlecht. Und das enttäuscht mich immer wieder. Ich kann es verstehen. Die Menschen sagen: Wir zahlen Euch und dafür müsst ihr auch ordentlich was schaffen, ihr schafft aber nichts. Dann kommt so eine gewisse Unzufriedenheit. Umgekehrt sind wir dann immer bemüht zu sagen, wir tun eine ganze Menge, erläutern, was wir machen. Aber es ist eben doch so, dass wir ziemlich schlecht im Bild der Öffentlichkeit da stehen.
Dabei kann niemand behaupten, Bundestagsabgeordnete würden zu wenig arbeiten. Beispiel: Carsten Hübner von der PDS, einer der 274 Abgeordneten, die vor vier Jahren neu im Bundestag anfingen. Mittägliche Verabredung mit dem jungen Mann mit den dunklen Locken im "Cafe Einstein" "Unter den Linden". Doch der Treffpunkt sollte zu keinen falschen Schlüssen führen. Auch dieses Interview ist ein Termin:
Die Arbeit an sich ist natürlich mit erheblichen auch persönlichen Belastungen verbunden. Es gibt einen relativ hohen Erfolgsdruck, es gibt einen sehr hohen Konformitätsdruck und es gibt immerhin, weil die Hälfte der Arbeit ja außerhalb des Wahlkreises, und damit auch außerhalb des Zuhauses stattfindet, natürlich auch persönliche Probleme.
Die Sitzungswochen in Berlin sind immer stramm durchgeplant, es herrscht Präsenzpflicht. Fraktionsarbeitsgruppensitzungen, Ausschuss-Arbeit, Fraktionssitzungen, Plenarsitzungen - häufig bis in den späten Abend. Dann noch jede Menge Gesprächsverabredungen und öffentliche Veranstaltungen. Von der Büroarbeit gar nicht zu sprechen. So geht es Tag für Tag. Termine, Termine, und noch mal Termine. Eine Tretmühle, die bei nicht wenigen Abgeordneten ihren Preis fordert:
Viele Leute sind eben sehr einsam, zumindest in der Zeit, in der sie in Berlin sind. Das ist ein großes Problem und das ist auch ein hoher Preis. Also es wird natürlich, wie in anderen Berufen auch, nicht zu selten Alkohol zum Beispiel getrunken. Das halte ich persönlich für ein Problem, was sich daraus ergibt.
Der Wahlkreis von Carsten Hübner ist Weimar, Stadt und Land. Dabei ist der 33jährige keineswegs ein Thüringer, nicht einmal ein Ostdeutscher. Hübner stammt aus Hannover, studierte in Braunschweig und heuerte 1996 als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Landtagsfraktion der PDS in Erfurt an. 1998 stellte ihn die Landespartei - mit Erfolg - als Kandidat für den Bundestag auf. - Der 1998 gewählte Jungparlamentarier, der nie Berufspolitiker werden wollte, hätte gern noch eine zweite Legislaturperiode drangehängt. Doch die Landesdelegierten zogen einen anderen ihm vor und folgten damit einem, so Hübner, unguten Trend:
Also die "Thüringer Allgemeine" hat getitelt einen Tag später, also den Beitrag über den Parteitag: "Von Arbeitern und Bauern". Das reicht vielleicht, um das zu charakterisieren. Ich würde mich dem anschließen. Es gibt insgesamt in der PDS so ein bisschen ein Rollback zum Traditionellen. So eine Selbstidentifikation als Vertreter der kleinen Leute, so eine Selbstinszenierung vielleicht auch im Sinne von Arbeiterschaft oder der Traditionspflege usw. Ich stehe für einen anderen Strang linker Politik und für den wird die Luft dünner momentan.
Ein Abgeordnetenmandat wird mit 6.000 Euro, also 12.000 Mark vergütet. Das ist gerade für einen jungen Menschen am Beginn seiner beruflichen Laufbahn viel Geld. Gleichzeitig ist das Mandat befristet, alle vier Jahre muss der Politiker um eine Erneuerung kämpfen. Nicht immer hat er dabei Erfolg, sei es, dass ihn die Partei gar nicht wieder aufstellt oder dass er - auf der Landesliste nicht angesichert - in seinem Wahlkreis nicht gewählt wird. Dass Carsten Hübner in den nächsten Bundestag nicht zurückkehren wird, schmerzt ihn zwar, doch unvorbereitet trifft es ihn nicht:
Für mich zum Beispiel und meine Frau war es völlig klar, dass wir während der Mandatszeit keinerlei Investitionen tätigen, die im Grunde über diese Zeit hinausgehen, also zum Beispiel ein Haus zu bauen. Das ist für mich völlig unakzeptabel gewesen, wieder aufgestellt werden zu müssen, damit ich nicht in finanzielle Nöte komme. Das ist aus meiner Sicht eine Rahmenbedingung, die macht Politik - zumindest potentiell - geradezu unmöglich.
Statistiker haben ausgerechnet, dass ein Politiker, ab Parteieintritt in Deutschland etwa 15 Jahre braucht, bis er für seine treuen Dienste mit einem gut bezahlten Mandat in einem Landes- oder dem Bundesparlament belohnt wird. So genannte Seiteneinsteiger, die öffentlich immer gewünscht werden, haben es eben auch deshalb schwer.
Für die Abgeordnete Gudrun Kopp trifft nichts dergleichen zu. Die Freidemokratin, Jahrgang 1950, trat vor 25 Jahren in die Partei ein und hat nach eigenem Bekunden nie eine Karriere als Berufspolitikerin geplant:
Die Arbeit macht sehr viel Freude. Weil sie in erster Linie ein unglaubliches Spektrum bietet, an Erfahrungen, Informationen, an neuen Dingen, an interessanten Dingen. Wenn sie ein Mensch sind, der sich gern auf neue Situationen einstellt und der begierig ist nach Informationen, nach neuesten Entwicklungen und die dann auch umsetzen können möchte, dann ist das eine phantastische Arbeit
Die schlanke, große, sehr bestimmt auftretende Politikerin ist Dolmetscherin und Exportkauffrau, arbeitete als Abteilungsleiterin in einem Elektro-Konzern und als Übersetzerin in einem mittelständischen Unternehmen. In die "große" Politik ging sie erst, nachdem die Kinder aus dem Hause waren. So kam sie als erfahrene Frau in die Bundespolitik und merkte gleich, dass etliches anders lief, als sie es gewohnt war. Aufwand und Ertrag, so Gudrun Kopp, stehe in der Parlamentsarbeit oftmals in keinem guten Verhältnis:
Ich habe als größtes Defizit kennen gelernt in der Beobachtung, dass die meisten Abgeordneten in dem Fachbereich, in dem sie tätig sind, sehr wenig Ahnung aus der Praxis mitbringen. In einem privaten Betrieb in Führungspositionen tätig gewesen zu sein und dann auch die Nöte des Alltags hautnah kennen gelernt zu haben, das ist durch nichts zu ersetzen
Politik als Beruf auszuüben - das will auch psychologisch bewältigt werden. Frust und Verletzungen, die es im hektischen, eitlen Tagesgeschäft häufig gibt, müssen weggesteckt, Abstimmungserfolge in den internen Zirkeln der Macht dürfen nicht überbewertet werden:
Ich beobachte zwei Extrementwicklungen. Die eine Entwicklung ist die, dass langjährig arbeitende Kollegen den inneren Rückzug antreten, irgendwann als Ausweichreaktion auf die Riesenbelastung; ein wenig die Angst vor diesen vielen anderen Menschen, die Angst, mit diesem, was an Neuem kommt, nicht mehr fertig werden zu können, die Überbelastung, den Stress nicht aushalten zu können und deshalb sich einfach zurückziehen. Und dann gibt es die gegenteilige Entwicklung derjenigen Kollegen, die nur immer nach außen streben, die selten in der Lage sind noch wirklich konzeptionell zu arbeiten. Das heißt, dass langjährige Kollegen häufig neu zu sozialisieren sind. Also sie verlieren den Kontakt zur Normalität, zur Wirklichkeit
Die Folgen sind oft beschrieben worden: Vereinsamung, Alkolismus, Workoholic's. Der Bonner Politologe Gerd Langguth spricht mit Blick auf manche Abgeordnete gar von "Politaholic's". Das Problem ist nicht neu - doch nach wie vor geschieht wenig zur Abhilfe. Die Abgeordnete Kopp mahnt professionelle Hilfe an, wie sie in großen Betrieben gang und gäbe ist. Vergeblich:
Nichts zu sehen. Ich hab' das auch schon mal angesprochen in einem internen Kreis und habe gemerkt, dass das irgendwo auch ein Stück Tabu-Thema war. 'Was will die denn, das ist ja merkwürdig'.
Mancher Parlamentarier drängt sich vor jedes Mikrofon, andere wirken eher im Verborgenen. Letzteres gilt für den Fernmeldebeamten Hans Forster. Durch langjährige Parteiarbeit für die SPD ist er tief verwurzelt in seinem ostfriesischen Wahlkreis Norden. Für den untersetzten Mann mit dunklem Bart und großer Brille war es nach eigenem Bekunden geradezu ein Schock, als er vor vier Jahren in den Bundestag gewählt wurde. Er konnte doch nicht wissen, dass 1998 in Niedersachsen die so genannte "Gerhard Schröder-Wahl" lief, bei der die SPD alles gewann, was in dem Bundesland zu gewinnen war:
Nach dem Wahlabend bin ich wieder ganz normal zur Arbeit gegangen und habe so gegen neun Uhr dreißig einen Anruf erhalten von unseren SPD-Geschäftsführer, der mir mitteilte, ich sei gewählt worden und möge am Dienstag in Berlin erscheinen, dort treffe sich zum ersten mal die Bundestagsfraktion.
Seit 1975 ist der Sozialdemokrat Mitglied der Postgewerkschaft. So versuchte er 1998 in einem der 23 Bundestagsausschüsse unterzukommen, in dem er sein Vorwissen gut nutzen konnte. Doch von den 296 SPD-Bundestagsabgeordneten ist nahezu jeder in einer Gewerkschaft. Und wer neu ist, der muss sich hinten anstellen:
Ich komme aus dem Bereich der Gewerkschaftspolitik und habe auch gedacht, in dem Bereich "Arbeits- und Sozialordnung" zu arbeiten, musste dann aber relativ schnell feststellen, dass das so die Bereiche sind, wo dann die arbeiten, die ein bisschen länger parlamentarische Erfahrung haben, und habe mich dann für den Bereich "Jugendpolitik, Familienpolitik, Seniorenpolitik" entschieden.
In der Regel folgen auf eine oder zwei sitzungsfreie Wochen im Wahlkreis zwei Tagungswochen in Berlin. Vieles von dem, was die Abgeordneten dort machen, ist nach außen kaum sichtbar. Der Bundestag ist ein Arbeitsparlament. Geringe Anwesenheit im Plenum ist kein Beleg für etwaige Faulheit der Abgeordneten, eine Besprechung jagt die nächste. Das gilt ganz besonders für die Regierungsparteien, aber auch für die Opposition. Am intensivsten - und vergleichsweise offen - wird zweifellos in den Ausschüssen diskutiert, die allerdings nur in Ausnahmen öffentlich sind. In den sitzungsfreien Wochen muss der Abgeordnete in seinem Wahlkreis präsent sein, wo sich, abseits der großen Politik, manches für den Bürger machen lässt, meint Sozialdemokrat Forster:
Bei uns in der Region gab und gibt es eine ganze Reihe von Kirchenasylfällen und dort habe ich mich auch bemüht, zu versuchen, im Interesse der betroffenen Familien Lösungen zu finden, damit ihnen ein Bleiberecht ermöglicht wird und auch teilweise Erfolg gehabt.
Befragt nach seiner bittersten Erfahrung muss der gestandene Gewerkschafter, der sich zu den Linken in der Partei zählt, nicht lange überlegen. Es war die Abstimmung um Deutschlands Rolle in Afghanistan. Die Person Hans Forster war gegen den Bundeswehr-Einsatz, doch der Abgeordnete Forster musste dafür stimmen:
Da hat Gerhard Schröder die Vertrauensfrage gestellt und das ging vielen, auch mir, dann doch sehr stark - ja - ans grundsätzliche und emotional war das eine sehr, sehr, sehr harte Entscheidung.
Der SPD-Abgeordnete aus Norden in Ostfriesland wird kaum in den nächsten Bundestag zurückkehren, sein Listenplatz lässt viel Hoffnung gar nicht erst aufkommen. Das findet Forster einerseits schade, doch andererseits sieht er das Ende seines Dienstes in Berlin auch als eine Art Befreiung - der Amateurhistoriker, der nicht gerne im Rampenlicht steht, findet jetzt endlich wieder Zeit für sein Hobby - das Erforschen der Geschichte der Sozialdemokratie in seiner Region.
Auf jeden Fall zurückkehren wird - wenn die Grünen die Fünf-Prozent-Hürde meistern - Ekin Deligöz. Die heute Einunddreißigjährige kam 1979 nach Deutschland, studierte später Verwaltungswissenschaften in Konstanz und lernte das politische Handwerk im Büro ihres grünen Fraktionskollegen Cem Özdemir. Seit 1998 sitzt sie im Bundestag und stärkt dort den Frauenanteil, der kontinuierlich gestiegen ist und schon bei dreißig Prozent liegt:
Gut gefällt mir an meiner Arbeit mein Team. Ich habe hier ne kleine Würstchenbude in dem großen Räderwerk, aber auch Würstchen braucht man. Ich arbeite sehr, sehr gerne mit meinen Mitarbeitern zusammen. Wir bilden zusammen eine Einheit. Ich bin sehr gerne bei Veranstaltungen draußen, bei den einzelnen Kreisverbänden, in den Städten, wenn ich Einrichtungen besuche, wenn ich mit den Menschen rede. Ich lerne sehr viele verschiedene Menschen, verschiedene Eindrücke kennen. Ich habe einen sehr abwechslungsreichen Job.
Stolz zeigt die Abgeordnete das Foto ihres kleinen Sohnes, der noch fast ein Säugling ist. Ihr ist immer wichtig, Familie und Arbeitsbelastung unter einen Hut zu bringen:
Es gibt hier so etwas wie ein Spinnennetz. Wenn man darin verfängt, und das geht ganz schnell, kommt man nicht mehr heraus: Ich will meinen Namen in der Presse lesen, ich will mich durchsetzen, ich will Anerkennung nach außen, Anerkennung nach innen und ich will überall dabei sein. Wenn man diesen Anspruch hegt, hat man verloren, noch bevor man die Würfel gespielt hat. Zum Beispiel für mich ist wichtig: Meine Familie. mein Kind, mein Mann, meine Eltern. Es ist oft so, dass es mir zum Nachteil gereicht, wenn ich abends um sieben aufstehe und sage, jetzt kann ich nicht mehr dabeisein, tut mir leid, ich will mein Kind noch ins Bett bringen. Dann heißt es: Moment mal, für was wirst du eigentlich bezahlt.
Ekin Deligöz fällt durch ihren türkischen Namen auf und dadurch, dass sie als einzige von 669 Abgeordneten dieser Legislaturperiode muslimischen Glaubens war. Andere Weltreligionen sucht man im Parlament vergeblich. Auch, was die Berufe anbetrifft, bildet der Bundestag die deutsche Gesellschaft nur unzureichend ab: Hier sitzen überwiegend diejenigen, die in ihrem beruflichen Alltag Zeit für Politik hatten und haben: Beamte, Verbandsfunktionäre, Angestellte des öffentlichen Dienstes und Rentner.
Einerseits ist die Grüne eine Migrantin, andererseits möchte sie sich auf das Einwandererthema aber nicht festnageln lassen. Sie werde ohnehin oft daran erinnert:
Man bekommt schon auch mal Beschimpfungen, bis hin zu Morddrohungen, die auch hier im Büro, gerade weil ich Migrantin bin, angekommen sind. Die Augenblicke, in denen man sich nicht um sich selbst fürchtet, weil ich selber, ich mache das freiwillig, ich habe mir den Job ausgewählt, sondern die Angst, was passiert mit meinen Eltern, mit meiner Familie, mit meinen Mitarbeitern, wenn hier komische Pakete rein kommen.
Am 22. September wird ein neuer Bundestag gewählt. Er wird kleiner werden als der alte. Statt 669 Abgeordnete werden nur 598 kommen, davon etwa ein Fünftel Neulinge.
Ob eine neue Koalition dann die Geschicke der Republik bestimmt - oder sich die alte behaupten kann: auf jeden Fall kommt auf den dann verkleinerten Bundestag wieder viel Arbeit zu. Dennoch ist das öffentliche Ansehen der Berufspolitiker schlecht. Sie rangieren am unteren Ende der Prestigeskala. Dass sich daran in absehbarer Zeit viel ändern wird, muss bezweifelt werden. Das antiparlamentarische Ressentiment hat in Deutschland eine lange Tradition. Dagegen hilft nur: Mehr Transparenz in der Politik und offenere Debatten im Plenum. Der Vorschlag des Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse, die bislang exklusiven Sitzungen der Ausschüsse künftig öffentlich abzuhalten, geht in die richtige Richtung. Bundestagsabgeordnete betonen gern, dass der Bundestag eines der fleißigsten Parlamente auf der Welt ist. Das stimmt. Doch Fleiß ist eben nicht alles.
Die Kölnerin Ursula Heinen sitzt seit vier Jahren für die CDU im Bundestag. Mit ihren 37 Jahren gehört die Diplom-Volkswirtin unter den 669 Abgeordneten zu den jüngeren, wenn auch keineswegs zu den jüngsten. Sie arbeitet im Zentrum der Republik und wird beflügelt von dem Gefühl, Politik zentral mitgestalten zu können. Ihre Parlamentsarbeit sieht sie - auch in der Rückschau - durchweg positiv:
Also, was mir gut gefällt, ist, wenn sie ein Thema haben oder, wenn ihnen etwas sehr missfällt, dann haben sie alle Chancen, das zu ändern. Sie haben auch als Oppositionsabgeordnete diese Möglichkeit. Das heißt, sie können einen Antrag stellen, sie werben in ihrer Fraktion für ihre Ideen und kämpfen dann für ihre Ideen und haben dann wirklich die Chance, was zu machen. Und ich hätte auch niemals gedacht, dass das so gut funktioniert.
Wie die allermeisten Abgeordneten trat Ursula Heinen schon sehr früh ihrer Partei bei, 22 Jahre alt war die Christdemokratin damals. Schon während ihres Studiums sammelte die Frau mit den langen glatten Haaren und der festen Stimme erste parlamentarische Erfahrungen - im Kölner Studentenparlament. Von ihrem Glauben an die Veränderbarkeit der Welt scheint sie nichts eingebüßt zu haben, nicht einmal während der allgemein als hart und frustrierend geschilderten Oppositionsarbeit der ersten Bundestagsjahre. Ursula Heinen hat die "Droge Politik" bislang durchaus genossen:
Da rutschen sie automatisch rein. Sie machen ja im Grunde von morgens bis abends nichts anderes als Politik. Sie machen letztlich nichts anderes den lieben langen Tag als Politik.
Ihr großes Arbeitsfeld, das sie mit vielen jungen Abgeordneten teilte, lautete "Generationengerechtigkeit". Am liebsten hätte sie eine Kommission, die die Auswirkung von neuen Gesetzen auf nachfolgende Generationen prüft. Lange Zeit war mit diesem Thema im Bundestag - überwiegend eine Ansammlung älterer Herren - kein Staat zu machen. Doch die Zeiten ändern sich. In der nächsten Legislaturperiode erwartet sie für das Thema "Jung und Alt" neue Kombattanten. Altgediente Parlamentarier sind ausgeschieden. Dafür wird allein in ihrer Fraktion die Zahl der Abgeordneten unter 35 Jahren von jetzt 14 auf über 20 steigen, freut sich die Abgeordnete Heinen. Sie selbst wird dank ihres guten Listenplatzes im nächsten Bundestag sicher auch wieder dabei sein. Um ihre persönliche Zukunft steht es also nicht schlecht, wohl aber, so die Kölner Abgeordnete, um das gegenwärtige Ansehen der Politiker in der Bevölkerung:
Grottenschlecht. Und das enttäuscht mich immer wieder. Ich kann es verstehen. Die Menschen sagen: Wir zahlen Euch und dafür müsst ihr auch ordentlich was schaffen, ihr schafft aber nichts. Dann kommt so eine gewisse Unzufriedenheit. Umgekehrt sind wir dann immer bemüht zu sagen, wir tun eine ganze Menge, erläutern, was wir machen. Aber es ist eben doch so, dass wir ziemlich schlecht im Bild der Öffentlichkeit da stehen.
Dabei kann niemand behaupten, Bundestagsabgeordnete würden zu wenig arbeiten. Beispiel: Carsten Hübner von der PDS, einer der 274 Abgeordneten, die vor vier Jahren neu im Bundestag anfingen. Mittägliche Verabredung mit dem jungen Mann mit den dunklen Locken im "Cafe Einstein" "Unter den Linden". Doch der Treffpunkt sollte zu keinen falschen Schlüssen führen. Auch dieses Interview ist ein Termin:
Die Arbeit an sich ist natürlich mit erheblichen auch persönlichen Belastungen verbunden. Es gibt einen relativ hohen Erfolgsdruck, es gibt einen sehr hohen Konformitätsdruck und es gibt immerhin, weil die Hälfte der Arbeit ja außerhalb des Wahlkreises, und damit auch außerhalb des Zuhauses stattfindet, natürlich auch persönliche Probleme.
Die Sitzungswochen in Berlin sind immer stramm durchgeplant, es herrscht Präsenzpflicht. Fraktionsarbeitsgruppensitzungen, Ausschuss-Arbeit, Fraktionssitzungen, Plenarsitzungen - häufig bis in den späten Abend. Dann noch jede Menge Gesprächsverabredungen und öffentliche Veranstaltungen. Von der Büroarbeit gar nicht zu sprechen. So geht es Tag für Tag. Termine, Termine, und noch mal Termine. Eine Tretmühle, die bei nicht wenigen Abgeordneten ihren Preis fordert:
Viele Leute sind eben sehr einsam, zumindest in der Zeit, in der sie in Berlin sind. Das ist ein großes Problem und das ist auch ein hoher Preis. Also es wird natürlich, wie in anderen Berufen auch, nicht zu selten Alkohol zum Beispiel getrunken. Das halte ich persönlich für ein Problem, was sich daraus ergibt.
Der Wahlkreis von Carsten Hübner ist Weimar, Stadt und Land. Dabei ist der 33jährige keineswegs ein Thüringer, nicht einmal ein Ostdeutscher. Hübner stammt aus Hannover, studierte in Braunschweig und heuerte 1996 als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Landtagsfraktion der PDS in Erfurt an. 1998 stellte ihn die Landespartei - mit Erfolg - als Kandidat für den Bundestag auf. - Der 1998 gewählte Jungparlamentarier, der nie Berufspolitiker werden wollte, hätte gern noch eine zweite Legislaturperiode drangehängt. Doch die Landesdelegierten zogen einen anderen ihm vor und folgten damit einem, so Hübner, unguten Trend:
Also die "Thüringer Allgemeine" hat getitelt einen Tag später, also den Beitrag über den Parteitag: "Von Arbeitern und Bauern". Das reicht vielleicht, um das zu charakterisieren. Ich würde mich dem anschließen. Es gibt insgesamt in der PDS so ein bisschen ein Rollback zum Traditionellen. So eine Selbstidentifikation als Vertreter der kleinen Leute, so eine Selbstinszenierung vielleicht auch im Sinne von Arbeiterschaft oder der Traditionspflege usw. Ich stehe für einen anderen Strang linker Politik und für den wird die Luft dünner momentan.
Ein Abgeordnetenmandat wird mit 6.000 Euro, also 12.000 Mark vergütet. Das ist gerade für einen jungen Menschen am Beginn seiner beruflichen Laufbahn viel Geld. Gleichzeitig ist das Mandat befristet, alle vier Jahre muss der Politiker um eine Erneuerung kämpfen. Nicht immer hat er dabei Erfolg, sei es, dass ihn die Partei gar nicht wieder aufstellt oder dass er - auf der Landesliste nicht angesichert - in seinem Wahlkreis nicht gewählt wird. Dass Carsten Hübner in den nächsten Bundestag nicht zurückkehren wird, schmerzt ihn zwar, doch unvorbereitet trifft es ihn nicht:
Für mich zum Beispiel und meine Frau war es völlig klar, dass wir während der Mandatszeit keinerlei Investitionen tätigen, die im Grunde über diese Zeit hinausgehen, also zum Beispiel ein Haus zu bauen. Das ist für mich völlig unakzeptabel gewesen, wieder aufgestellt werden zu müssen, damit ich nicht in finanzielle Nöte komme. Das ist aus meiner Sicht eine Rahmenbedingung, die macht Politik - zumindest potentiell - geradezu unmöglich.
Statistiker haben ausgerechnet, dass ein Politiker, ab Parteieintritt in Deutschland etwa 15 Jahre braucht, bis er für seine treuen Dienste mit einem gut bezahlten Mandat in einem Landes- oder dem Bundesparlament belohnt wird. So genannte Seiteneinsteiger, die öffentlich immer gewünscht werden, haben es eben auch deshalb schwer.
Für die Abgeordnete Gudrun Kopp trifft nichts dergleichen zu. Die Freidemokratin, Jahrgang 1950, trat vor 25 Jahren in die Partei ein und hat nach eigenem Bekunden nie eine Karriere als Berufspolitikerin geplant:
Die Arbeit macht sehr viel Freude. Weil sie in erster Linie ein unglaubliches Spektrum bietet, an Erfahrungen, Informationen, an neuen Dingen, an interessanten Dingen. Wenn sie ein Mensch sind, der sich gern auf neue Situationen einstellt und der begierig ist nach Informationen, nach neuesten Entwicklungen und die dann auch umsetzen können möchte, dann ist das eine phantastische Arbeit
Die schlanke, große, sehr bestimmt auftretende Politikerin ist Dolmetscherin und Exportkauffrau, arbeitete als Abteilungsleiterin in einem Elektro-Konzern und als Übersetzerin in einem mittelständischen Unternehmen. In die "große" Politik ging sie erst, nachdem die Kinder aus dem Hause waren. So kam sie als erfahrene Frau in die Bundespolitik und merkte gleich, dass etliches anders lief, als sie es gewohnt war. Aufwand und Ertrag, so Gudrun Kopp, stehe in der Parlamentsarbeit oftmals in keinem guten Verhältnis:
Ich habe als größtes Defizit kennen gelernt in der Beobachtung, dass die meisten Abgeordneten in dem Fachbereich, in dem sie tätig sind, sehr wenig Ahnung aus der Praxis mitbringen. In einem privaten Betrieb in Führungspositionen tätig gewesen zu sein und dann auch die Nöte des Alltags hautnah kennen gelernt zu haben, das ist durch nichts zu ersetzen
Politik als Beruf auszuüben - das will auch psychologisch bewältigt werden. Frust und Verletzungen, die es im hektischen, eitlen Tagesgeschäft häufig gibt, müssen weggesteckt, Abstimmungserfolge in den internen Zirkeln der Macht dürfen nicht überbewertet werden:
Ich beobachte zwei Extrementwicklungen. Die eine Entwicklung ist die, dass langjährig arbeitende Kollegen den inneren Rückzug antreten, irgendwann als Ausweichreaktion auf die Riesenbelastung; ein wenig die Angst vor diesen vielen anderen Menschen, die Angst, mit diesem, was an Neuem kommt, nicht mehr fertig werden zu können, die Überbelastung, den Stress nicht aushalten zu können und deshalb sich einfach zurückziehen. Und dann gibt es die gegenteilige Entwicklung derjenigen Kollegen, die nur immer nach außen streben, die selten in der Lage sind noch wirklich konzeptionell zu arbeiten. Das heißt, dass langjährige Kollegen häufig neu zu sozialisieren sind. Also sie verlieren den Kontakt zur Normalität, zur Wirklichkeit
Die Folgen sind oft beschrieben worden: Vereinsamung, Alkolismus, Workoholic's. Der Bonner Politologe Gerd Langguth spricht mit Blick auf manche Abgeordnete gar von "Politaholic's". Das Problem ist nicht neu - doch nach wie vor geschieht wenig zur Abhilfe. Die Abgeordnete Kopp mahnt professionelle Hilfe an, wie sie in großen Betrieben gang und gäbe ist. Vergeblich:
Nichts zu sehen. Ich hab' das auch schon mal angesprochen in einem internen Kreis und habe gemerkt, dass das irgendwo auch ein Stück Tabu-Thema war. 'Was will die denn, das ist ja merkwürdig'.
Mancher Parlamentarier drängt sich vor jedes Mikrofon, andere wirken eher im Verborgenen. Letzteres gilt für den Fernmeldebeamten Hans Forster. Durch langjährige Parteiarbeit für die SPD ist er tief verwurzelt in seinem ostfriesischen Wahlkreis Norden. Für den untersetzten Mann mit dunklem Bart und großer Brille war es nach eigenem Bekunden geradezu ein Schock, als er vor vier Jahren in den Bundestag gewählt wurde. Er konnte doch nicht wissen, dass 1998 in Niedersachsen die so genannte "Gerhard Schröder-Wahl" lief, bei der die SPD alles gewann, was in dem Bundesland zu gewinnen war:
Nach dem Wahlabend bin ich wieder ganz normal zur Arbeit gegangen und habe so gegen neun Uhr dreißig einen Anruf erhalten von unseren SPD-Geschäftsführer, der mir mitteilte, ich sei gewählt worden und möge am Dienstag in Berlin erscheinen, dort treffe sich zum ersten mal die Bundestagsfraktion.
Seit 1975 ist der Sozialdemokrat Mitglied der Postgewerkschaft. So versuchte er 1998 in einem der 23 Bundestagsausschüsse unterzukommen, in dem er sein Vorwissen gut nutzen konnte. Doch von den 296 SPD-Bundestagsabgeordneten ist nahezu jeder in einer Gewerkschaft. Und wer neu ist, der muss sich hinten anstellen:
Ich komme aus dem Bereich der Gewerkschaftspolitik und habe auch gedacht, in dem Bereich "Arbeits- und Sozialordnung" zu arbeiten, musste dann aber relativ schnell feststellen, dass das so die Bereiche sind, wo dann die arbeiten, die ein bisschen länger parlamentarische Erfahrung haben, und habe mich dann für den Bereich "Jugendpolitik, Familienpolitik, Seniorenpolitik" entschieden.
In der Regel folgen auf eine oder zwei sitzungsfreie Wochen im Wahlkreis zwei Tagungswochen in Berlin. Vieles von dem, was die Abgeordneten dort machen, ist nach außen kaum sichtbar. Der Bundestag ist ein Arbeitsparlament. Geringe Anwesenheit im Plenum ist kein Beleg für etwaige Faulheit der Abgeordneten, eine Besprechung jagt die nächste. Das gilt ganz besonders für die Regierungsparteien, aber auch für die Opposition. Am intensivsten - und vergleichsweise offen - wird zweifellos in den Ausschüssen diskutiert, die allerdings nur in Ausnahmen öffentlich sind. In den sitzungsfreien Wochen muss der Abgeordnete in seinem Wahlkreis präsent sein, wo sich, abseits der großen Politik, manches für den Bürger machen lässt, meint Sozialdemokrat Forster:
Bei uns in der Region gab und gibt es eine ganze Reihe von Kirchenasylfällen und dort habe ich mich auch bemüht, zu versuchen, im Interesse der betroffenen Familien Lösungen zu finden, damit ihnen ein Bleiberecht ermöglicht wird und auch teilweise Erfolg gehabt.
Befragt nach seiner bittersten Erfahrung muss der gestandene Gewerkschafter, der sich zu den Linken in der Partei zählt, nicht lange überlegen. Es war die Abstimmung um Deutschlands Rolle in Afghanistan. Die Person Hans Forster war gegen den Bundeswehr-Einsatz, doch der Abgeordnete Forster musste dafür stimmen:
Da hat Gerhard Schröder die Vertrauensfrage gestellt und das ging vielen, auch mir, dann doch sehr stark - ja - ans grundsätzliche und emotional war das eine sehr, sehr, sehr harte Entscheidung.
Der SPD-Abgeordnete aus Norden in Ostfriesland wird kaum in den nächsten Bundestag zurückkehren, sein Listenplatz lässt viel Hoffnung gar nicht erst aufkommen. Das findet Forster einerseits schade, doch andererseits sieht er das Ende seines Dienstes in Berlin auch als eine Art Befreiung - der Amateurhistoriker, der nicht gerne im Rampenlicht steht, findet jetzt endlich wieder Zeit für sein Hobby - das Erforschen der Geschichte der Sozialdemokratie in seiner Region.
Auf jeden Fall zurückkehren wird - wenn die Grünen die Fünf-Prozent-Hürde meistern - Ekin Deligöz. Die heute Einunddreißigjährige kam 1979 nach Deutschland, studierte später Verwaltungswissenschaften in Konstanz und lernte das politische Handwerk im Büro ihres grünen Fraktionskollegen Cem Özdemir. Seit 1998 sitzt sie im Bundestag und stärkt dort den Frauenanteil, der kontinuierlich gestiegen ist und schon bei dreißig Prozent liegt:
Gut gefällt mir an meiner Arbeit mein Team. Ich habe hier ne kleine Würstchenbude in dem großen Räderwerk, aber auch Würstchen braucht man. Ich arbeite sehr, sehr gerne mit meinen Mitarbeitern zusammen. Wir bilden zusammen eine Einheit. Ich bin sehr gerne bei Veranstaltungen draußen, bei den einzelnen Kreisverbänden, in den Städten, wenn ich Einrichtungen besuche, wenn ich mit den Menschen rede. Ich lerne sehr viele verschiedene Menschen, verschiedene Eindrücke kennen. Ich habe einen sehr abwechslungsreichen Job.
Stolz zeigt die Abgeordnete das Foto ihres kleinen Sohnes, der noch fast ein Säugling ist. Ihr ist immer wichtig, Familie und Arbeitsbelastung unter einen Hut zu bringen:
Es gibt hier so etwas wie ein Spinnennetz. Wenn man darin verfängt, und das geht ganz schnell, kommt man nicht mehr heraus: Ich will meinen Namen in der Presse lesen, ich will mich durchsetzen, ich will Anerkennung nach außen, Anerkennung nach innen und ich will überall dabei sein. Wenn man diesen Anspruch hegt, hat man verloren, noch bevor man die Würfel gespielt hat. Zum Beispiel für mich ist wichtig: Meine Familie. mein Kind, mein Mann, meine Eltern. Es ist oft so, dass es mir zum Nachteil gereicht, wenn ich abends um sieben aufstehe und sage, jetzt kann ich nicht mehr dabeisein, tut mir leid, ich will mein Kind noch ins Bett bringen. Dann heißt es: Moment mal, für was wirst du eigentlich bezahlt.
Ekin Deligöz fällt durch ihren türkischen Namen auf und dadurch, dass sie als einzige von 669 Abgeordneten dieser Legislaturperiode muslimischen Glaubens war. Andere Weltreligionen sucht man im Parlament vergeblich. Auch, was die Berufe anbetrifft, bildet der Bundestag die deutsche Gesellschaft nur unzureichend ab: Hier sitzen überwiegend diejenigen, die in ihrem beruflichen Alltag Zeit für Politik hatten und haben: Beamte, Verbandsfunktionäre, Angestellte des öffentlichen Dienstes und Rentner.
Einerseits ist die Grüne eine Migrantin, andererseits möchte sie sich auf das Einwandererthema aber nicht festnageln lassen. Sie werde ohnehin oft daran erinnert:
Man bekommt schon auch mal Beschimpfungen, bis hin zu Morddrohungen, die auch hier im Büro, gerade weil ich Migrantin bin, angekommen sind. Die Augenblicke, in denen man sich nicht um sich selbst fürchtet, weil ich selber, ich mache das freiwillig, ich habe mir den Job ausgewählt, sondern die Angst, was passiert mit meinen Eltern, mit meiner Familie, mit meinen Mitarbeitern, wenn hier komische Pakete rein kommen.
Am 22. September wird ein neuer Bundestag gewählt. Er wird kleiner werden als der alte. Statt 669 Abgeordnete werden nur 598 kommen, davon etwa ein Fünftel Neulinge.
Ob eine neue Koalition dann die Geschicke der Republik bestimmt - oder sich die alte behaupten kann: auf jeden Fall kommt auf den dann verkleinerten Bundestag wieder viel Arbeit zu. Dennoch ist das öffentliche Ansehen der Berufspolitiker schlecht. Sie rangieren am unteren Ende der Prestigeskala. Dass sich daran in absehbarer Zeit viel ändern wird, muss bezweifelt werden. Das antiparlamentarische Ressentiment hat in Deutschland eine lange Tradition. Dagegen hilft nur: Mehr Transparenz in der Politik und offenere Debatten im Plenum. Der Vorschlag des Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse, die bislang exklusiven Sitzungen der Ausschüsse künftig öffentlich abzuhalten, geht in die richtige Richtung. Bundestagsabgeordnete betonen gern, dass der Bundestag eines der fleißigsten Parlamente auf der Welt ist. Das stimmt. Doch Fleiß ist eben nicht alles.