Vielleicht deshalb hat der Berliner Senat an Gymnasien der Stadt die Sprachregelung herausgegeben, wonach es unerwünscht ist, weiterhin die Abkürzung BRD zu benutzen. Denn das sei DDR-Sprachgebrauch. Man möge die Abkürzung aussprechen oder BR Deutschland sagen und schreiben. Das war unklug vom Senat, denn natürlich haben sich die Schüler, die davon erzählten, vorgenommen, ab sofort nur noch BRD zu sagen.
Zwar sollen die Führungspositionen in der BR Deutschland inzwischen schon zu drei Prozent von Ostdeutschen besetzt sein, aber Wünsche zur Sprachregelung dürfen sie deshalb noch lange nicht anmelden. So werden bei Übungen der Bundeswehr die Attacken immer noch gegen die Rotländer geführt, was offenbar alle für normal halten. Zwar werden die alten Feindbilder gepflegt, aber die Kämpfer sind müde geworden.
Zu den wichtigsten Forderungen der DDR-Bürger aus der Wendezeit gehörte das Recht auf freie Wahlen. Bei den letzten Kommunalwahlen in Thüringen betrug die Wahlbeteiligung 45 Prozent. Dieses Verhalten der Ostdeutschen ist enttäuschend. Man kann es kritisieren, aber hilfreicher ist wohl, es erklären zu wollen.
Nach 10 Jahren staatlicher Einheit ist die Bilanz durchaus widersprüchlich. Die gute Hälfte der Befragten gibt an, dass sich ihre persönliche materielle Situation im Vergleich zur DDR verbessert hat. Darunter viele Rentner. Das bezieht sich vor allem auf den Wohnkomfort, auf Konsum- und Reisemöglichkeiten. Für westliche Beobachter merkwürdigerweise stieg aber die Zufriedenheit mit Politik und Gesellschaft nicht proportional. Das hängt damit zusammen, dass sich der absolute Abstand zum Lebensstandard der Westdeutschen vergrößert hat und daher eine Zwei-Drittel-Mehrheit erheblich unzufrieden ist mit der gesamtwirtschaftlichen Situation, aber auch mit den Chancen demokratischer Mitgestaltung, mit der Verfassungswirklichkeit, kurzum mit dem marktwirtschaftlichen Rechtsstaat.
Dies ist jedoch keine generelle Demokratiefeindlichkeit und Ablehnung marktwirtschaftlicher Steuerung, sondern eine Kritik daran, wie marktradikal und lobbyistisch das neue System im Osten übertragen wurde, so dass die sowieso vorhandenen, systemimmanenten Ungerechtigkeiten hier noch verschärft wurden.
Die Ostdeutschen sind wach gegenüber den Defiziten dieser geldfixierten, bundesdeutschen Variante von Demokratie. Die Vorstellungen von Grundrechten sind im Osten umfassender - die neuen Chancen durch den Hinzugewinn an klassischen, freiheitlichen Rechten werden durchweg gewürdigt, der weitgehende Verlust der modernen, sozialen Grundrechte ist für viele jedoch ein zu hoher Preis. Eine Verfassung soll den einzelnen vor dem Staat schützen. Das schließt aber nicht aus, dass der Staat dennoch auch den einzelnen schützt. Erst die Dreieinigkeit ist für die meisten Ostdeutschen die ganze Freiheit: Die Freiheit vom Staat (also die Abwehrrechte), die Freiheit im Staat (die Partizipationsrechte) und die Freiheit durch den Staat (die sozialen Menschenrechte).
Der Gesetzgeber hat jedoch in den Augen vieler Ostdeutscher ihre Freiheitsrechte auf bestimmten Gebieten eingeschränkt. Denn in der Marktwirtschaft ist das wichtigste Freiheitsrecht das Eigentum. Ludwig Erhard kannte die Spielregel seines Systems: "Nur Eigentum gewährleistet persönliche Sicherheit und geistige Unabhängigkeit". Die größte Enteignung, die es je im Kapitalismus gab, haben die Ostdeutschen angesichts ihres nicht nur entschädigungslos, sondern sogar mit Schaden, nämlich mit Schulden, geschluckten Volkseigentums erleben müssen. Dass dies nicht ganz wertlos gewesen sein kann, ergibt sich allein daraus, dass die Deutsche Bank vor 10 Jahren das beste Geschäftsjahr in ihrer hundertjährigen Geschichte hatte. Die vereinigungsbedingten Mehreinnahmen im Westen durch die Vereinnahmung der östlichen Märkte sind nach wie vor höher als der sogenannte Transfer für den Osten.
Die Privatisierung des sozialistischen Eigentums war der Hauptinhalt der Transformation. Zwar ist von Privatisierung im Grundgesetz nicht ausdrücklich die Rede, von Sozialisierung durch Überführung in Gemeineigentum aber sehr wohl. Die Mehrheit der Ostdeutschen sieht in diesem Punkt nicht das letzte Wort gesprochen, ganz im Sinne eines frühen Urteils des Bundesverfassungsgerichtes vom Juli 1954, in dem es heißt: "Die gegenwärtige Wirtschafts- und Sozialordnung ist zwar eine nach dem Grundgesetz mögliche Ordnung, keineswegs aber die allein mögliche."
Das Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen gilt nur für "im Beitrittsgebiet gelegenes Vermögen". Zwar sind den meist westdeutschen Alteigentümern die Anmeldefristen mehrfach verlängert worden, aber die wenigen östlichen Alteigentümer von Westgrundstücken erfuhren, dass ihre Ansprüche schon vor Jahren abgelaufen seien. Der Gesetzgeber hat es ermöglicht, dass in Ostdeutschland über zwei Millionen Anträge auf Rückgabe von Immobilien bearbeitet werden konnten, in Westdeutschland aber kein einziger. Nicht einmal auf Entschädigung. So offen durften die "offenen Vermögensfragen" nicht sein.
Das hat das Gefälle zwischen Ost- und Westeigentümern zementiert. Insofern ist es nicht zutreffend, die heutigen Differenzen allein aus der Kluft des Lebensstandards DDR - Bundesrepublik zu erklären. Treuhand und Vermögensämter haben Immobilien und Betriebe unter Konditionen verteilt, von denen die Ostdeutschen weitgehend ausgeschlossen waren. Der Prozess dauert gegenwärtig bei der Vergabe des Bodenreformlandes an, wo Alteigentümer ebenfalls begünstigt werden. Bei der Währungsunion haben die Ostdeutschen etwa ein Drittel ihrer Ersparnisse eingebüßt, ohne dass die in Aussicht gestellten Anteilsscheine am Volksvermögen vergeben werden konnten. Und schließlich tragen die niedrigeren Löhne im Osten und der Umstand, dass die Mehrheit der besserbezahlten Chefposten weiterhin von Westdeutschen besetzt sind, nachhaltig zur Aufrechterhaltung der Unterschiede bei.
Wenn das jetzige Wachstumstempo auf beiden Seiten beibehalten wird, so haben Fachleute gerade berechnet, wird es noch 80 Jahre bis zur vollständigen Angleichung der Lebensverhältnisse dauern. Zwar sind die Ostdeutschen manche Zumutung gewohnt, aber man wird sie nicht für eine Demokratie und Marktwirtschaft begeistern können, in der man sie von deren Voraussetzungen, nämlich Arbeit und Eigentum, weitgehend ausschließt. Kein Wunder, dass die Abwanderung in den letzten Jahren weit höher war als vor der Währungsunion.
Wenn die Formel von Ludwig Erhard stimmt, so haben die Ostdeutschen, da sie im Vergleich zu den Westdeutschen nur über ein Viertel des Eigentums verfügen, auch nur ein Viertel an persönlicher Sicherheit und geistiger Unabhängigkeit. Das mag manche Verhaltensweise erklären, die mehr zu Zweiheit als zu Einheit tendiert. BRDigung - nein danke? Genauso viele, wie vor zehn Jahren die Einheit wollten, sehen die Wirtschafts- und Sozialordnung der Bundesrepublik heute als ungerecht an. Zur Bilanz gehört nun auf beiden Seiten die Einsicht. Die Einheit war eine feindliche Übernahme auf Wunsch der Übernommenen.
Daniela Dahn - Bilanzlied. Sie hörten einen für unsere Sendung entstandenen, anderweitig noch nicht publizierten Text.