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Bilderbuch des Zeitgeists

Hippies - wir erinnern uns: Das war ein zur Lebensform geronnener globaler Zeitgeist. Der Brite Barry Miles ist freilich keine Ausnahme von der Regel, dass angelsächsische Autoren oft vor allem Angelsachsen als Weltbeweger sehen. Dass die USA die radikalste und umfassendste Gegenkultur hatten, ist unbestritten. Aber England? Nur weil auch viele britische Bands damals am Zeitgeist mitstrickten? Wenn Lebensform-Experimente auch politisch waren (wie Miles anhand der Yippie-Ableger betont), dann gehören Länder wie Frankreich und Deutschland, wo der Slogan "Das Private ist politisch" erfunden (und übrigens weitaus mehr als in den USA reflektiert) wurde, in die kollektive Biographie dieser Generation.

Eike Gebhardt |
    Doch die gesellschaftlichen Veränderungen der Zeit scheinen Miles kaum zu interessieren. Im Stil von Agenturmeldungen erfahren wir von Aufständen der Schwarzen in LA und dass (trotz der einheimischen militanten "Weathermen") die "wirklich revolutionären Aktionen ausschließlich in Europa stattfanden"; dass diese wiederum kaum etwas mit der Hippie-Bewegung zu tun hatten, weiß auch Miles. Aber irgendwie hat für ihn alles mit allem zu tun in jener Zeit, und das ist gut so in diesem Fall: Miles' Erinnerungen als Kritiker sind derart vielgestalt, dass er die erste wirklich internationale soziale Bewegung als Panorama vor uns auffächern kann, mit beinah allen Aspekten, die auch jenseits von Sex, Drugs and Rock'n Roll zur Aufbruchstimmung jener Jahre beitrugen.

    Die neuen Gesellschafts- und Gesellungsideale, Umgangsformen, Moden, ein humanitäres Ethos inmitten der geltenden Lehre (sprich: "The business of America is business"), der Kampf um die Rechte von Minderheiten, das öffentliche Leben mitzugestalten ("die Straße ist gleichsam das Schreibwerkzeug der Unterdrückten und Stimmlosen, denen man den Zugang zu den Medien verweigere", wie der ermordete Martin Luther King einst seufzte), das Niveau der Gesellschaftsanalyse uva: Das ungeheure Themen-Spektrum - die ganze Kultur stand gleichsam auf dem Prüfstand - sollte die heute tonangebenden Feuilletonisten der Generation Golf und folgende Demut lehren.

    Das modische 68er-bashing - sie werden für schier alle Krisen unserer Zeit verantwortlich gemacht, vom Terrorismus bis zur Kinderlosigkeit, von Pisa bis zum Sittenverfall, von Hartz-IV-Elend bis zur Jugendgewalt - beißt sich regelmäßig an Einzelaspekten fest; das Gesamtbild kennt kaum einer mehr, und die es kennen, weil sie dazugehörten, werden just deshalb nicht mehr ernst genommen.

    Auch Miles freilich bleibt den Brückenschlag schuldig, der unseren kenntnisfreien Youngstern so leicht zu fallen scheint. Ein Beispiel nur: Dass die bildenden Künste "den psychedelischen Stil" übernahmen, ist Miles' einziger Kommentar zur der explosiven Kontroverse jener Zeit über das Ende einer literarischen Kultur und ihren Übergang zu einer Bildkultur - Stichwort Neil Postman, und eigentlich auch schon McLuhan. Und dass die visuelle Wahrnehmung inzwischen selbst weit mehr von der allgegenwärtigen Werbung geprägt werde als, wie zuvor, vom Kulturkanon: Kein Wort von solchen dramatischen Verschiebungen, die ja schließlich lawinenartige Verschiebungen der Bildungsideale und -systeme auslösten.

    Die sozialkritische Enthaltsamkeit hindert Miles sogar, den Stellenwert der Gegenkultur überzeugend ins damalige Zeitgeschehen einzuordnen, ja Querverbindungen zu ziehen. Auch wenn der Titel Hippies suggeriert, dass Miles sich auf eine Gegenkultur beschränken will – dankenswerterweise vergisst er diesen Vorsatz - reicht es eben nicht, die Empörung über den Vietnamkrieg zu zitieren ohne zu erwähnen, daß damit viel allgemeiner die peinliche Frage aufgeworfen wurde, warum die westliche Welt überall Diktaturen unterstützte statt Demokratiebewegungen, und ob damit nicht der latente innenpolitische Klassenkampf in die internationale Arena getragen wurde.

    Geht es, ein anderes Beispiel, um die Kommunen als alternativer Lebensform, so müssen wir uns - z.B. bei der legendären "Hog Farm" oder der mörderischen Charles Manson-Kommune - mit der Aufzählung von deren Events, Reisen und Biographien begnügen. Warum Menschen die kommunale Lebensform wählten statt die Familie, in Städten ebenso wie auf dem Land, bleibt Miles' Geheimnis; schade, denn hier läge womöglich ein Schlüssel zum Unbehagen an und in der Kultur der westlichen Wohlstandsgesellschaften, auf die die heutige Generation nur mit Neid, mit Unverständnis ob des Protests, zurückblicken können. Die Hippies, denen das Buch gewidmet ist, hatten doch alles - wogegen protestierten sie denn?

    Der Alt-Frankfurter Herbert Marcuse ahnte die Antwort: Die Kids waren zwar nicht mehr materiell ausgebeutet, wohl aber psychisch, will sagen: an Erfahrungsmöglichkeiten. Just als die Überflussgesellschaften alle kulturellen, technischen und materiellen Ressourcen bereitstellen konnten, um das ganze menschliche Potential zu verwirklichen, just da bekamen sie Angst vor ihrem eigenen Traumgeschöpf und stutzten es wieder auf das Ideal des eindimensionalen Menschen, wie Marcuse sein bekanntestes Buch betitelte.

    Wenn es denn ein Leitmotiv gab, dann war es wohl die so genannte sexuelle Befreiung. Hatte Freud noch argumentiert, die menschliche Kultur, ja das Sozialverhalten werde gebildet, indem der Mensch die Befriedigung seiner Triebe verschiebe, "sublimiere" zugunsten eins produktiven Beitrags zu Gemeinschaft, so ahnten die Hippies, dass dementsprechend hier der wunde Punkt dieser Gesellschaft zu orten war: Wollte man ihren Zwangscharakter knacken, musste man an diesem neuralgischen Punkt ansetzen:

    "Die wichtigste Kraft für unsere Revolution ist die Erotik. Ein freier Mensch ist jemand, dessen erotische Energie freigesetzt worden ist, der sein Erotik auf immer schönere, komplexere Weise ausdrücken kann. Sie sexuelle Revolution ist nicht nur Teil der Atmosphäre von Freiheit, die unter den jungen Menschen entsteht. Ich halte sie für den Mittelpunkt davon. Psychedelische Drogen, vor allem Marihuana, sind deshalb so beliebt, weil sie den Körper in Erregung versetzen. Ich sage rundheraus: Die Bedeutung und das zentrale Thema der psychedelische Erfahrung ist die erotische Belebung. Das Plus an Freiheit im sexuellen Ausdruck in der Kunst und den Massenmedien ist das erste Anzeichen unseres Sieges."

    Also sprach Timothy Leary, ausgestiegener Harvard-Professor und Drogenpapst der Epoche, der für künstliche Bewusstseinserweiterung plädierte, zu einer Zeit, da westliche Gesellschaften, zum ersten Male Überflussgesellschaften, ihre Menschen auf enge Rollen zwischen Beruf, Familie und Hobbys schrumpfen wollte - eben jenen "eindimensionalen Menschen"; Marcuses Kollege, der legendäre Motorrad-Soziologe C. Wright Mills war noch weitergegangen und sprach von "fröhlichen Robotern", zu denen wir alle würden, wenn wir uns nur noch auf den Vollzug von Vorgaben Anderer beschränken und unsere so genannte Individualität auf harmlose Freizeitaktivitäten. Andere sprachen schon damals vom Eichmann-Syndrom: Wir handeln immer im Befehlsnotstand und nennen es Pflicht und Verantwortung.

    Derartige Ideen, durchaus auch Teil der Zeitgeist-Diskurses, ja sogar der Songtexte der Zeit, fehlen völlig bei Miles. Der gesellschaftlichen Sprengkraft befreiter Erotik scheint er sich durchaus bewusst, aber von den medienträchtigen Diskursen über repressive Toleranz, über die Radikalisierung des uramerikanischen Traums einer in jeder Hinsicht mobilen Gesellschaft, über den Solidarpakt der Zivilgesellschaft - ein Ideal, das hymnisch von der Popkultur beschworen und besungen wurde, scheint er nie gehört zu haben. "The times, they are a-changing", sang Bob Dylan, und meinte mehr als die Event- und Spaßkultur, nämlich ausdrücklich die Umwertung der Werte durch die Gegenkultur, die zum ersten Mal eben keine bloße Subkultur mehr war.

    Miles' begeisterte und dankenswert weit gefächerte Erinnerungen bleiben impressionistisch, ein Potpourri mit Schwerpunkt in der Musikszene und deren Interna. Platon wusste, dass Mentalitätswandel, auch politischer, sich oft in Verschiebungen des musikalischen Stils andeutet - ein Gedanke, den sogar Janis Joplin, Jimi Hendrix, Jim Morrison und natürlich die eh sozialkritische Folk-Szene direkt ansprachen und der für Miles' offenkundige Vorlieben ein kulturkritisches Leitmotiv hätte sein können; vielleicht hätte er hier eine Antwort gefunden auf die Frage, die doch auch bei ihm immer wieder anklingt: War es ein historischer Ausnahmemoment, eine kurze Party, oder die historische Öffnung einer erstarrten Gesellschaftsformation, Moden und Mentalitäten als historische Produktivkräfte, die Öffnung neuer Horizonte? Statt dessen nur der naive Gemeinplatz am Ende:

    "Viele ihrer Ideen waren Allgemeingut geworden: der Vegetarismus, organische Lebensmittel, selbst gebackenes Brot. ... Außerdem fand man Anfang der 70er nun in den meisten Städten ein Yogazentrum. ... 1971 trugen selbst Politiker ihr Haar schulterlang."

    Atemberaubende Einsichten auf diesem Niveau sind übers ganze Buch verstreut. Dennoch: Von der Musikszene bis zu Mörderkommunen, Von Vietnam bis Warhol, von Literatur bis zum Living Theater, von Flower-Power bis zu den Freaks der Festivals und Modeszene, von Sex und Drogen bis zur Ökologie, ja zum subtilen Einsickern des gegenkulturellen Zeitgeists in die Hauptkultur: Miles Spektrum lässt kaum etwas aus. Ungeheuer informativ als Materialsammlung und bestückt mit zahllosen faszinierenden, aussagestarken oder atmosphärisch dichten Fotos ist der Band gleichwohl ein Schatzhaus, im Wortsinn auch ein Bilderbuch des Zeitgeists.

    Barry Miles: "Hippies", Collection Rolf Heyne.